Ralph Dutli: Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Auf dunklen Himmel hingestickt…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Auf dunklen Himmel hingestickt…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –

 

 

 

 

OSSIP MANDELSTAM

Auf dunklen Himmel hingestickt
Stehn Mustern gleich die Trauerbäume.
Warum nur hoch, in höhere Räume
Erhebst du den erstaunten Blick?

Da oben – welche Dunkelheit –
Du meinst, der kalte Strich der Hügel
Hat dort, die Nacht dem Tag einfügend
Sie gänzlich umgestürzt, die Zeit.

Von leblos-hohen Bäumen reißt
Nun ein die dunkle Klöppelspitze –
O Mond, lass sie noch immer blitzen,
Die Sichel, plötzlich schwarz statt weiß!

 

Gedichte aus Heidelberg

Das Gedicht lag in zwei Varianten dem Brief aus Heidelberg vom 30. Dezember 19o9 an Wjatscheslaw Iwanow bei. Es möchte, laut jenem Brief (S. 81) eine „romance sans paroles“ im Sinne der Poetik Paul Verlaines sein. Romances sans paroles (Lieder ohne Worte) war der Titel seines Gedichtbandes von 1874. Mandelstam zitiert in dem Brief Verlaines Gedicht „Dans l’interminable / Ennui de la plaine“ (In der unendlichen / Öde der Ebene / der ungewisse Schnee / leuchtet wie Sand). Zum Einfluss Verlaines vgl. Kommentar zum Gedicht „In ungezwungenem Austausch schöpferisch und frei“ (S. 84f.).
Nach Äußerungen von Scheu und Furchtsamkeit („Windstille meiner Gärten“ S. 43) erstaunt in dem Brief die selbstbewusste Willensäußerung:

Die ,Paroles‘ – d.h. das Intim-Lyrische, Persönliche – habe ich versucht zurückzuhalten, zu bändigen mit dem Zügel des Rhythmus.

Bändigung, Zügelung, nicht lyrischer Erguss oder „Stimmungsbild“ – eine wichtige poetologische Aussage, die bereits auf die anti-symbolistische Poetik der Akmeisten vorausweist. Das Versmaß, der „antilyrische“ Jambus, wird als „Zügel der Stimmung“ gewürdigt.
Zur akmeistischen Ablehnung des Mondes vgl. Kommentar zum Gedicht „Nur sprecht mir nicht von Ewigkeit“ (mit dem Gedichtzitat „Nein, nicht den Mond, ein helles Zifferblatt“, S. 48) und zum Gedicht „Durchs wächsern-helle Vorhangsblatt“ (S. 94f.). Hier jedoch wird der Mond noch direkt angesprochen, ihm wird ein Befehl erteilt oder die Bitte zugerufen, dass er sich nicht verdunkeln soll. Der Betrachter dieses Nachtbildes mit dem erstaunten Blick wird gleichsam zum heidnischen Mondanbeter. Auffällig das textile Bildgefüge, die „dunkle Klöppelspitze“ für die Erscheinung der „Trauerbäume“, vgl. dazu Kommentar zum Gedicht „Feiner Moder, ausgedünnt“ (S. 96).
Keine abgeklärte Naturbetrachtung, sondern ein Bild der Verunsicherung, der radikalen Verwandlung: Die Zeit ist umgestürzt, es kommt zur Verkehrung von Tag und Nacht, und das von den nächtlichen Baumästen suggerierte Spitzenmuster reißt ein, wird beschädigt. Die Dunkelheit nimmt überhand.
Die dem Brief beigelegte Variante für den 5. Vers enthüllt die apokalyptische Furcht des Ich (das hier als Du angesprochen wird):

Der Heiligenbilderschrein des Himmels ist verriegelt.

Die „Boshníza“ – darin verbirgt sich das russische Wort „Bog“ für „Gott“ – bezeichnet ein Regal oder Schränkchen, auf dem oder in dem Heiligenbilder, Ikonen aufgestellt werden. Hier sind die Heiligenbilder weggesperrt, der Himmel verschließt sich, verweigert den Trost.
Der Betrachter mit seinem „Blick von unten“ ist zugleich fasziniert und beängstigt von den Lichtveränderungen am nächtlichen Himmel. Statt Gott und seiner Heiligen nimmt er nur noch Dunkelheit („Da oben – welche Dunkelheit“) wahr. Das vermeintliche Naturgedicht hat theologische Implikationen: Der Betrachter erschrickt über die Abwesenheit Gottes und die wachsende Dunkelheit.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

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