– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Wenn der Wintermorgen dunkelt still,…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –
OSSIP MANDELSTAM
Wenn der Wintermorgen dunkelt still,
Schaut dein kaltes Fenster unverhüllt
Streng aus wie ein eingefasstes Bild:
Grün der Efeu leuchtend außerhalb,
Unterm Eis-Glas stehen wie gemalt
Stille Bäume da im Futteral –
Vor den Winden allen klar beschützt
Und bei allem Elend doch gestützt
Durch das Astgewirr verflochten jetzt.
Dieses Halblicht, das allmählich strahlt…
Vor dem Rahmen zittert – seidig matt –
Noch ein letztes, allerletztes Blatt.
In Mandelstams Heidelberger Gedichten gibt es den Blick in den Kosmos („Demütige Höhen, hell und weit“, S. 61) wie an den hohen Nachthimmel („Auf dunklen Himmel hingestickt“, S. 69), das obenstehende Gedicht übt sich dagegen in der Beschränkung des Blicks durchs Fenster auf ein stilles, karges, „strenges“ Winterbild.
Der Heidelberger Winter, milder als jener in Mandelstams Heimatstadt Petersburg und als jeder russische Winter, bekommt hier sein schlichtes Abbild. Der Morgen ist dunkel, kein Wort von Schnee. Der winterharte Efeu bietet ein letztes Grün die Bäume stehen in ihrem „Futteral“ aus Eis, sind vor Wind und „Elend“ geschützt, trotz Eis und Kälte in Sicherheit. Das Zimmer ist bewohnt: „dein Fenster“, was allem zum Trotz eine gewisse Behaglichkeit aufkommen lässt.
Am Schluss eine allmähliche Aufhellung des „Halblichts“, doch es erhellt nur ein Bild der Vergänglichkeit, das Gefühl unausweichlicher Letztmaligkeit: das „letzte Blatt“ steht dafür wie der „endgültige Winter“ im Gedicht „Demütige Höhen, hell und weit“. Der Gegensatz von immergrünem Efeu und dem zitternden letzten Blatt eines Baumes verleiht dem Bild seine Spannung.
Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016
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