– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Der Ort wird leer. Der Abend dauert…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –
OSSIP MANDELSTAM
Der Ort wird leer. Der Abend dauert
Gequält, weil du nicht da bist jetzt.
Statt dass er deinen Mund benetzt
Dampft auf dem Tisch ein Trank und lauert.
Du kommst mit wahrsagenden Schritten
Der Eremitin nicht mehr her;
Und auf das Glas legst du nicht mehr
Ein Muster mit schläfrigen Lippen.
Vergeblich zeichnet, wild sich windend –
Solange er noch immer dampft –
Der lang-geduldige, der Trank
In leere Luft hin seine Linien.
Das Gedicht beschwört am deutlichsten von allen scheuen frühen Liebesgedichten ein Treffen mit einem sehnsüchtig erwarteten, aber abwesend bleibenden weiblichen Du, das trotz Abwesenheit direkt angesprochen wird. Wie das Dekor suggeriert: in einem Café, das wir als Ort des Geschehens annehmen. Das Warten erschafft sich selbst einen Raum, der keinen Namen braucht. Das Paradox der erfüllten Leere findet hier seine Feier.
Der russische Wortstamm „pust-“ für „leer, öde“ findet sich in jeder der drei Strophen. Die rätselhafte, als „Eremitin“ (russ. pustynnica) bezeichnete Abwesende ist diesmal nicht nur durch Finger, Hände, Schultern gegenwärtig, ihre Anwesenheit in der Abwesenheit wird sinnlich durch die Wörter Mund, Lippen, Schritte suggeriert. Das Ich horcht auf ihre „wahrsagenden Schritte“, die also eine Wahrheit enthüllen sollen, doch der lauschende Dichter bleibt allein vor dem dampfenden Getränk, dessen endgültiges Erkalten als Bedrohung im Raum steht. Er ist nicht völlig einsam, solange das Gedicht eine erwünschte Gegenwart zu beschwören vermag. Vielleicht besitzt das Warten eine eigene Seligkeit – im Gedicht.
Henri Bergsons Zeitphilosophie der „reinen Dauer“ (durée pure) kennt Mandelstam seit seinem Aufenthalt in Paris 1907/1908, wo er die Vorlesungen des französischen Philosophen hörte.1 Das Gedicht zeigt einen Augenblick reiner Dauer. Der Dichter versucht beim dampfenden Getränk Geduld zu lernen.
Das Muster, das der Atemhauch auf einem Glas hinterlässt, ist ein wichtiges Bild in Mandelstams frühem Gedicht „Man gab mir einen Körper“ aus demselben Jahr 1909, das er in vier seiner Sammlungen aufnahm (Der Stein 1913, 1916, 1923; Gedichte 1928), von sechs Distichen hier die letzten drei:
Das Glas der Ewigkeit – darauf
Steht meine Wärme und mein Atemhauch.
Ein Muster auf dem Glas, ganz schlicht:
Doch was es meint, erkenn ich nicht.
Mag der Moment der Trübung rasch vergehn –
Das zarte Muster bleibt bestehn.2
Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016
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