– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Nichts, worüber sich zu sprechen lohnt,…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –
OSSIP MANDELSTAM
Nichts, worüber sich zu sprechen lohnt,
Nichts zu lehren gibt es unterm Mond,
Wenn es keinen Sinn im Leben gibt,
Bleibt das Sprechen zwecklos und getrübt.
Bin im Herzen wohl noch ziemlich wild.
Öde die Sprache, die nur als verständlich gilt.
Und so traurig ist sie, dunkel-schön,
Unsere Seele, als ein Tier gesehn:
Nichts will sie uns lehren, niemals, nie,
Immerzu nur sprachlos-stumm ist sie
Und so schwimmt sie, jung, als ein Delphin
Durch den Abgrund grauer Welt dahin.
Das poetologisch bedeutsamste Heidelberger Gedicht. Es gibt ein Autograph Mandelstams, doch Ort und Datum „Heidelberg, Dezember 1909“ sind in einer anderen Handschrift gehalten, wurden vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt auf das Blatt gesetzt. Mandelstam nahm das Gedicht in einer Kurzversion in drei seiner Gedichtbände auf (Der Stein 1916, 1923; Gedichte, 1928), hier die deutsche Übertragung (mit abweichendem Kreuzreim):
Nicht ein Wort ist zu verlieren,
Nichts zu lehren weit und breit –
Schön die Seele, Trauer spürend
Tier ist sie und Dunkelheit:
Keine Lehre will sie ziehn,
Nicht ein Wort, das sie behält –
Jung durchschwimmt sie, ein Delphin
Weiße Schluchten alter Welt.1
Die Anordnung in Distichen mit Paarreim stammt aus der frühen (Heidelberger) Fassung, die Distichen 2 und 3 ließ Mandelstam später in den Gedichtbänden weg. Zu den poetologisch relevanten Aussagen über die Verweigerung der Lehre und des Sprechens sowie über die „Tierseele“ vgl. den Einführungstext „Magie des Anfangs“. Auch die später weggelassenen Distichen haben poetologische Bedeutung, sind eine Infragestellung der von den Symbolisten pessimistisch konstatierten Sinnlosigkeit des Lebens. „Öde die Sprache, die nur als verständlich gilt“ ist ein Bekenntnis zu einer „anderen“ Sprache, der Sprache der Dichtung. Der Vers weist voraus auf das „selige sinnlose Wort“ der Poesie im Gedicht „Petersburg: Es wird uns neu zusammenführen“ (25. November 1920):
Ich brauch keinen Nachtpassierschein, rede
Mir die Angst aus vor den Posten dort,
In der Sowjetnacht werde ich beten
Für das selige sinnlose Wort.2
Der Delphin der Seele wird noch einmal bei Mandelstam auftauchen, in einem seiner letzten Gedichte vom März 1937:
Blaues Töpferreich, Insel der Kreter –
Ihre Gabe, die buken sie hier
In die klingende Erde. Und hörst du noch jenen
Delphin-Flossenschlag tief unter dir?3
In der minoisch-mykenischen und griechisch-römischen Mythologie galt der Delphin als Seelenführer, der die Seelen Verstorbener sicher ins Totenreich bzw. zur „Insel der Seligen“ geleitete.
Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016
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