– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Deine fröhliche Zärtlichkeit…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –
OSSIP MANDELSTAM
Deine fröhliche Zärtlichkeit
Verwirrte mich – sag,
Wozu die traurigen Reden,
Wenn die Augen so nah
Wie Kerzen brennen
Am helllichten Tag?
Am helllichten Tag…
Und jene – entlegen –
Einzige Träne nagt
An der erinnerten Begegnung;
Die Schultern neigend, wagt
Leicht sie zu heben – Zärtlichkeit.
Auch eine scheue Liebe ist Thema in den Gedichten des Heidelberger Studenten, behutsame Körperlichkeit, verhaltene Erregung. Mandelstam klagte 1914 Anna Achmatowa gegenüber, dass er keine Liebesgedichte schaffen könne. Erst die kurze Beziehung zu Marina Zwetajewa von Januar bis Juni 1916 wird ihn für dieses Thema öffnen.1 Die Scheu, von der Liebe zu reden, oder gar: die Angst vor der Liebe, zeigt sich im Gedicht „Ich hasse Sternenlicht“ (1912) des Bandes Der Stein:
Erschöpft die Bahn, komm ich
Vielleicht zurück ins Hier –
Denn Liebe: gab’s dort nicht,
Und hier: nur Angst vor ihr…2
Immerhin ist das Liebesthema bereits in den frühen Heidelberger Gedichten angelegt. In der ersten und in der letzten Zeile des Gedichtes erscheint das für Mandelstams Poetik bedeutende Wort „Zärtlichkeit“ oder „Zartheit“ (russisch: nežnost’), das in den Zeiten des russischen Bürgerkrieges 1918 bis 1921 ein Gegengewicht schaffen wird zur grausamen, blutigen Wirklichkeit, in einem berühmten Gedicht von März 1920: „Schwestern: Schwere und Zartheit“, wo das Wort „Liebe“ (oder „Tod“?) ungesagt bleibt:
Ach die Waben, die schweren, die zarten Gewebe,
Jeder Stein scheint mir leichter: dein Name – nichts ist schwerer gesagt!3
Zärtlichkeit und Tod sind bei Mandelstam suggestiv gepaart, „stygische Zärtlichkeit“ (nach dem Unterweltfluss Styx der griechischen Mythologie) beschwören zwei Gedichte der Bürgerkriegszeit.4
Das obenstehende Gedicht steht in Abhängigkeit von einem anderen, die Zärtlichkeit preisenden Jugendgedicht des Jahres 1909, das vermutlich ebenfalls in Heidelberg entstand und das Mandelstam in mehrere Gedichtbände aufnahm (Der Stein, 1916, 1923; Gedichte 1928). Das „Unausweichliche“ mag das von Mandelstam hier entdeckte Prinzip des Weiblichen bedeuten:
Zärtlicher-zärtlich
Ist dein Gesicht,
Und weißer-weiß
Strahlt deine Hand,
Die ganze Welt
Dir fremdes Land,
Das Deine ist –
Vom Unausweichlichen.
Vom Unausweichlichen
Stammt deine Trauer,
Die nicht erkalten
Sind deine Hände,
Was Worte halten
Sind leise Klänge,
Die dir vertrauen,
Der ganze Raum –
In deinen Augen.5
Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016
Schreibe einen Kommentar