– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Wie lautlos diese Spindel fliegt…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –
OSSIP MANDELSTAM
Wie lautlos diese Spindel fliegt
Von meiner Hand rasch losgelassen.
Von mir vielleicht belebt? Besiegt?
Verwandelt sich, fließt über, flieht
Als eine Welle, nicht zu fassen –
Die Spindel fliegt.
Alles gleich dunkel, alles gleich
Auf dieser Welt, alles verflochten
Von meiner eignen Hand ganz leicht;
Dreht einsam sich, ununterbrochen –
Sie anzuhalten niemals reicht
Die Kraft aus meiner Hand –
Die Spindel fliegt.
Die Moiren, die drei Schicksalsgöttinnen der griechischen Mythologie, Klotho, Lachesis und Atropos, die den Lebensfaden spinnen, bemessen und abschneiden, sind hier durch ein einzelnes Ich ersetzt, das sich selbst Schicksal wird, indem es die Spindel in Bewegung versetzt und den Faden spinnt, doch die fatale Drehbewegung nicht mehr aufhalten kann. Der Dichter verursacht die Drehung oder den „Vers“ (lateinisch für „Wendung“) und erschafft damit sein Schicksal selbst, dem er unterworfen bleibt. Die Spindel der Poesie ist sein Schicksal. Das Unaufhaltsame meint auch die verrinnende Zeit und die unermessliche Ewigkeit hinter ihr („Nur sprecht mir nicht von Ewigkeit“, S. 49).
Ein Paradox: der Dichter beschwört die „lautlose Spindel“ der Poesie, aber in einer magisch beschwörenden Wiederholung von Lauten und Reimwörtern. Schon der erste Vierzeiler von 1908, den Mandelstam in mehrere Gedichtbände aufnahm (Der Stein, 1916, 1923; Gedichte, 1928), huldigt dem Paradox des „stummen Lautes“, der tönenden Stille:
Der Laut – behutsam, stumm –
Der Frucht, wenn sie vom Baum sich trennt,
Die Melodie der Stille um
Ihn her: der Wälder, ohne End…1
Im vorliegenden Band erklingen die paradoxe „Trommel der Stille“ im Gedicht „Auf dem Altar der Dünung“ (S. 107) und ein überlautes Wiegenlied des Meeres im Gedicht „Zarter Abend. Dämmer, leuchtend“ (S. 121):
Großer Chor, in Schlaf uns singend:
Flöten, Lauten, Pauken schlagen…
In dem Krim-Gedicht „Aus der Flasche ein Strom: wie der goldene Honig“ (August 1917) wird die Stille mit einem „Spinnrad“ verglichen („Und im Zimmer, dem weißen, da steht wie ein Spinnrad die Stille“).2 Nicht nur der junge Mandelstam liebt die Bilder um Weben und Spinnen und mithin die Analogie von „Textil“ und „Text“-Gewebe, denn sie bezeichnen allegorisch die Tätigkeit des Dichtens, z.B. im Gedicht „Tristia“ von 1918:
Ich lieb das Weiterspinnen all der Fäden:
Ein Schiffchen fliegt, und eine Spindel surrt…3
In einem anderen frühen Gedicht von 1909, das im Gegensatz zum obenstehenden in seine Gedichtsammlungen aufgenommen wurde (Tristia 1922; Der Stein 1923; Gedichte 1928), feiert er das Weberschiffchen und das magisch-beschwörende Werk der Hände:
Das Perlmutt-Schiffchen schwimmt davon
Und spannt jetzt seinen Seidenfaden,
O flinke Finger, die da fahren –
Beginnt die zaubrische Lektion!4
Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016
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