Ralph Dutli: Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Vom Mond erhellt die Nachtreviere…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Vom Mond erhellt die Nachtreviere…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –

 

 

 

 

OSSIP MANDELSTAM

Vom Mond erhellt die Nachtreviere
Der Feldmaus, die so lautlos geht;
Glashelle Bäume strecken ihre Äste,
von Dunkelheit umweht.

Die Eberesche hebt die Blätter –
Bald tot, was jetzt noch ragt –
Und neidvoll hält sie ihn und bettet
Ihren gehätschelten Smaragd –

Neidet das Los der Heimatlosen
Und das der Kinder, leuchtend zart;
Tausende grüner Finger kosen
Die Vielzahl ihrer Äste hart.

 

Gedichte aus Heidelberg

Ein nächtlicher Blick auf bewegte Bäume, wie ihn auch das Gedicht „Auf dunklen Himmel hingestickt“ (S. 69) zeigt. Aber während dort ein deutliches Ich auf den dunklen Himmel starrt, vollzieht sich hier gleichsam ein inneres Szenario der nächtlichen Natur. Wer nimmt die Eindrücke wahr? Hellhörig muss er sein, wenn er selbst die „lautlose“ Feldmaus auf ihren Wegen hört.
Mäuse haben ein besonderes Schicksal in der Lyrik: Das große Vorbild Alexander Puschkin (1799 bis 1837) beschwor in einem Gedicht von 1830 über seine Schlaflosigkeit das Ticken einer Uhr als das „Mäusegetrippel des Lebens“. Auch bei Mandelstam ist es ein Symbol für die vergehende Zeit, die am Leben nagt, in dem Gedicht „Wenn die Uhr tickt: Grillenlieder“ (Februar 1918) des Bandes Tristia:

Feinen, dünnen Lebensboden
Den durchnagt der Mäusezahn
1

In einem Gedicht von März 1931, „Mitternacht – dann wird das Herz neu zum Räuber“, horcht der schlaflose Dichter auf sein krankes, flatterndes Herz und verschlingt oder verinnerlicht die „silberne Maus“ der Zeit:

Mitternacht – feiert das Herz neu ausschweifend
Nimmt auf die Zähne die silberne Maus
.
2

Lichtquelle ist der Mond, ein konventionelles Motiv, das nur zwei Jahre später von den Akmeisten verworfen wird, vgl. das Gedichtzitat auf S. 48, „Nein, nicht den Mond, ein helles Zifferblatt“. Die „durchsichtigen“ Bäume führen ihr Eigenleben, aber mit markant anthropomorphen Merkmalen: Tausende Finger, die einen Smaragd, einen grünen Edelstein, betasten. Eigenartige botanische Juweliere sind hier am Werk. Sie haben auch seltsam menschliche Gefühle – wie den Neid auf die Wurzellosen, die hingehen können, wohin sie wollen, und die Kinder, denen das Leben noch bevorsteht, während die eigenen Blätter bereits als sterbend bezeichnet werden.
Die Eberesche (russ. rjabina) wächst zwar am Hang des Heidelberger Gaisbergs, doch eher selten. Der Baum kommt aber oft in russischen Gedichten vor, etwa bei Sergej Jessenin und Marina Zwetajewa – er ist geradezu der Baum der russischen Poesie. Vielleicht zeigt sich hier Mandelstams lyrisch-nostalgischer Wunsch, die Hügel um Heidelberg mit seiner russischen Heimat zu verschmelzen.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

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