Rajzel Zychlinski: di lieder / Die Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rajzel Zychlinski: di lieder / Die Gedichte

Zychlinski-di lieder / Die Gedichte

DIE KLEIDER

Die Kleider, die du an mir sahst,
werden nie alt.
In allen Farben des Regenbogens
blühn sie in meinem Schrank.

Das lila Kleid flüstert mit dem grünen
ein grünes grasiges Geheimnis,
das rosa schmiegt sich an das gelbe
mit Blüten am Saum.

Weggeschoben in eine Schrankecke,
die Ärmel über die Schultern gelegt,
träumt mein blaues Kleid von dir.

 

 

 

Nachwort

Ihre Miniaturgedichte wurden „kleine Meisterwerke“ genannt und ihre Verfasserin eine einzigartige Dichterin. Als ihr 1975 der lzik-Manger-Preis, die höchste Auszeichnung für jiddische Literatur, verliehen wurde, begann die Laudatio:

Rajzel Zychlinski kam in die jiddische Poesie als ein Phänomen, das in unserer Literatur kaum seinesgleichen hatte. Schon am Beginn ihres Weges rief sie durch ihre dichterische Reife und Originalität Erstaunen hervor…

Bereits ihr erster Band lider („Gedichte“), in der Bibliothek des jiddischen PEN-Clubs in Warschau erschienen und von Izik Manger eingeleitet, bezeugte ihren literarischen Rang.
Außer Faszination und Bewunderung löste sie immer wieder Irritationen aus: wie konnte diese jüdische Gerberstocher aus Gombin (Gąbin), einer Kleinstadt westlich von Warschau, wie konnte das Mädchen aus der Provinz Gedichte schaffen, die sich durch so viel Eigenständigkeit und Modernität auszeichneten?Wie konnte sie dem Druck wohlmeinender Mentoren und den Verführungen des Literaturbetriebs ein Leben lang widerstehen und auf dem gefundenen Dichtungsmodell beharren, dem ihr gemäßen, das sie gebrauchte, um verspielte Mädchenlieder, aber auch ihre Klagelieder über die Schoa, den Verlust ihrer Familie und ihrer Heimat, über die Not der Außenseiter, über Alter und Tod zu schreiben, und ihre Gedichte über die Riesenstadt New York? Und all dies in ihrer jiddischen Muttersprache – sogar im sowjetischen Exil, wo viele jüdische Emigranten nach Sibirien deportiert wurden. Auch im Nachkriegspolen. Auch in Paris, einer Hauptstadt der modernen Literatur. Und schließlich in Amerika, wo sie den größeren Teil ihres Lebens verbrachte. Rochel Korn, selbst eine bedeutende jiddische Dichterin, preist an ihr die „Urkraft der Erstmaligkeit“ und schreibt:

Rajzel Zychlinski gehört zu der Art von Schriftstellern, die sich ständig unter dem Druck eines inneren Imperativs befinden, eines Imperativs, der sich, durch äußere Bedingungen oder Forderungen nicht korrumpieren lässt.

Biografie
Zu den Eigentümlichkeiten dieser Autorin gehörte ihre Scheu, sich autobiografisch mitzuteilen. Zugleich bleibt jede biografische Skizze auf ihre Auskünfte angewiesen.
Einige Angaben differieren. Dokumente, Briefe, Manuskripte der Autorin sind beim Wechsel der Wohnorte verloren gegangen. Ihre Biografin Karina von Tippelskirch (die zu Beginn ihrer akademischen Arbeit noch Kranhold hieß) hat manches Detail hinterfragt und Ergänzungen ermittelt. Dennoch musste sie einräumen: Viele Fragen „nach ihrem Lebenslauf, Orten, an denen sie lebte, Menschen, denen sie begegnete, Autoren, die sie beeinflusst haben, hat Rajzel Zychlinski bis auf wenige Ausnahmen unbeantwortet gelassen“. Manche Zusammenhänge klären sich durch autobiografische Notizen des Ehemanns lsaac Kanter. Aber die folgenden Angaben bleiben dennoch lückenhaft.
Rajzel Zychlinski wurde am 27. Juli 1910 geboren. Die Mutter, Debora (Dwojre) Appel, stammte aus einer frommen Familie, die seit Generationen Rabbiner hervorgebracht hat. Der Vater, Mordechaj Zychlinski, war Inhaber einer Gerberei. Er versuchte dreimal, in Amerika Fuß zu fassen. Aus Furcht vor den antireligiösen Einflüssen der Fremde blieb die Mutter in Polen zurück, vermutlich mit zwei Töchtern und drei Söhnen; zwei Töchter begleiteten den Vater. Zunächst führte die Mutter, später der älteste Sohn die Gerberei weiter. 1928 starb der Vater in Chikago.
Rajzel besuchte von 1916 bis 1923 eine polnische Elementarschule und nahm von 1924 bis 1927 bei Privatlehrern Gymnasialunterricht, da in Gombin kein Gymnasium existierte.
Mit 12 Jahren hat sie zu schreiben begonnen: ein polnisches Tagebuch, und Gedichte in polnischer Sprache.
Mit 17 schrieb sie ihr erstes jiddisches Gedicht.
Mit 18 debütierte sie in der Warschauer folksszajtung, einem jiddischen Tageblatt. Der Dichter und Kritiker Melech Rawitsch, damals verantwortlich für die Debütanten-Kolumne, notierte:

Sagte man ihr etwas über ihre Gedichte, was ihr nicht gefiel, und sie hatte nicht genügend Argumente, um scharf darauf zu antworten, konnte sie die Tür zuschlagen und fortlaufen. Aber vom Schreiben zu entlaufen hat sie niemals vorgehabt. Im Gegenteil, die Schwierigkeiten haben nur ihren Willen und ihren Ehrgeiz angestachelt…

Mit 21 oder 23 Jahren (die Angaben schwanken) verließ Rajzel Zychlinski das Städtel, um in Wlodawek als Verwalter in eines Waisenhauses zu arbeiten. Die Anstellung sei nur auf Grund ihrer Gedichte erfolgt. Allerdings: ein Foto aus Gombin, in den zwanziger Jahren entstanden, zeigt sie mit Kindern und legt nahe, sie habe schon damals pädagogische Erfahrungen erworben.
1936 bis 1939 lebte sie in Warschau, arbeitete als Bankangestellte, las viel und schrieb Gedichte. Und sie wurde Mitglied des jiddischen PEN, in dessen Bibliothek 1939 auch ihr zweiter Gedichtband erschien, kurz vor Ausbruch des Krieges, so dass der größte Teil der Auflage bald verloren ging.
Rajzel Zychlinski erlebte die Bombardierung Warschaus, den Einmarsch der deutschen Wehrmacht, den Beginn der Judenverfolgungen. Wenige Wochen später gelang ihr die Flucht über den Fluss Bug in das russisch besetzte Gebiet. Vorübergehend kam sie in Lemberg unter, dann in Kolomea, bei den Eltern ihres Freundes Isaac Kanter, den sie im Januar 1941 heiraten wird.
Kanter, 1908 geboren, hatte Medizin studiert und 1935 in Prag den Doktorgrad erworben. In seiner Jugend hatte er Gedichte geschrieben und in den Jahren 1926 bis 1927 einige davon veröffentlicht, dann aber beschlossen, dass Poesie sein Gebiet nicht sei. Er bildete sich zum Psychiater aus und schrieb, damals und später, zahlreiche Essays zu psychologischen wie zu literarischen Problemen, darunter: „Die Psychopathologie des Antisemitismus“, „Die Dialektik der Getto-Psychologie“, „Die Opfer von Todeslagern und Gettos“, „Fakten des Martyriums und des Umkommens von sowjetisch-jiddischen Schreibern“, „Die Einsamkeit der aus dem Churbn [der Schoah] Geretteten“, aber auch „Das große Thema in der Dichtung“, „Psychologische Momente in der Gettoliteratur“, „Der Künstler und seine Maske“, „Die Ich-Dichtung und die Massenkunst“, „Katastrophenerlebnisse in der Literatur“, „Traum und Gelächter“. Kanter vermochte es, nicht nur die Konflikte und Schwierigkeiten seiner Frau zu verstehen, sondern sie auch in ihrer eigenwilligen Literaturkonzeption zu bestärken.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, im Juni 1941, floh das Ehepaar Kanter nach Osten und ließ sich bei Kasan nieder.
Im gleichen Jahr, Ende September, wurde in Gombin die berühmte hölzerne Synagoge von den deutschen Okkupanten niedergebrannt und die jüdische Bevölkerung in ein Getto gepfercht. Am 12. Mai 1942 lösten die Deutschen das Gombiner Getto auf. Seine Bewohner wurden in Chelmno vergast.
In Kasan fand Isaac Kanter Arbeit als Psychiater, in einer Anstalt, wo auch politische Gefangene als „Geisteskranke“ interniert waren. Wegen seiner polnischen Staatsangehörigkeit wurde er nicht zur Armee eingezogen und war, wie Rajzel Zychlinski auch, in gewissem Maße gegen Deportation geschützt. (Kanter berichtet über „Eine Begegnung mit jüdischen ,Fritzen‘ in Russland im Jahre 1943“, bei der ihm klar wurde, dass in einem Kriegsgefangenenzug außer deutschen Soldaten auch „gerettete“ Juden in den GULAG transportiert wurden.)
Ein befreundeter Autor übersetzte Lyrik der Rajzel Zychlinski ins Russische und erreichte die Aufnahme der Dichterin in den sowjetischen Schriftstellerverband: das half bei der Existenzsicherung (Aufenthaltsstatus, Lebensmittelkarte), hatte aber zeitweilig auch Einfluss auf die Art ihres Dichtens.
In Kasan wurde dem Ehepaar am 15. Februar 1943 der Sohn Marek geboren. Vor der näher rückenden Front wich die Familie nach Astrachan aus. Im September 1943 meldete sich Doktor Kanter zur Arbeit im zurückeroberten Gebiet der Ukraine und wurde bis Sommer 1944 in Mariupol (Shdanow) eingesetzt.
Um Rajzel Zychlinskis Lebensgefühl in Mariupol zu begreifen, lese man ihre Prosaskizze „Jemand ist gekommen“: das Gefängnis gegenüber / die Erwähnung der Arbeitslager / der Drang, nach Polen heimzukehren / die Vorsicht, mit dem kleinen Sohn Russisch und nicht Jiddisch zu sprechen / die Angst vor Besuchern, und schließlich die ebenso reale wie metaphorische Ratte, die auf sie wartet – das ist ein autobiografischer Text von einer für die Autorin ungewöhnlichen Mitteilsamkeit. Auch Gedichte wie „Blättern wir den Herbst“ und „Mein Mantel“ reflektieren die Ängste jener Zeit.
Wie 150.000 andere polnische Juden kehrte die Familie Kanter 1946 in ihre Heimat zurück, auf dem Umweg über Niederschlesien, wo sie, anders als polnische Heimkehrer, zunächst in einem Lager interniert wurde.
Die Familie ließ sich in Lodz nieder, wo ein Zentrum jiddischer Kultur im Entstehen begriffen war.
Die Autorin fuhr nach Gombin, um nach überlebenden Angehörigen zu forschen, und später, um das Haus der Eltern zu verkaufen.
Ihrem Gedichtband zu lojtere bregn („Zu lichten Ufern“), der 1948 in Lodz erschien, setzt sie die Widmung voran: „Dem heiligen Andenken meiner Mutter Dwojre, meiner Schwester Chane, meiner Brüder Jankew und Dowid und ihrer Kinder, der Enkel meiner Mutter – Opfer von Chelmno und Treblinka.“ Und der Vorspruch lautet:

1939, hart vor dem Krieg, ist mein zweites Gedicht-Buch der regn singt erschienen. Ein blutiger Strom hat weggewischt: mein Büchlein, meine Leser, und hat mein Heim mit der Wurzel ausgerissen. Mein Heim – meine erste dichterische Vision – ist ausgetilgt worden wie alle unsere Heime.
Öde, Leere.
Nach knapp zehn Jahren komme ich zurück.
Im jetzigen Büchlein will ich nicht nur von Tod und Vernichtung sprechen, von Wanderschaft und Umherirren, sondern auch von einem Hoffnungsstrahl, den ich von der gastfreundlichen russischen Erde mitbrachte – er geht auf an den Ufern des uns zugesagten Landes.

Leider trog diese Hoffnung. Es gab viele Gründe, Polen bald wieder zu verlassen: das Trauma der Schoa; den im polnischen Volk wie im Staat fortwirkenden Antisemitismus. Und die sowjetischen Repressalien gegen jüdische Kulturschaffende warfen ihre Schatten.
Isaac Kanter kritisierte in einem „Brief aus Lodz“, den er 1948 in New York veröffentlichte, die Kulturpolitik der jüdischen Funktionäre. Mehr als die Hälfte der repatriierten Schreiber habe bereits das Land wieder verlassen, darunter so bedeutende Dichter wie Abraham Suzkewer, Chajm Grade, Nochem Bomse, Rochel Korn. Die Weggegangenen habe man fast wie Deserteure behandelt. Kanter beklagt die Benachteiligung guter Autoren (und nennt dabei auch Rajzel Zychlinski). Dieselben Leute, die das Maul voll nähmen, dass die jiddische Kultur in Polen aufgebaut und gestärkt würde, führten eine Politik, die darauf hinausliefe, die jiddische Kultur umzubringen. (Die späteren Entwicklungen sollten zeigen, dass Kanter hier nicht übertrieb.)
Nach dieser Polemik war für die Familie in Polen kein Bleiben mehr.
Noch 1948 reisten die Kanters nach Frankreich aus, das ihnen aber nur vorübergehendes Aufenthaltsrecht gewährte, und keine Arbeitserlaubnis.
Die Familie bekam ein Zimmer auf Kosten der Rothschild Foundation und eine kleine Unterstützung von jüdischen Organisationen. Isaac Kanter berichtet, er habe den Status eines „Trans-Emigranten“ besessen und musste alle drei Monate die Aufenthaltserlaubnis erneuern lassen. Er gab die polnische Staatsbürgerschaft auf und bekam einen Nansenpass für Staatenlose. Nach zweieinhalb Wartejahren erhielt die Familie 1951 ein Visum für die Vereinigten Staaten. Rajzel Zychlinski erzählt, sie sei über das Kontingent für polnische Einwanderer nach New York gelangt.
Dort wurde Rajzel Zychlinski von der jiddischen Literaturwelt sehr freundlich empfangen. Der Kritiker Schmuel Niger begrüßte ihre Ankunft in einem ausführlichen Essay. Jankew Glatschtejn resümierte: „Wir in Amerika waren überrascht von Rajzel Zychlinskis musikalischem freiem Vers und von ihrer originellen, schneidenden Bildlichkeit. Ihr Gedicht hat sich verschwistert mit dem modernen Gedicht der amerikanischen jiddischen Poesie.“ Isaac Kanter erwähnt Einladungen bei Abraham Rejsen und H. Lejwik, wo auch Josef Opatoschu und Aaron Glanz-Lejeless zugegen waren. Aber zur „parnosse“, zum Lebensunterhalt, habe all das wenig beigetragen.
Doktor Kanter konnte in kurzer Zeit seine Approbation wiedererlangen und als Arzt tätig werden. Rajzel Zychlinski arbeitete in einer Krawattenfabrik. Sie nutzte die Chance, Bildung nachzuholen: erwarb den Abschluss einer Highschool, lernte (unter dem Namen Rajzel Kanter) zwei Jahre lang am City College. Sie nennt Biologie und englische Literatur als Unterrichtsfächer. Danach studierte sie einige Jahre Literatur und Philosophie, an der berühmten New School for Social Research, wo viele deutsche Emigranten, bedeutende Gelehrte und Künstler, als Dozenten wirkten.
Rajzel Zychlinski schrieb weiterhin jiddische Gedichte. Und sie gab 1962 in New York einen Sammelband heraus, der die Bilanz ihrer bisherigen literarischen Arbeit zog. Sie nannte ihn schwajgndike tirn („Schweigende Türen“) und nicht, wie unter polnischen Bedingungen, „Zu lichten Ufern“ oder ähnlich. 1969 erschien, ebenfalls in New York, der Band harbsstike sskwem („Herbstliche Plätze“).
Rajzel Zychlinskis spätere Bücher erschienen im Ausland: di nowember-sun („Die Novembersonne“) 1977 in Paris; naje lider („Neue Gedichte“) 1993 in Tel Aviv.
Wie alle ihre Bände wurden sie von der Kritik gefeiert.
Aber es bestand weiterhin keine Chance, aus literarischer Arbeit den Lebensunterhalt zu erwerben. Rajzel Zychlinski blieb auf die finanzielle Hilfe ihres Ehemannes angewiesen; auch nach dem Scheitern der Ehe unterstützte er sie – bis zu seinem Tode 1990.
In späten Lebensjahren hat ihr Sohn Marek für sie gesorgt. Er lehrte Mathematik an verschiedenen Universitäten, auch in Tel Aviv, und an der California University Berkeley.
Hatte Rajzel Zychlinski in ihren ersten 17 amerikanischen Jahren in Manhattan ihre Heimstatt gefunden, so wechselte sie später häufig den Wohnsitz. Zeitweilig lebte sie in Florida, in Kanada, und in Berkeley (Kalifornien). Nach dem Erdbeben in San Francisco 1989 kehrte sie nach New York zurück und wohnte dort im Stadtteil Brooklyn bis 1997.
Ihre letzten beiden Lebensjahre verbrachte sie in einem Pflegeheim in Walnut Creek (Kalifornien). Sie erfreute sich noch an ihren Gedichten, zitierte aus dem Gedächtnis oder hörte sich die englischen Übersetzungen an, die ihr der Sohn vortrug. Für ein Kamerateam, das für den Film Zurück nach Gombim nach Interviewpartnern suchte, sprach sie ihr berühmtestes Gedicht „got hot bahaltn sajn ponem“. In Walnut Creek besuchte auch der Herausgeber dieser Ausgabe die greise Dichterin und erlebte, trotz ihrer Hinfälligkeit, eine eindrucksvolle Begegnung.
Rajzel Zychlinski starb am 13. Juni 2001 in Concord (Kalifornien) an einer Lungenentzündung. Am 27. Juli 2001, ihrem 91. Geburtstag, wurde, wie sie es gewünscht hatte, ihre Asche dem Meer übergeben.

Rajzel Zychlinski hat sieben Bände ihrer Gedichte ediert. An den beiden deutschsprachigen Auswahlausgaben (1981, 1998) hat sie auch als Beraterin und Kontrolleurin mitgewirkt. Sie hielt im Jahre 2000 eine deutschsprachige Monografie in den Händen, Karina von Tippelskirchs Buch Also das Alphabet vergessen?, das eine Bilanz ihres Lebens und Werkes zieht.
Seit 1997 liegt auch eine amerikanische Ausgabe ihrer Gedichte vor (Auswahl: Rajzel Zychlinski, Editor und Mitübersetzer ins Englische: Marek Kanter).
In seinem einführenden Essay schrieb Emanuel S. Goldsmith (Mendl Scholem Goldschmit), Professor für jiddische Sprache und Literatur am Queens College in New York, sie sei, als die wahre Erbin von Generationen jiddischer Dichterinnen, eine der weltweit größten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.

Poetik
„Wer den Dichter will verstehen, / Muss in Dichters Lande gehen“, sagt Goethe in den Erläuterungen zu seinem West-östlichen Divan. In welche Lande müsste man gehen, um die Verse der Rajzel Zychlinski zu verstehen? In das Polen der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit, und in die Sowjet-Ukraine, nach Mittelasien und nach Paris, nach New York und Berkeley? Um den westöstlichen Divan der Rajzel Zychlinski zu begreifen, wo die Tradition des jiddischen Städtels und der Riesenstadt New York, wo die Welten des Ostens, auch des Ostblocks, und der westlichen Hemisphäre aufeinander treffen. Eine Autorin meinte, diese Rajzel Zychlinski sei eigentlich nur in der Literatur zu Hause gewesen.
Goethe war ihr vertraut. Sie hat sogar versucht, für sein berühmtestes Gedicht „Über allen Gipfeln“ eine Variation zu schreiben, in der statt von der Ruhe der Wipfel vom herumirrenden, heimatlosen Wind die Rede geht.
Bei welchen Dichtern sonst war sie zu Hause? In ihren Texten nennt sie: Baudelaire, Hugo, Rilke, Shakespeare, die Bibel, einige jiddische Autoren. Dass sie ostasiatische Lyrik las, verrät ihr Hinweis auf Li-tai-pe, aber mehr noch ihr poetisches Verfahren, und ihr Umgang mit Naturmotiven. Die Biografin hat der Dichterin einen weiteren Namen entlockt: Else Lasker-Schüler.
Jissroel Emiot, ein fast gleichaltriger jiddischer Dichter aus Polen, bezeugt, sie hätte sich bereits in ihrer Warschauer Zeit gut in der polnischen und der deutschen Literatur ausgekannt. Als viel später Gedichte der Autorin ins Deutsche übertragen wurden, wusste sie bei sprachlichen Details mitzureden. Sie hat Französisch gelernt, um Charles Baudelaire ohne Übersetzer-Vermittlung zu lesen. Ein Kritiker nennt sie „ein Kind und eine Schwester von Rimbaud, von Verlaine, von Valéry…“ Der jiddische Schreiber Ber Schnaper vermutete gar, sie sei von den französischen Surrealisten beeinflusst worden.
Sicher hat sie Izik Mangers Gedichte genau gekannt und sich von seinen Bibel-Balladen ermutigen lassen. Aber von seiner Schreibart hielt sie sich fern. Melech Rawitsch berichtet, sie habe ein ganzes Buch von ihm Wort für Wort auswendig gekonnt – ohne sich, und das sagt er bedauernd, literarisch davon beeinflussen zu lassen.
Zeitlebens gehörte es zu den Eigenheiten der Dichterin, sich nie einer literarischen oder politischen Gruppe anzuschließen.
Rajzel Zychlinski war unzweifelhaft mit dem Symbolismus, dem Expressionismus, dem jiddischen lnsichismus (einer wichtigen Strömung der jiddischen Moderne) in Berührung gekommen. Und aus all diesen Einflüssen lassen sich einzelne Züge ihrer Dichtung herleiten.
Aber aus allen Anregungen ist nicht erklärbar, dass sie sich auf die kleine Form der lyrischen Miniatur einspielte und in ihr große Gedichte hervorbrachte. Und dass sie den früh gefundenen Gedichttyp lebenslang weiterführte, trotz all der Einflüsse, die von den Gastländern und ihren Literaturen ausgingen, oder von ihren späteren Literatur- und Philosophiestudien. Zweifellos erkannte sie, dass sie poetisch schwächer wurde, wenn sie sich in längeren Gedichten versuchte, oder wenn sie, während der Jahre in der Sowjetunion, sich traditionellen Lyrikarten annäherte. Es war ein entschiedener Fortschritt, danach zum Lyrikmodell ihrer Anfänge zurückzukehren und daran festzuhalten.
Als sie in die jiddische Literatur eintrat, nutzten viele jiddischschreibende Autoren traditionelle Gedichtformen mit Strophen, Reimen und regelmäßigen Rhythmen. Rajzel Zychlinski schrieb in freien Versen mit unregelmäßigen Rhythmen, in einer Gedichtform, die sie selber schuf. An dieser fällt auf, außer ihrer Kürze: die gelegentliche Nähe zur Prosa. Die eigentümliche Verwendung von Symbolen. Die Erfindung origineller Bilder. Die Kunst der Assoziation. Die Affinität zu Traum, Vision und Halluzination. Die Berührungen mit Folklore und archaischer Dichtung. Die Verwendung grotesker und absurder Elemente. Das oft Alogische, Geheimnisvolle. Das Orakelhafte, Prophetische. Das apokalyptisch rebellische Element ihrer Dichtung.
Mit sicherem Instinkt folgte sie ihrer eigenen Stimme, ihrem impulsiven Temperament, bestand auf ihrem persönlichen Ton und Atem, auf ihrer inneren Musikalität. Sie nutzte ihre Spontaneität, ihre Ursprünglichkeit, ihre Intuition, ihren Widerspruchsgeist, ihre Verweigerungslust, ihre Hartnäckigkeit. Aber um zu sich selber zu finden, um sich vom suggestiven Druck traditionellen Dichtens frei zu kämpfen, brauchte sie hilfreiche Vorbilder.
Eine ihrer Besonderheiten ist das scheinbar Unfertige, absichtsvoll Fragmentarische mancher Texte, der Gestus des ersten Wurfs. Man sprach von einer Poesie, die ihre Nabelschnur noch nicht durchtrennt habe, die sich noch im Stadium ihrer Geburt befände und von daher ihre besondere Frische und Originalität bezöge.
Bertolt Brecht hatte in seinen späten Jahren die Naivität als ästhetische Kategorie für sich entdeckt, im Rückgriff auf Friedrich Schillers Gegensatzpaar der „naiven und sentimentalischen Dichtung“. Schiller hatte über geniale Naivität oder naive Genialität notiert:

Ein glücklicher Wurf ist sie, keiner Verbesserung bedürftig, aber auch keiner fähig, wenn er verfehlt wird.

Der naive Dichter verfahre „nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles, was die gesunde Natur tut, ist göttlich)…“
An Rajzel Zychlinski erkannte man eine verblüffende Verbindung von Naivität und Raffinement.
Nicht minder wichtig als der Einfluss moderner Dichtung mag die Bestärkung gewesen sein, die sie seit Mitte der 30er Jahre von Jizchok (Isaac) Kanter erfuhr.
„So lange sich der Dichter auf dem Boden des individuell-persönlichen Erlebnisses bewegt, kann er ewig neu und eigenartig sein.“ Kanter spricht vom „Prisma der besonderen Persönlichkeit“, von der „individuellen künstlerischen Vision“.
Es sei nur Sache der Halb- und Vierteldichter, die sogenannten großen Themen in Halbfabrikate zu verwandeln (so in seinem Aufsatz über „Das große Thema in der Dichtung“). „Dem besseren Dichter befiehlt oft seine Intuition, gerade das Unwesentliche, oft Alltägliche aufzugreifen. Er nimmt nur ein Moment des ganzen Komplexes und gestaltet es. Durch ein Detail gibt er uns das Ganze.“ Und schließlich auch: „Es wirkt die Linie und die Nuance, und nicht die Anhäufung von Linien und Farben.“
Rajzel Zychlinski selbst, in ihren lyrischen Miniaturen, gibt nur wenige Fingerzeige zu ihrer Poetik. In „doss lid“ schildert sie Reaktionen der Leserschaft: einer freut sich, „der zweite lehnt ab, der dritte hustet, der vierte gähnt. Der Kosmos, auch die außermenschliche Welt der Tiere und Dinge bleibt ungerührt angesichts ihrer dichterischen Ekstase. Aber für die Autorin hat sich, durch ihr Dichten, die Welt verwandelt.
Auch in „Der Tod des Dichters“, wo sich eine schwärmerische Verehrungshaltung mit kritischer Distanz mischt, heißt es, ihre eigenen Hände, indem sie ein Gedicht schrieben, seien jetzt „groß und schön“.
Auch Rilke und Baudelaire, diese von ihr bewunderten Dichter, sind nicht ohne Vorbehalt gesehen. Rilkes Verse erscheinen ihr wie „Blätter aus fernen, fremden, verwelkenden Himmelsgärten“. Baudelaires Bild von der steinernen Stadt wird für sie zur menschenfernen lapidaren Endzeitlandschaft, bestimmt von der kristallinen Logik des Wassers und der Felsen. Diese Vision übt auf sie eine Faszination aus. Aber Rajzel Zychlinski, die bei einem kalten Steinmonument sofort in Versuchung kommt, es mit ihrem Finger zu wärmen, hat Erstarrung sicher auch als Gefahr begriffen.
In einem zentralen Text versteht sie Dichten als eruptiven, vulkanischen Vorgang: Ausbruch und Abkühlung, bis aus der großen Meeresfläche eine neue Insel hervortritt. Hier findet sich auch die Formel vom Blitz, der bei der Entstehung eines Gedichts den Gedanken durchfeuern müsse.
Ein anderes Gedicht über das Dichten, worin es heißt:
„Also das Alphabet vergessen?“, reflektiert das Thema des Schweigens und des Verstummens.
Als Jiddischschreibende erlitt die Zychlinski nicht das Problem Celans und anderer Dichter, eine Mördersprache verwenden zu müssen, um die Qualen der Opfer zu schildern. Sie hat in einigen ihrer Gedichte ihr Leid, ihren Hass, ihre Rachegefühle gegen die Deutschen, ihr Grauen und ihre Angst hinausgeschrien. Das „deutsch deutsch deutsch“ verfolgte sie. Und sie hat, wie Karina von Tippelskirch erfragte, nach der Schoa die neuere deutsche Literatur nicht mehr wahrnehmen wollen. Aber die Sprache Goethes und Rilkes blieb ihr nahe. Und an der New School for Social Research mag die Begegnung mit deutschen Emigranten, von denen sie mit großer Achtung sprach, ihr Verhältnis zu den Deutschen wieder verbessert haben. So schrieb sie im September 1966 in einem deutschsprachigen Brief an den Leipziger Reclam Verlag, anlässlich ihrer Aufnahme in die Sammlung Der Fiedler vom Getto: „Schon lange war es meine Sehnsucht, meine Gedichte in deutscher Sprache gedruckt zu sehen.“
Schweigen und Verstummen ist Thema und Motiv ihrer jiddischen Poesie, aber zugleich deren konstitutives Element. Im Gespräch mit dem Liebsten, so schildert eines ihrer Kürzestgedichte, wird Schweigen zur beredtesten, zur verstehbarsten Aussage. Jene Passagen ihrer Texte, die das Schweigen herausfordern oder durch Schweigen zum Erkennen führen, gehören zu ihren stärksten. Wo ihr Gedanke abbricht, wo es ihr die Sprache verschlägt. Das Verfahren erinnert an eine alte Praxis jüdischer Erzähler, dem Leser und Hörer die Lösung zu überantworten.
Der hohe Grad an Individualität, der sich in diesen Gedichten kundtut, entsteht nicht durch Selbstporträts, durch autobiografische Anekdoten oder durch unmittelbare Aussprache des lyrischen Subjekts. Das Ich der Dichterin nimmt sich häufig zurück, wird zu einem bloßen Sensorium der Welterkenntnis. Andererseits finden sich Texte, in denen sich das Ich nahezu ins Mythische überhöht: „Geboren hat mich der Wind“, „vergänglich sind meine Schwestern“, „Der Donner“, „wenn“. Das Ich liest, dechiffriert, dekodiert die Zeichen der umgebenden Welt, die Gesichter und Landschaften, und teilt sich zugleich an diese Welt aus, verzweigt sich darin. Oder die äußere Welt wird Teil ihres Inneren. Man hat es eine Art Pantheismus genannt und könnte mit noch mehr Recht von Pan-Poetismus sprechen.
Sie stellt gegensätzliche Welten nebeneinander, lässt sie zusammenprallen und ineinander dringen: die sogenannte Realität, den Tag- und den Nachttraum, die Erinnerung, die imaginierte Zukunft.
Ihre Dichtung ist nahe an Abgründen angesiedelt und zeigt sich hochsensibel für Bedrohungen, Ängste, Vorgefühle. Manche Texte sind Warngedichte. In vielen ist ein apokalyptisches Grollen wahrzunehmen: Ankündigung von Untergängen.
Ihre punktuellen, aber ins Weite zielenden Texte sind eigenständige kleine Kunstwerke und zugleich Fragmente eines größeren Zusammenhangs.
In der thematischen Reihung werden zyklische Abfolgen sichtbar, die von der Frühzeit bis zu den spätesten Gedichten reichen und die sich in andere Themengruppen hinein verzweigen. Ihr letzter Gedichtband naje lider vollendet im Rückgriff auf die frühe Sammlung lider eine Art Ringkomposition des lyrischen Gesamtwerks.
Die wenigen Prosatexte der Dichterin, die unter dem Titel „Die alte Frau und das Meer“ in dem Band di nowember-sun („Die Novembersonne“) überliefert sind, scheinen auf den ersten Blick nur schlichte Skizzen zu sein. Aber sie sind voller Anklänge und Andeutungen, ähneln Landschaften, in denen überall Keimformen von Gedichten aufleuchten. Als eine Art Anhang gedruckt, wirken sie wie eine nachgestellte Ouvertüre zu den Versen.

Themen
In seinem Vorwort zum ersten Lyrikband der Rajzel Zychlinski hatte Izik Manger geschrieben: „Sie ist und bleibt die Gefangene der Heimidylle.“
Dabei konnte er den Gedichten schon damals ablesen, wie sehr es die Dichterin zu Ausbruch und Aufbruch drängte. Dennoch behielt er auf eine tragische Weise Recht: durch den Verlust der Heimat und vor allem der Familie blieb sie für immer an diese Heimidylle gefesselt. Aber die Fesselung und die Lösungsversuche ergaben ein poetisches Modell, das imstande war, große Konflikte des Zeitalters zu reflektieren.
Den Gefahren, die auf die Lyrik der Rajzel Zychlinski lauerten, begegnete lzik Manger mit einem Segensspruch:

Aber die Götter, die das Schöne und Echte lieben, werden sie sicher beschützen – ich meine die Dichterin und ihr Gedicht.

Obwohl er damals nicht wissen konnte, wie sehr solch ein Schutz nötig sein würde – sein Segensspruch hat geholfen.
Die folgenden Bemerkungen zu einigen Themen können nicht mehr sein als Hinweise.

GOTT. Angaben über die große Frömmigkeit der Mutter – die immer wieder in biografischen Notaten auftauchen und doch wohl von der Autorin stammen – lassen vermuten, dass die Auf- und Ausbrüche als ebenso kräftige wie schmerzliche Rebellionen erfahren wurden (ablesbar an einigen der Gedichte).
Das Ringen mit Gott ist ein Thema, das Rajzel Zychlinski lebenslang begleiten wird.
Zunächst versucht die junge Dichterin, sich durch Thoralektüre zu inspirieren, und gelangt zu einem ungewöhnlich souveränen Umgang mit der Heiligen Schrift. Sie erzählt die Geschichten von Kain und Abel, Josef und seinen Brüdern, von Amnon oder von Jakob und Isaak aus überraschenden Blickwinkeln. So will Simson, der Held, bei ihr fortan kein Held mehr sein, sondern so schwach und durchschnittlich wie jedermann. Die Rolle der Frau, Themen wie Sexualität und Liebe werden ins Bild genommen.
Die Erfahrungen von Krieg und Schoa verstärken in Rajzel Zychlinski ihre Zweifel an Gott, ihre Irritationen, ihre Fremdheitsgefühle. Nie hat sie sich dahin gesteigert, Gottes Existenz zu negieren. Aber sie zeichnet scheiternde, misslingende Verhältnisse zwischen Gott und den Menschen. Gott erkennt den Betenden nicht und erkennt nicht die alte Frau mit dem Hund. Die Dichterin – im Brunnen, in der Tiefe auf seinen Ruf wartend (Psalm 130) – sie wartet vergeblich. In ihrer Kindheit hatte sie aus Wolkenbildern herausgelesen: die grauen Wolken seien Säcke voll göttlichen Erbarmens; jetzt entdeckt sie, es seien Augenbinden, die Gott alle Sicht rauben. Silberne Wolken sieht sie als den grauen Star auf den blinden Augen Gottes. Und in ihrem Gedicht „Gott hat verborgen sein Gesicht“ lässt sie ihn sein Antlitz verstecken. Vor Entsetzen? Vor Furcht? Oder vor Scham? Denn die Natur, seine Schöpfung, begeht Verrat an den verfolgten, ermordeten Juden.
In einem der Gedichte kann Gott nicht ertragen, was er vollbracht hat, flüchtet sich in die Einöden der Mondlandschaft, um seiner Schöpfung zu entrinnen.
In späteren Texten rührt sich ein Mitleid mit Gott. Er friert und braucht die Hilfe seiner Kreaturen: Tauben nehmen ihn unter ihre Flügel. Die Dichterin möchte Gott vor der Drohung bewahren, dass Wolkenkratzer zu Dolchen werden, um ihn in den Rücken zu stechen.
Manchmal denkt sie sich ihn als Rachegott. Als sie im Vers das Blut der deutschen Feinde fordert, beruft sie sich auf ihre Frömmigkeit. Angesichts einer toten Taube auf dem New Yorker Pflaster erhofft sie, „Gottes Finger wird sie alle ins Meer fegen“.
In einem späten Gedicht klingen versöhnliche Töne an, als vom Lächeln Gottes die Rede geht, parallel zur Emphase der Liebenden.

NEW YORK. Erinnerung an das heimische Städtel diente der Dichterin zeitlebens als Bestärkung, Utopie und Regulativ, auch während sie in gewaltigen, chaotischverwirrenden, verlockenden und bedrohlichen Großstadtwelten lebte. Die Zerstörung Warschaus 1939 stellte sie am Leiden jener Tiere dar, die zur Komparserie ihrer Städteldichtung gezählt hatten: am sterbenden Pferd, am hungernden Hund, an der blinden, verbrannten Katze. Die Stadt Paris, früh ein Ort ihrer literarischen Sehnsüchte, nahm sie fast voyeuristisch ins Bild. New York aber ist ihr ein übermächtiges Thema geworden, das alle anderen Themen umgreift: Erinnerung und Vergessen, Einsamkeit und menschliche Nähe, Kindheit und Alter, Liebe und Tod…
„Es ist gut wandern in New York, so beginnt ein Gedicht, das wie viele ihrer Großstadttexte Irritationen und Paradoxien häuft. Rajzel Zychlinski übt Neugier und Gelassenheit, wenn sie wie in einem versunkenen Atlantis durch die Avenues und Streets spaziert, zwischen brüllenden Fischen, die sich als Cadillacs oder Fords tarnen. Märchenhaftes und Visionäres verschmelzen mit Alltagsbeobachtungen zu einer fantastischen Legierung. Bei einer U-Bahnfahrt mischt die Autorin widerstreitende Wunsch- und Alpträume, sei es der Passagiere, sei es des lyrischen Ichs, um dann zu konstatieren: sie alle sagen die Wahrheit. Aus den Facetten der vielen Gedichte entsteht ein ungemein lebendiges, reiches, widersprüchliches Bild der Über-Stadt New York. Ein Bild, das immer wieder Gefahren, aber auch Rettendes beschwört:

… die gütige Hand
wird die Welt erretten
vor Chaos und Untergang

LIEBE. Liebesgedichte sind selten in ihrem Werk; aber sie gehören in ihrer zarten Sensibilität zu den schönsten ihrer Texte. Da ist das reizvoll genrehafte Jugendgedicht über freie Liebe („Zu Gast“). Oder die Variation des Adam-und-Eva-Motivs: das nackte Paar vor dem Apfelbaum, das sich der missgünstigen Umwelt erwehren muss. Die Romanze zweier Kirschbäumchen auf dem Ackerwagen des Bauern. Ungewöhnlich pathetisch: das helle Fenster bei Nacht wird zum Leuchtfeuer für entfernte Gestirne. Liebe ist es, wenn man sich im Spiegelbild des andern verfängt. Wenn man in seiner Stimme wandert, sich gar verirrt. Die Gedichte des Abschieds gipfeln in der subtilen Spiegelungsimpression „Durch eine gläserne Tür“, wo es endet:

So geht man im Frühling
von einem Fluss –
halb im Himmel,
halb im Wasser

DlE DlNGE. „Der Mensch geht durch Wälder von Symbolen, die mit vertrauten Blicken ihn beobachten“, hieß es in den „Correspondances“ von Baudelaire.
Rajzel Zychlinski geht durch den Alltag mit sinnsuchendem, auch sinnstiftendem Blick. Dinge und Vorgänge, Landschaften, Wolkenbilder, Sonnenuntergänge, Gesichter – sie findet überall Signale, Symptome, Spuren, Indizien. Sie blickt voller Erwartungen:

Jedes Gesicht ist ein Wunder, das noch einmal geschehen kann.

Auch die sogenannte unbelebte Natur bekommt Gesicht. Und oft übernehmen Dinge den aktiven Part.
Gegenstände wie Menschen und Naturphänomene drängen heran – in ihren Traum, in ihr Gedächtnis, in ihr Gedicht. Bäume machen sich auf den Weg. Gebäude werden zu Gesprächspartnern, wo es an Menschen gebricht (das Haus gegenüber, das alte weiße Hotel, das Haus der Alten, der Schornstein, das Hospital).
Auch einsame Kaffeetassen oder Mülltonnen ersetzen das menschliche Gegenüber. Im Krieg klagen die Häuser über den Verlust ihrer Bewohner.
Schuhe mahnen die verlorenen Kinder ein. Man hört das Beil des Mörders atmen, Wolkenkratzer sind Dolche, die sich rüsten, Gott in den Rücken zu stechen.
In den Wänden speichert sich all das, was zur Entstehungszeit in sie hineingebaut wurde oder was sie später mit anhören mussten.
Kleider übernehmen die Rolle ihrer Besitzerin, auch deren Erinnerungen und Sehnsüchte.
Die Dinge, manchmal sind sie die besseren Menschen. Der Weg verliebt sich in den Fremden, oder das Laken sehnt sich nach ihm. Der alte Mantel eines Obdachlosen wird von gleichgültigen Menschen in den Müll geworfen; aber der Asphalt, vollgesogen mit dem Traum und dem Fieber des Obdachlosen, lehnt sich auf.
„Der Saum ihres Mantels“ schildert einen Vorgang, der deutschen Lesern aus Brechts Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ vertraut ist: Jemand hat einen Menschen vergessen; doch ein äußeres, symbolisch bedeutsames Detail weckt die Erinnerung. Eine Frau ist vergessen worden. Aber der „nasse, bespritzte Saum ihres Mantels“ fordert Wiedergutmachung.

MITMENSCHEN. Rajzel Zychlinski ist als eine Dichterin schärfster Einsamkeit erkannt worden. Zugleich handelt ein Großteil ihrer Texte von sympathetischer Hinwendung zu den Mitmenschen. Sie bieten Porträtskizzen oder Erinnerungen an Personen: an die Mutter, an die Geschwister, an Bekannte, an Fremde. Oft treten Außenseiter und Randgestalten ins Zentrum ihrer Gedichte. Und dazu finden sich programmatische Schlüsselverse:

Meine Geschichte ist deine Geschichte,
Nachbar gegenüber in der Subway.
Worüber du grübelst,
das hab ich schon vergessen,
was dich treffen wird,
hat mich längst getroffen…

Die Autorin, die mit Selbstbespiegelungen sparsam umgeht, spiegelt sich in vielen ihrer Gestalten.
Der soziale Impetus der Rajzel Zychlinski war von Jugend an stark und ist es geblieben. Er verknüpft sich mit dem Thema der Armut. Wie für Rilke wurde für sie Armut „ein Glanz aus innen“. Sie bekannte sich zu ihren Versuchen, Not zu romantisieren, sie zu ästhetisieren.
Aber aus ihren romantischen Bettlern mit den blauen Augen werden Gestalten von mythischen Dimensionen. „Der Vagabund“, der sie auf der Straße anblickt, existiert seit den Urtagen der Welt. Greise Männer, reduziert zu unbeantworteten Fragezeichen, können älter sein als das Meer und älter als Gott. Die weißen Stecken der Blinden, so liest man, sie wecken die Erde.
Die Armen, so wird verheißen, werden die Erde erben… Man fürchtet die Rache des toten Bettlers. Sogar der Himmel bettelt bei der alten Bettlerin um Gnade.
Und all die vergessenen und verdrängten Gesichter der Mitmenschen kommen in die Träume des lyrischen Ichs.

TIERE. Tiermotive und -themen werden reich verwendet. Bald geht es um wirkliche Tiere, bald um Fabelwesen. Sie dienen zur Spiegelung und Kontrastierung menschlicher Verhältnisse. Und sie werden gleichsam zu einer Prüfungsinstanz, einem Maß für den Zustand der Welt.
Einer kalifornischen Klagetaube schreibt die Dichterin den ganzen Themenkatalog ihrer eigenen Klagen zu.
Bei dem Text über den toten Cäsar und den toten Hund weiß man nicht: ist es vor allem ein Gedicht über Cäsar oder über den toten Hund.
In einem Gedicht über das Kamel wird in einer fast wissenschaftlich anmutenden Argumentation darauf hingewiesen, dass dieses Tier nicht nur als Chiffre und Metapher diene, sondern dass sich an seinem äußeren Erscheinungsbild viele seiner Lebensumstände und damit Weltzustände ablesen lassen: die Wüste, das Kastell…
Ein toter Vogel, für viele nur ein braunroter harmonischer Herbstfleck im Universum, wird ihr zum Grund, die Welt in Trümmer zu legen. Und in einem humorigmakabren Rückgriff auf die Urwelt der Dinosaurier stellt die Dichterin, angesichts zunehmender Gewaltsignale in der Gesellschaft, das Ansinnen und legt es den Dinos ins Maul:

Wir sind untergegangen – geht auch unter.

TOD. Mit dem Thema Tod hat die Autorin von früh auf Umgang, in erstaunlich unsentimentaler Weise. Zu Recht ist gesagt worden, das eigene Skelett, das in einem der Gedichte nachts über ihren Schlaf wacht, sei in vielen ihrer Gedichte zugegen. Sie findet immer neue Bilder für das Sterben: sich in einen Stein verwandeln, sich dem Strome hingeben, als Negerin über die Stadt hinschweben… und Gedichte aufs Wasser schreiben. (Ein Wort wie „Negerin“ gilt ihr nie als Diskriminierung.)
Die Sonne versinkt in ihrer inneren Landschaft. Der Regen wird ihren staubigen Leib austrinken.
Sie begegnet dem Tod wie einem Bräutigam und zieht das festliche, das jugendliche, das provozierend rote Kleid an.
Die Kranken im Spital wird der Wind hinwegblasen, wird sie auslöschen wie Flämmchen, und sie warten geduldig. Sie harren auf die Todesbotschaft, auf das herbstlich gelbe Blatt im Schnabel der Taube.
Rajzel Zychlinski kommt hier fast ohne Apotheosen und Verklärungen aus, verzichtet auf Verheißung und billigen Trost.
In ihrem Gedicht „Das Recorder-Zwitschern“ führt sie mehrere ihrer Grundthemen und Motive zusammen: den Tod des Dichters, das Tier- und das Dingmotiv. Anhand eines Scherzartikels vor einem Frisierladen behandelt sie die Frage ihres eigenen Todes und ihres Weiterwirkens:

… so wird auch mein Lied einmal jemand nachgehn
… und wie ich wird einer den Kopf wenden
und sucht vergebens den Sänger.

SEPTEMBER. Der Zweizeiler „September“, vermutlich das späteste Gedicht der Autorin, stammt vom Dezember 1991: „Wieder ist September – / und wieder haben die Krähen das Wort.“ Ein mit vollem Ernst gehandhabtes Spiel der Daten- und Jahreszeiten-Magie. Bei Rilke hieß es:

Und dennoch sagt der viel, der Abend sagt.

Wenn Rajzel Zychlinski September oder Oktober sagt, klingen tiefe biografisch-existentielle wie symbolische Bedeutungen an, und zugleich wird auf eine ganze Reihe Zychlinskischer September- oder Oktobergedichte verwiesen. Sie nennen den Monat des Kriegsbeginns, da – so in einem der Gedichte – ihr Leben anhielt, dass sie für immer mit dieser 39 verknüpft bleiben muss. Und sie nennen den Monat ihrer Flucht.
Zeichengläubige könnten meinen, die prophetische Dichterin habe hier noch ganz andere Dinge vorweggeahnt, die in einem September geschehen würden. Sie hat es wirklich – in mehreren ihrer Gedichte.
In ihrem letzten Zweizeiler verstummt sie, weil wiederum die Krähen das Wort führen. Überlässt sie den Krähen das Wort? Doch bei ihrer Art zu dichten ist auch ihr Schweigen, gerade ihr Schweigen vernehmbar.

Hubert Witt, Nachwort

Editorische Notiz

Diese Ausgabe vereint alle Gedichte und Prosaskizzen, die zu Lebzeiten der Autorin in ihren sieben Gedichtbänden erschienen sind.
Die Anordnung vermittelt thematische Längsschnitte durch das lyrische Werk.
Die Chronologie der Gedichte wird manchmal zugunsten thematisch-motivischer Zusammenhänge aufgelockert.
Für die Wiedergabe der jiddischen Texte, die im Original mit hebräischen Lettern gedruckt sind, wurde nicht die Yivo-Transkription gewählt, sondern eine für deutsche Leser leichter lesbare Umschrift.
Wo von einem Gedicht mehrere Varianten vorliegen, wird in der Regel die letzte Fassung abgedruckt. Nur in wenigen Fällen sind Texte kontaminiert worden.
Einige offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Die Zeichensetzung weicht gelegentlich vom Original ab. Einige Male sind Leerzeilen eingefügt worden, um die Struktur eines Gedichtes deutlicher hervorzuheben. In seltenen Fällen wurden auch Zeilenbrechungen verändert.

Für die Übertragung ihrer Texte gibt Rajzel Zychlinski in dem Gedicht „Zwei Briefe“ einen wichtigen Hinweis: Nichts solle weggelassen, vor allem aber keinerlei Zierrat hinzugefügt werden. Der Übersetzer hat sich bemüht, diesem Grundsatz weitgehend zu folgen.
Die Gegenüberstellung von Original und Übertragung drängt zu interlinearer Genauigkeit und ermöglicht zugleich gelegentliche Freiheiten (die vom Leser leicht kontrolliert werden können). Nicht immer ist zeilengenaue Wiedergabe die beste Lösung, um Originaltreue zu erreichen.
Auf Exaktheit bedachte Interlinearübertragungen verschiedener Übersetzer sollten, um einen Substanzverlust des Gedichts zu vermeiden, gelegentliche Überschneidungen nicht ausschließen. Karina von Tippelskirch und Hubert Witt sind in dieser Frage zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. (…)

Hubert Witt

 

1928

erschienen in einer Warschauer Tageszeitung die „sehr kurzen, sehr andersartigen, sehr schönen Gedichte“ (M. Olizki) von Rajzel Zychlinski: Miniaturgedichte in freiem Versmaß. Die junge Stimme aus dem polnischen Gombin (Gąbin), die ihre lider in jiddischer Sprache schrieb, war eine Stimme der literarischen Moderne.
Das Jiddische sollte ein bewegtes Leben lang das einzige Quartier bleiben, das Rajzel Zychlinski nie gewechselt hat. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht floh die Jüdin über Lemberg und Ostgalizien in die Gegend von Kasan, wo ihr Sohn Marek geboren wurde und ihr Mann als Arzt arbeitete. Im Nachkriegspolen, wohin die Familie 1946 zurückkehrte, wurde sie nicht mehr heimisch und wanderte über Frankreich in die Vereinigten Staaten aus. In New York arbeitete Rajzel Zychlinski in einer Krawattenfabrik, holte den Highscholl-Abschluss nach, studierte Literatur und Philosophie an der New School for Social Research – und schrieb und publizierte Gedichte.
Ihre letzten Jahre verlebte Rajzel Zychlinski bei Berkeley. 2001 starb sie in Concord, Kalifornien.
Ihre lyrischen Miniaturen, wo inmitten der Hochhausschluchten Manhattens die Welt des jüdischen Städtels aufscheint, wo sich Alltagswirklichkeit mit Erinnerung, Traum und Vision vermischt, haben sie berühmt gemacht. 1975 wurde sie mit dem Izik-Manger-Preis ausgezeichnet. Man vergleicht sie häufig mit Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer oder Paul Celan. Rajzel Zychlinski, meint E.S. Goldsmith, zählte zu den größten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Die von Hubert Witt herausgegebene und übersetzte Ausgabe macht erstmals das lyrische Gesamtwerk von Rajzel Zychlinski für deutsche Leser zugänglich. Alle Gedichte werden im jiddischen Urtext und in deutscher Übertragung wiedergegeben.

Zweitausendeins, Klappentext, März 2003

 

Beitrag zu diesem Buch:

Hansjörg Graf: „Ein Auge, das nichts vergißt“
Merkur, Heft 656, Dezember 2003

 

„Und Gott hat verborgen sein Gesicht“

− Rechten mit dem Allmächtigen in der Tradition Hiobs: Ein Nachruf auf die jiddische Dichterin Rajzel Zychlinski. −

Rajzel Zychlinski, eine der größten Dichterinnen der jiddischen Literatur, hat das 20. Jahrhundert nur um wenige Monate überlebt. Sie starb am 13. Juni 2001 in Concord/Kalifornien. Geboren wurde sie am 27. Juli 1910 in dem polnisch-jüdischen Schtetl Gabin (Gombin). Ihr Vater, ein Gerber, hatte dreimal versucht, in Amerika heimisch zu werden und war 1928 in Chicago gestorben. Ihre Mutter, aus einer alten Rabbinerfamilie stammend, fürchtete für die Frömmigkeit ihrer Kinder und blieb in Polen zurück. Die Mutter, zwei Brüder und eine Schwester Rajzels sind in Chelmno und Treblinka ums Leben gekommen.
Rajzel Zychlinski arbeitete in einem Waisenhaus in Wloclawek und in einer Warschauer Bank. Und sie schrieb Lyrik: verspielte, idyllische, hintergründige, ahnungsvolle, in der sich Humor und Tragik, Sehnsucht und Trauer verknüpften. Sie durchlebte die Bombardierung Warschaus und den Einmarsch der deutschen Truppen, entkam in die Sowjetunion, überstand die letzten Kriegsjahre in Kasan, wo sie ihren Sohn Marek zur Welt brachte. Mit ihrem Ehemann Isaac Kanter, einem Psychiater und Essayisten, kehrte sie 1946/47 über Schlesien nach Polen zurück, siedelte 1948 nach Paris über und fand seit 1951 in den USA eine neue Heimat.
Neben ihrer Arbeit in einer Krawattenfabrik besuchte sie die Highschool, belegte Studienkurse in Biologie, Literaturkunde und Sozialwissenschaft und schrieb jiddische Gedichte, die mithilfe des jüdischen P.E.N und des jüdischen Kulturkongresses erschienen. Die Dichterin hat früh ihre eigene Stimme gefunden. Rachel H. Korn schreibt vom „Druck ihres inneren Imperativs, der sich durch äussere Bedingungen oder Forderungen nicht korrumpieren läßt“.
Von vielen jiddischen Autoren ist ihre Originalität gepriesen worden: die Besonderheit ihrer Bilderwelt; die Schlichtheit ihrer Worte, die sich mit poetischen Raffinement verbindet; die Einzigartigkeit ihrer freien Verse, die in der traditionsnahen jiddischen Lyrik äußerst modern wirkten. Ihre Texte, lyrische Miniaturen von oft nur wenigen Zeilen, wurden mit altchinesischer und altjapanischer Lyrik oder mit der Dichtung der französischen Surrealisten verglichen. Bei der Verleihung des renommierten Itzik-Manger-Preises in Israel hieß es, sie sei wie ein Meteor in der jiddischen Literatur aufgestiegen und sei zum dauerhaften Gestirn geworden. In einem ihrer Gedichte beschreibt sie die Art ihrer poetischen Inspirationen: als vulkanischen Vorgang, bei dem sich die Lava schließlich ins Steinern-Lapidare hin abkühlt. Und es heißt: ein Gedicht entstehe, wenn ein Gedanke von einem Blitz durchleuchtet wird. Viele ihrer Texte zeigen die Leuchtspur solcher Blitze, die das Gewohnte in ein neues, befremdliches Licht tauchen oder Trennwände durchschlagen. So können Gegenwart und Erinnern, Wirklichkeit und Traum, Irdisches und Kosmisches einander durchdringen.
Die tragische Erfahrung des Holocaust ist in fast allen neueren Texten zugegen. Wenn sie in der Tradition des biblischen Hiob mit dem Allmächtigen rechtet, dann werden ihr Silberwolken der Landschaft zum „grauen Star auf den blinden Augen Gottes“.
Die Dichterin hat zeitweilig am Meer gewohnt und oft über das Meer geschrieben. Ihr poetisches Ich durchwandert New York wie ein versunkenes Atlantis, wo Cadillacs und Fords als heulende Fische dahingleiten. Am 27. Juli, dem Tag ihres 91. Geburtstages, wird die Asche Rajzel Zychlinskis dem Meer übergeben werden, so wie sie es verfügte. Und jenes ihrer Gedichte wird gelesen werden, das ihr bis zuletzt nahe war:

Und Gott hat verborgen sein Gesicht.

Ihre sieben Gedichtbücher heißen: lider (Gedichte), Warschau 1936; der regn singt, Warschau 1939; zu lojtere bregn (Zu klaren Ufern), Lodz 1948; schwajgndike tirn (Schweigende Türen), New York 1962; harbsstike sskwern (Herbstliche Plätze), New York 1969; di nowember-sun (Die Novembersonne), Paris 1977; naje lider (Neue Gedichte), Tel Aviv 1993. In Amerika erschien eine englischsprachige Edition ihrer Gedichte, an der ihr Sohn Marek als Übersetzer mitwirkte. Die bisherigen deutschsprachigen Ausgaben erschienen im Inselverlag, Leipzig 1981 (übertragen von Hubert Witt) und im Oberbaum Verlag, Berlin 1997 (zweisprachig, übertragen von Karina Kranhold). Eine Biographie (Dissertation) von Karina von Tippelskirch kam im Tectum Verlag, Marburg 2000, heraus. Eine umfassende Ausgabe der Gedichte (jiddisch & deutsch) wird vom Verlag Zweitausendeins für das Jahr 2002 vorbereitet.

Hubert Witt, Die Welt, 23.6.2001

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Internet Archive +
Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + KLfG + Kalliope

 

Rajzel Żychlinskis Gedichte gespielt von Stella & Ma Piroschka.

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