GEHÄUSE
die Vokalreihe
„Jaunerloh gebi…“
Holdrio, Holder-
lein
Lied : frei
stammeln
Worten, orten, Zeichen
: Gehäuse,
zocken, – der Jargon
Zeichen schlagen
der Hieronymos-Dreh oder das Auge
im Aeroplan oder : Semiotik
-tack. Fahren schön,
Weinberg schön, -öhm
Rainer René Müllers Beitrag zur Aktion „Support Your Local Artist“.
Anfang der achtziger Jahre schien Rainer René Mueller dabei zu sein, als junger Dichter im Literaturbetrieb zu reüssieren: Er erhielt ein Stipendium des Berliner Senats für das Literarische Colloquium, der Deutsche Literaturfonds förderte ihn, beim Literarischen März in Darmstadt erhielt er einen der Leonce-und-Lena-Förderpreise zugesprochen, in dem Jahr, als in der Jury Marcel Reich-Ranicki und Ernst Jandl aufeinander trafen und man sich auf die Vergabe des Hauptpreises nicht verständigen konnte. Auf die günstige Ausgangssituation folgte dann aber, was äußere Erfolge angeht, nicht viel. Rainer René Muellers poetische Position, die Errungenschaften Celans aufgreift und weiter entwickelt, sein Arbeiten mit einer querliegenden, stockenden Sprache drang nicht durch, seine Stimme schien verloren zu gehen und kaum jemanden gestreift zu haben.
Mir war sie wichtig, sie ist mir wichtig geblieben. Seit ich seine Gedichte kennen lernte – wir lebten damals in der gleichen Gegend –, bedeuten sie mir etwas und sind unverwüstliche Begleiter geblieben. Die dem Zeitgeist entsprechende Neue Innerlichkeit erlaubte zeilengebrochene, kraftlose Geschwätzigkeiten. Große Namen gab es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mehr als heute, aber diese Dichter hatten ihren Zenit oft bereits überschritten, oder, so Friederike Mayröcker, noch nicht erreicht. Wie kann man auf politische und zeitgeschichtliche Themen eingehen, ohne linkspopulistische Posen einzunehmen, ohne die Sprache zu verraten, wie kann man radikal mit Wörtern arbeiten, ohne den Bezug zum Politischen, zum gesellschaftlich Relevanten aufzugeben? Auf diese Fragen antwortete zwar Jandl vehement mit seiner „heruntergekommenen“ Sprache, aber eine Stimme war nicht genug; andere unsüffige Beiträge kamen mir bereits historisch vor. Als ich bei einer Lesung in Mannheim. unterm Zirkuszelt, erstmals Gedichte von Rainer René Mueller hörte, die dort, im Gewusel, so fremd klangen, war ich einen Schritt weiter gekommen. Sein Vaterland, kornblumenblau war sogleich auch meines:
schrie nicht im Lust –
Garten
die Stimme
(die Göbbelsgosche)
zu tausenden Stimmen, die gafften:
wir haben
wir haben sie ,zu Paaren getrieben‘
(heilig und paarig)
trieb es, hoch
die Hand
, aus
und schlug
Als Mueller 1949 in Würzburg geboren wurde, war Deutschland im Jahre Null vier Jahre alt, noch lange stanken Trümmer und Leichenteile, die Fäulnis so vieler Lebenslügen, zumindest der Mundgeruch des unaufrichtigen Lebens war in fast jedem Haus, in fast jedem Klassenzimmer. Die nationalsozialistische Ideologie war ein tiefgehender Entwurf vom (deutschen) Menschen in der Welt, der sich nicht einfach in Luft auflöste, sondern in den sich allmählich zersetzenden Körper- und Gedankenpanzern weiter herumspukte. Selbst die, die besonders rigide gegen das Faschistoide vorgingen, waren, wie man anhand der Geschichte der RAF ablesen kann, tiefer mit dem verbunden, was sie bekämpften, als sie sich eingestehen konnten. Das Geschehene war so ungeheuerlich, dass Verdrängung omnipräsent war. Die Gedichte des sich im Jüdischen definierenden Dichters – „ich b i n über die mutterlinie jude, ich identifiziere mich nicht nur“ (Mail vom 9.12.2013) – konfrontieren uns immer wieder hiermit:
mal sind diese Stimmen auch nah und ganz
blau
sie sagen:
du kommst nicht vor,
(ich nicht)
& machen aus Stille ein Tier
es ist ein Verhör in der Luft
ein Auge ist in der Luft
die Rüben sind eingemietet,
ein Hochbunker steht,
horcht
Aufgrund seiner Herkunft und seiner Familiengeschichte geht Mueller die deutsche Geschichte durch Mark und Bein.
Mueller spricht nicht über etwas, er lässt das Verhandelte in die Sprache einsinken, sie angreifen, an ihr reißen. Im Sinne von Jandl zeigt sich hier das beschädigte Leben auch in einer beschädigten Sprache:
deutsch, das ist auch
Zeile für Zeile, lange Gekeimtes
in Metronome und Schlagstöcke gehängt
Von „Hallelujafans“ ist die Rede, vom „Reichston“. Das Gedicht „Lirum, larum“ endet dann wie folgt:
das Stürmerlied, das Türmerlied
das Trümmerlied, ach Walther
tandaradei
was heißt hier Liebe
-belei, -lei
larum, larum :
darum, dass einer ein Vieh, ein gehäutetes Vieh
wird, ein Stück, ein Hakenstück
Sein „Munch-Stück“ beginnt mit „kyrie-heh … / eintreten Hirnen“, am Ende heißt es dann „Schlagen- / drauf, Schlager-le // ’emblem-, -atik; ticken: // -tockte, / -pannte : // s,s, // : cri“. Nur wenige Dichter haben der deutschen Sprache so viel zugemutet wie Rainer René Mueller, es ist offensichtlich, dass er dies nicht aus reiner Experimentierlust tat, sondern der Not gehorchend. Wer nach Auschwitz Gedichte schreibt, sollte nicht nur zeigen, dass er das weiß und spürt, es muss doch auch die Wohlklangplatte vom Teller, jedenfalls muss etwas damit geschehen, sofern man der Meinung ist, Dichtung solle ein Instrument der Wahrheitsfindung sein und nicht eines des Vertuschens.
Seine Publikationen sind beinahe Nicht-Veröffentlichungen. 1981 debütierte er mit Lieddeutsch, einem 72 Seiten umfassenden Bändchen, beim Kleinstverlag Desire & Gegenrealismus, o. O. 1983 publizierte die bibliophile pawel pan presse in Büdingen-Düdelsheim seinen Gedichtband Augen in einer imposanten, mit Grafiken von Sascha Juritz versehenen Ausgabe, 1985 erschien Rückzug ins Helle in der Edizione Scampi/Verlag Mario Haith in Stuttgart, seine projektbezogene Zusammenarbeit mit dem Künstler Max Neumann, eine vorbildlich gestaltete Ausgabe, mit Faksimileseiten und eingeklebten Bildreproduktionen. Ab dann wurden seine Veröffentlichungen noch spezieller, abseitiger, stets waren sie mit Bildender Kunst verknüpft. Kreuzungen/Sturzfigur ist ein aus wenigen Bögen bestehendes Portfolio mit Zeichnungen von Robert Schad, 1986 als Schönthaler Drucke im Verlag Mario Haith verlegt, bei Strichscharen arbeitete er mit Friedemann Hahn zusammen, es erschien im gleichen Jahr bei der Galerie Birgit Terbrüggen in Sinsheim/Heidelberg. Und bei Chasse de Neige / Schneejagd (1994) tritt Mueller als Herausgeber der PASSIO-Reihe im Waldmann-Verlag (Todtnau im Schwarzwald) in Erscheinung, als Dichter nennt er sich nun Ellis Eliescher (er wollte sich laut der genannten Mail nach dem Geburtsnamen seiner aus Czernowitz stammenden Großmutter umbenennen, gab dies aber aufgrund des bürokratischen Aufwands wieder auf), er scheut nicht die Wiederverwendung bereits veröffentlichter Gedichte, die Radierungen des Bändchens sind nicht benannt (sie sind von Matthias Maaß). Vom Verstummen scheint er nicht mehr weit entfernt zu sein. 1996 veröffentlichte Urs Engeler Texte von Rainer René Mueller im Heft 9 von Zwischen den Zeilen, das blieb eine der raren Möglichkeiten, seinen neueren Arbeiten begegnen zu können. In diesem Heft befindet sich die einzige poetologische Selbsterklärung des Autors.
Die Gründe, warum ein so hoch entwickelter Dichter fernab der Öffentlichkeit blieb, werden vielfältig sein. Die schroffe Sprachverwendung spielt eine Rolle, in einer (Anti-)Branche, in der, vergleicht man mit der Bildenden Kunst, ein letztlich moderater Geschmack vorherrscht. Eigenheiten des Dichters kommen hinzu, die sich schlecht vertragen mit der durchprofessionalisierten Vernetzungskultur, seine gesundheitliche Situation, vielleicht auch sein Leben jenseits der Zentren: Heidelberg ist die klangvollste Stadt seines bisherigen Lebensweges, mit dortigen literarischen Zirkeln und dem kulturellen Leben der Stadt war er allerdings kaum verbunden. In Schwäbisch Hall und in Heidenheim lebte er über Jahre, zeitweise als Leiter der Städtischen Galerie in Schwäbisch Hall und als Gründungsdirektor des Neuen Kunstmuseums in Heidenheim, nun pendelt er unter schwierigen Umständen zwischen einem Dorf in Lothringen und Heidelberg. Der französische Sprach- und Lebensraum ist tief in seine Sprachwelt eingedrungen, aber auch der deutsche Südwesten, die deutsche Provinz mit Würzburgtrümmer, Lessingglanz, Bütteltarock. Bodenseeritt:
Blutbuchen-
Hall, schwäbisch
Hessenthal, die weggekippten Friedhöfe
(Polacken)
&
eine hebräische Schrift
Und es sind die Farben, die Mueller, der sich stets mit Kunst befasste und über Künstler schrieb, immer wieder im Gedicht benennt, das Ochsenblutrot, ein großes Weiß, der aufgehobene Stein, von dem es heißt, er sei drecksfarben.
In den frühen achtziger Jahren entwickelte Rainer René Mueller seine lyrische Position und schrieb Gedichte, die es wert wären, in repräsentativen Anthologien und auch in Schulbüchern aufzutauchen. Bevor sich am Ende der Dekade eine neue, sprachbewusste Generation allmählich durchsetzte – in dieser Zeitspanne debütierten Thomas Kling, Bert Papenfuß und Peter Waterhouse –, leistete Mueller etwas, das uns nach wie vor angeht, „da entlang, wo man / G- / sagt; Geschichte“. Es war mir immer ein Bedürfnis, auf diesen Dichter hinzuweisen und ich bin sehr froh, dass nun diese Ausgabe möglich wird, die nicht nur die Essenz der bisherigen Schriften neu und in hierfür überarbeiteter Version zugänglich macht, sondern auch zeigt, dass Mueller sein Werk weiter entwickelt hat. Sie erscheint nun anlässlich seines 65. Geburtstag und ist ein Geschenk für uns: POÈMES – POËTRA, schon im Titel wird die Poesie und das Steinige, der Fels (PETRA) zusammengezogen. „Der Fels“, heißt es im Hölderlin-Zitat des Eingangs, „ist zu Waide gut, / das Trokne zu Trank“.
Dieter M. Gräf, Nachwort, November und Dezember 2013
– Der jüdische Dichter Rainer René Mueller spiegelt Gewalt und Verletzung in der Sprache. –
„Haut“ und „haut“ – zwei Wörter kommen einander selten näher als diese. Dennoch kann ich mich nicht daran entsinnen, jemals ein Gedicht gelesen zu haben, in dem die Verbform „haut“ auf das Substantiv „Haut“ gefolgt wäre. Doch „haut über haut: / haut, – einen schlag“ heißt es in Rainer René Muellers „Schneeschaun“, und in seinem „Hall in Schwaben“:
An der Haut,
an der
haut
hin
Dies letzte Gedicht folgt der gehauenen Haut dahin, und das muss nicht unbedingt die eines Menschen sein, denn von etwas Tierischem ist zuvor die Rede und danach von „Ochsenblutrot“, womit nicht nur an einen Bodenanstrich, sondern auch ein Schlachthaus und an das Blut gedacht ist, mit dem im zweiten Buch Moses der Türpfosten bestrichen werden soll, damit der „Vernichter“ vorübergehe.
In der Welt des Vernichters wird aus dem Menschen „ein Vieh, ein gehäutetes Vieh“ und, man erinnere sich nur des Hinrichtungsraums in Plötzensee, „ein Stück, ein Hakenstück“. Diese grausame Geschichte ist die Schicht, die sich in Muellers Werk überall unterschiebt: „du Schachteljud, du / beschissener Freier“ meldet sich eine Stimme zu Wort. Wer ein wenig sucht, findet in der Hessischen Landeszeitung vom 29. Juni 1939 diese Notiz:
Der einzige Hebräer, der sich noch in der Kreisstadt herumtrieb, der Jude Strauß, allgemein unter dem Namen ,Schachteljud‘ bekannt, ist nun endlich weggezogen. Dieser lästige Jude hat bis zuletzt versucht, bei den Volksgenossen seinen stets in einer Schachtel mitgeführten Dreck loszuwerden. Nun ist er nach Frankfurt ,ausgewandert‘. Damit ist Groß-Gerau judenfrei.
„(Sind) Sie Jude? / gibt’s / die noch?“ Mueller ist Jude. Wenn es in einem seiner jüngsten Gedichte, im April dieses Jahres in Berlin entstanden, heißt: „s’ist wohl dein Glatzenschutz, da / auf’m Kopp“, so ist damit keine fröhliche Frotzelei, sondern eine antisemitische Anmache zitiert, denn der Dichter trägt in der Öffentlichkeit eine Kippa. Von gemeinen, gedanken- und gewissenlosen Stimmen hallen seine Gedichte wider, manchmal von ihrem Schweigen, von „tausenden Stimmen, die gafften“.
Es gehen aber auch die fernen, verhaltenen, traurigen Stimmen in diese Gedichte ein; „… zirp ich leise, wie es Heimchen tun…“, zitiert er aus „Drüben“, dem allerersten veröffentlichten Gedicht von Paul Celan. Das Heimchen, Acheta domesticus, ist in Platons Phaidros der „häusliche Sänger“, der über dem Singen zu essen und zu trinken vergessen hat. Bei Celan und Mueller ist das Heimchen zugleich ein Wesen ohne Heim. Zu Hause sind diese Sänger nur in ihrer Haut, und die ist, wie Mueller eindringlich macht, verletzlich wie die des Satyrs Marsyas, der im künstlerischen Wettstreit dem Gott des Schönen, Apollon, unterliegt, weshalb ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wird.
Geboren ist Mueller 1949 in Würzburg. Wie Celan stammte die Großmutter mütterlicherseits aus Czernowitz, kam Ende des 19. Jahrhunderts über Wien und Prag nach Ostrau (Ostrava), überlebte und fand sich nach einem letzten Transport bei Kriegsende in Potsdam halbverrückt in einem Schweinestall wieder. Ihr zu Ehren hat Mueller eine Zeit lang den Namen Ellis Eliescher getragen. Der leibliche Vater, ein Kommunist aus Berlin, überstand die Nazizeit mit einigem Glück und wählte nach dem in Westdeutschland erlassenen KP-Verbot das Exil in Caracas. Der Stiefvater jedoch, fataler biografischer Bruch, gehörte der SS an. Er baute an den Lagern, die für den andern Vater und den Rest der Familie vorgesehen waren. Dieser Stiefvater war es auch, der den jungen Mueller einen „Schachteljuden“ geschimpft hat. Es gehörte zur Tragödie der Mutter, dass sie im, wie Mueller sagt, allgemeinen „Generationenschweigen“ ihres Jüdischseins nicht inne geworden ist. Diese biografische Zerrissenheit teilt sich in den Gedichten mit, die eben nicht von einem heiteren Apollon, sondern von einem geschundenen Marsyas stammen, und das scheint einer der Gründe dafür zu sein, dass Rainer René Mueller als Dichter ein Geheimtipp geblieben ist. Immerhin wurde ihm der in diesem Jahr zum ersten Mal ausgelobte Gerlinger Lyrikpreis zugesprochen. Noch kurz zuvor bekannte es Joachim Sartorius in der FAZ als seinen „großen Fehler“, ihn nicht ins Handbuch der politischen Poesie aufgenommen zu haben.
Mueller schreibt politische Gedichte, mit denen weder Staat noch Partei zu machen ist. Obwohl sie die Schichten und Geschichten der deutschen Sprache freilegen, ziehen sie ihr nicht die Haut ab, aber sie lassen sie sich selbst begegnen, und das ist vielleicht schmerzhafter. „Haut“ und „haut“ – solche minimalen Differenzen finden sich überall bei ihm, aus ihnen baut er seine zerbrechlichen Gebilde, oft musikalisch, mit Anklängen und Reprisen. Sie klingen nicht wie Balladen, sondern wie die Bagatellen von Anton Webern, kurz, trocken, hingesprengt.
Anders als bei Celan ist es nicht das beladene Wort, das diese Gedichte in Bewegung setzt, es sind die Reaktionen der leichten, knappen, gewöhnlichen Wörter aufeinander. „Haut“ und „haut“ und „Haus“ und „Hauch“ treffen zusammen, prallen aufeinander und erst so ergibt sich schockartig Sinn. – Oder „schneit“, „schreit“, „schreibt“, denn daran, dass sein Schreiben ein Schreien ist, lässt Mueller keinen Zweifel. Sein „Munch-Stück“ erinnert an den „Schrei“, das berühmteste Bild des norwegischen Malers:
kyrie-heh…
eintreten Hirnen. Eins-
zweidrei
,Liegen in der Mitten‘ :
Lampenschein und Haut
draufschreiben : Oh
Staunen
: einer hängt Schlagen-
drauf, Schlager-le
‚emblem, -atik, ticken :
-tockte,
-pannte :
s,s.
: cri
Hier reagiert „le cri“, der Schrei, wenn auch nach einigen Schrecksekunden, direkt auf das „Staunen“, und dank der nachgestellten „s,s“ indirekt auf „Statik“, „Stocken“ und „Spannen“, allesamt Wörter der Stabilisierung. Erst demjenigen, der das „s,s“ als „SS“ begreift, wird die Stabilität entzogen, vor ihm öffnet sich wie ein Abgrund die „Emblematik“ von Schlagen, Einschlagen und Draufschlagen, er sieht vor sich das Totenkopfemblem und die bestickte, beschriebene Haut.
Eine Haut, „ein Tuchenes / ein Hemdenes“, deckt sich über die Landschaft, es ist der Schnee. Mueller bietet eine überaus reiche „Konjugation / von Schnee“. Der Schnee kann in Liebesgedichten fallen, meist ist er aber ein Anzeichen der Auslöschung. Aus dem Märchentitel „Schneeweißchen und Rosenrot“ wird bei ihm „rosentot / ist winterviel“. Der Schnee ist ein „großes Weiß“ wie bei Stéphane Mallarmé, ein Ausgangspunkt wie das leere Papier und ein Endpunkt wie das Verschwinden aller Gestalten, also, anders als die vielen Stimmen und Sprüche, etwas Stummes, Gesehenes. Immer wieder antwortet das Wort „Schnee“ auf „Sehen“, ja, es ist sogar dessen Anagramm, denn lässt man den zweiten weg, enthält „Schnee“ alle Buchstaben von „Sehen“. Das ist paradox, denn zwar ist der Schnee etwas Sichtbares, aber auch die Aufhebung alles Sichtbaren. Was gesehen werden kann, wenn im Winter nichts mehr gesehen werden kann, ist der Schnee.
„Schneejagd“, der Titel eines Zyklus aus dem Jahr 1994, sei, schreibt mir der Dichter, „eine abwandlung des bildtitels ,winterjagd‘, eines brueghel-bildes, das mir zuerst so um 1964 vor augen kam, als ich im gymnasium eine bildbeschreibung (postkarte) als strafarbeit anfertigen mußte, weil ich mich geweigert hatte, einen schwachsinnigen text von Rosegger, darin das für mich damals giftsüße wort ,rosmarienkräutlein‘, auswendig zu lernen“. Pieter Brueghels Gemälde von 1565, auch als „Jäger im Schnee“ bekannt, ist das erste in Europa, das Schnee zeigt. Es ist das erste, das es wagt, einen Großteil der Leinwand nicht mit Farbe und Figuren, sondern mit Weiß auszufüllen.
Seither sind Weiß, Leere, Schweigen nicht mehr bloß das unmarkierte Andere von Farbe, Form und Sinn, sondern ihre dialektischen Gegenstücke. Manche halten das bloß für eine philosophische Denkfigur. Wenn sich aber in Muellers Gedichten der Schnee ausbreitet, wenn das Weiß des Papiers, auf dem die Gedichte gedruckt sind, sich in die Zeilen schiebt, erinnert das auch an die Asche, die sich über die Menschheit gedeckt hat. Bei Edmond Jabès heißt es:
Dies ist ein wahrhaftiger Mensch. Er schreitet über Aschenteppiche.
Rainer René Mueller ist ein wahrhaftiger Mensch, er geht über den Schnee.
Walter Fabian Schmid: Vorm Lidschluss der Geschichte
signaturen-magazin.de
Jan Kuhlbrodt: Der Hochbunker steht
fixpoetry.com, 16.2.2016
Hans Thills Laudatio anlässlich der Verleihung des ersten Gerlinger Lyrikpreises an Rainer René Mueller.
Clemens Sarholz: Die Sonne hielt ihn vom Springen ab
Wir sehen uns nimmersatt: Rainer René Mueller. Gespräch des Monats am 22.9.2016 im Haus für Poesie
„Ein Überleben in der eigenen Gegenwart“. Deutsch-jüdische Gespräche (10): Boris Schumatsky und Rainer René Mueller.
OCTOBERSONG (NACH RAINER RENÉ MUELLER)
der regen trieb morgens durch nebelbänke – wie war es
doch, sich in die reihe zu schieben, zu schweigen, in der
gewißheit, nicht mehr gefragt zu werden, weil immer zu spät
ins leben getreten, aber letztendlich in den trott geraten,
wahrheiten vernommen, die mär von der eigenen
wiederkehr…
Jayne-Ann Igel
EIN BLEIBEN IM LEBEN EIN HERZ
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa[ach, Hölderlin]
für Rainer René Mueller
ist januar ist weiß ist wie reif
und wieder / setzen den stein
in reihen und steine auf –
[Kuhle unter dem Stein, ach, Mueller] es
gibt einen ort der / ist zeit wieder wort. auf-
gebn: / sehen – in verse gehängt
[ach, Mueller, noch einmal] und auf-
lesen unwiederbringlich. das
wieder: / holt sich [iberkhazertl
nie bis aufs gram
Dirk Uwe Hansen
Rainer René Mueller im Gespräch mit Boris Schumatsky beim Projekt Stolperworte.
Alexandru Bulucz: Lieber Unkel Paol
signaturen-magzin.de
Dirk Uwe Hansen: Ein Bleiben im Leben ein Herz
signaturen-magzin.de
Ingo Ebener: Schönes, / im Winter
signaturen-magazin.de
Jayne-Ann Igel: Für Rainer René Mueller
siganture-magazin.de
Volker Oesterreich: „Es geht um das Erkennen des Versteckten“
Rhein-Neckar-Zeitung, 30.12.2023
Bernd Leukert im Gespräch mit Rainer René Mueller: Die Trostbäume
faustkultur.de, 1.1.2024
Rainer René Müller liest am 15.3.2014 im stuttgarter kunstverein.
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