Ralph Müller: Zu Jan Wagners Gedicht „herbstvillanelle“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jan Wagners Gedicht „herbstvillanelle“ aus Jan Wagner: Probebohrung im Himmel.

 

 

 

 

JAN WAGNER

herbstvillanelle

den tagen geht das licht aus
und eine stunde dauert zehn minuten,
die bäume spielten ihre letzten farben.

am himmel wechselt man die bühnenbilder
zu rasch für das kleine drama in jedem von uns:
den tagen geht das licht aus.

dein grauer mantel trennt dich von der luft,
ein passepartout für einen satz wie diesen:
die bäume spielten ihre letzten farben.

eisblaue fenster – auf den wetterkarten
der fernsehgeräte die daumenabdrücke der tiefs.
den tagen geht das licht aus,

dem leeren park, dem teich: die enten werden
an unsichtbaren fäden aufgerollt.
die bäume spielten ihre letzten farben.

und einer, der sich mit drei sonnenblumen
ins dunkel tastet, drei schwarzen punkten auf gelb:
den tagen geht das licht aus.
die bäume spielten ihre letzten farben.

 

Die Form der manischen Wiederholung

I.
Als Herbstgedicht steht dieser Text in einer längeren Tradition eines thematischen Genres. Es lohnt sich, diese Tradition zunächst anhand von Beispielen in Erinnerung zu rufen. In willkürlicher Auswahl nenne ich mal: Johann Gaudenz von Salis-Seewis „Herbstlied“ („Bunt sind schon die Wälder…“), Stefan Georges „Komm in den totgesagten park und schau“, Georg Trakls „Verklärter Herbst“ („Gewaltig endet so das Jahr / Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten“), Rainer Maria Rilkes „Herbst“ („Die Blätter fallen, fallen wie von weit…“) und viele andere mehr. Die „herbstvillanelle“ findet in dieser Reihe von Bewährtem und Bekanntem einen ganz eigenen Ton. Das ist typisch für Jan Wagners Verbindung von bisweilen ausgestelltem Traditionalismus und postmodernem Formenspiel. Dem Herbstgedicht, dessen überliefertes Bild- und Ausdrucksinventar über Anthologien und Internetforen erstaunlich lebendig gehalten wird, vermag Jan Wagner neue Gestalt und Ausdrücke abgewinnen. Doch wie gelingt ihm das?
Die „herbstvillanelle“ ist 2001 im Debütband von Jan Wagner, Probebohrung im Himmel, erschienen.1 Bei einem Autor, der 1971 geboren ist, kann man wohl noch von einem Jugendwerk sprechen, auch wenn Thematik oder Bildlichkeit wenig jugendliche Assoziationen wecken. Gerade deshalb ist das Gedicht repräsentativ für die Breite von Wagners Werk, wie noch zu zeigen ist. Anschaulich wird die Stellung des Gedichts dadurch, dass es seither immer wieder veröffentlicht wurde: etwa prominent in der 2016 erschienenen Auswahl eigener Gedichte von Selbstporträt mit Bienenschwarm2 oder an so exklusiver wie abgelegener Stelle im LyrikHeft von 2009.3
Bei diesen späteren Veröffentlichungen wurde die „herbstvillanelle“ jeweils mit wechselnden Gedichten in neue Reihenfolgen gestellt. Dies ist Grund genug anzunehmen, dass das Gedicht aufgrund der Erstveröffentlichung nicht in einer zyklischen Struktur betrachtet werden muss (bei der Erstveröffentlichung am Ende der ersten Sammlung mit dem Titel „In den Jahren vor dem Champagner“). Nicht zuletzt hat sich Wagner im Nachwort von Selbstporträt mit Bienenschwarm aufgeschlossen gegenüber der neuen „Dynamik“ gezeigt, mit der „Gedichte in ein anderes Verhältnis zueinander“ gesetzt werden.4

II.
Der Titel „herbstvillanelle“ ruft zwei verschiedene lyrische Gattungstraditionen auf. Das thematische Genre des Herbstgedichts wurde bereits kurz angesprochen. Der zweite Teil des Titelkompositums verweist auf die Gattung der „Villanelle“, die in diesem Gedicht die Versanordnung und -wiederholung prägt.
Die Villanelle ist eine relativ alte, liedartige Gattung, die aber in der deutschen Dichtung trotz ihres Alters noch nicht ganz heimisch geworden ist. Die charakteristische Wiederholung der Kehrverse (V. 1, 2, 6, 9, 12, 15, 18, 19) könnte deshalb bei manchen Lesern Befremden anstatt Wiedererkennen auslösen. Während die grundlegende Thematik des Spätherbsts intuitiv nachvollziehbar sein dürfte – Verständnisschwierigkeiten ergeben sich erst bei der genaueren Lektüre –, scheint es mir daher angemessen, eine gründliche Analyse zunächst bei der Form anzusetzen. Die inhaltliche Disposition und intertextuellen Zusammenhänge werden danach erläutert.
Der Name des Genres der „Villanelle“ ist etymologisch mit ,villano‘, italienisch für bäuerlichen Dorfbewohner, verwandt.5 In Italien wurden mit dem Namen „villanella“ (neben „villanesca“ oder „villotta“) ab dem sechzehnten Jahrhundert mehrstimmig zu singende, strophische Lieder veröffentlicht, „deren Ton und Vokabular bewußt volkstümlich gehalten waren“.6 Diese Lieder zeichnen sich neben Refrainstrukturen häufig durch ein bäuerlich geprägtes Personal aus, zum Beispiel rustikale Liebhaber, die sich über die Missachtung durch die Geliebte beklagen, bisweilen auf komische Weise.7 Die literarisch nachhaltige Wirkung der Villanelle beginnt in Frankreich Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, wo höfische Poeten anfingen, unter dieser Bezeichnung Gedichte mit Schäfer-Thematik und Refrainstrukturen zu verfassen.8 Damit ist früh ein Kontrast von kunstfertiger Poesie und vorgeblich rustikalem Lied gegeben. Als neunzehnzeilige Form hat sich die Villanelle aber erst später etabliert, wenn auch unter Rückgriff auf eine Villanelle des sechzehnten Jahrhunderts von Jean Passerat (1534–1602). Die Aufwertung allein der Passeratschen Villanelle („J’ay perdu ma tourterelle“ / „Ich habe mein Turteltäubchen verloren“) zum exemplarischen Beispiel der Gattung hat sich, wie man seit einigen Jahren hervorhebt, erst im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich vollzogen.9 Es gab zu diesem Zeitpunkt unter den Texten, die als „Villanellen“ bezeichnet worden waren, noch nicht viele Beispiele für die Passeratsche Form. Dennoch hat Theodore de Banville im Petit traité de poésie française (1872) anhand von Passertas Vorbild die Form der Villanelle normativ festgelegt.10 Nunmehr sollte die Villanelle zum einen nur aus zwei Reimen bestehen, die sich nach einer bestimmten Abfolge auf Terzette und einem abschließenden Quartett verteilen, und zum anderen mussten zwei komplette Verse (d.h. Kehrverse) an bestimmten Positionen des Gedichts wiederholt werden.11 Im Prinzip hatte Banville die Anzahl der Terzette nicht festgelegt, aber die neunzehnzeilige Struktur der Villanelle mit fünf Terzetten und einem Quartett hat sich seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts als kanonische Form durchgesetzt.12 Ebenso festgelegt war das rigide Reimschema, bei dem das erste Terzett die Form des Gedichts in mehrfacher Hinsicht bestimmt: Alle Terzette wiederholen im ersten und dritten Vers denselben Endreim mit klingender Kadenz. Die mittleren Zeilen reimen sich jeweils mit stumpfer Kadenz. Diese Reimstruktur wird verstärkt durch die charakteristischen wiederholten Kehrverse: Der erste Vers des ersten Terzetts kehrt komplett am Ende des zweiten und vierten Terzetts wieder, der dritte Vers des ersten Terzetts am Ende des dritten und fünften Terzetts.13 Das abschließende Quartett greift in den ersten zwei Zeilen nochmals die Struktur der alternierenden Reime auf, darauf folgen abschließend die zwei Kehrverse aus dem ersten Terzett. Das bedeutet also, dass bei einer formstrengen Villanelle neun von neunzehn Versen vorgegeben sind. Das ist eine beeindruckende Wiederholungsdichte. Das Reimschema sieht dann folgendermaßen aus, wobei die einzelnen Buchstaben gleichlautende Endreime, die Buchstaben mit Nummern die Kehrverse (identische Wiederholungen ganzer Verszeilen) symbolisieren: a1/b/a2 // a/b/al // a/b/a2 // a/b/a l // a/b/a2 // a/b/a1/a2.
Wenn man wenig von dieser Erklärung der Villanelle verstanden hat, dann ist das nicht ungewöhnlich. Schon Oskar Pastior hat festgestellt:

Der Aufwand, die Exzentrizitäten einer Villanella zu beschreiben, ist lächerlich und im Wortgekröse ungenauer als die Lektüre eines ihrer Exemplare.14

Die Beschreibung einer Villanelle erscheint ziemlich überflüssig. Und es kommt noch schlimmer. Mit Blick auf Wagners „herbstvillanelle“ hätte man sich, wie es scheint, diese aufwändige Rekonstruktion der strengen Form sogar sparen können. Augenscheinlich entspricht Jan Wagners „herbstvillanelle“ nämlich nicht dem formstrengen Muster, wie es von de Banville vorgeschrieben und in der Nachfolge aufgegriffen wurde. Insbesondere die Reimform fehlt. Sie wurde nicht einmal mithilfe von Lautähnlichkeiten oder Assonanzen nachgebildet, die an Reime erinnern. Solche Lautverbindungen wären, wenn man die Gedichte von Wagner kennt, durchaus eine Option gewesen (etwa im Sonett „die tümmler“15 mit reimartigen Verbindungen zwischen „motor“ und „mütter“ oder „fjord“ und „fahrt“), Aber nur „farben“ (zweiter Kehrvers) und „karten“ (V. 10) und „minuten“ und „blumen“ (V. 2 und 16) etablieren schwache Klangähnlichkeiten, ohne eine Systematik anzudeuten. Insgesamt sind aber sogar die Kadenzen im Versausgang frei gestaltet. Bei der Metrik fällt immerhin eine Tendenz zu einer vier- bis fünfhebig alternierenden Versgestaltung, hauptsächlich im Jambus, auf. Dennoch bildet die formstrenge Villanelle den intertextuellen Hintergrund dieses Textes, sodass ich später nochmals darauf zurückkommen werde.
Was aber die Formanleihen der „herbstvillanelle“ betrifft, kann Folgendes festgehalten werden: Von den komplexen Wiederholungs- und Klangstrukturen der formstrengen Villanelle wurden lediglich der Umfang mit neunzehn Zeilen, die Gliederung in fünf Terzette und ein Quartett sowie die Kehrverse übernommen.

III.
Wie aber geht Wagner mit den inhaltlichen Vorgaben der Gattung um? Die Villanelle weist sich ja, wie oben ausgeführt, zumindest etymologisch als volkstümlich-rustikal aus. Wer aber auf dieser Grundlage einen herbstlichen Gesang mit bäuerlichen Genrebildern erwartet, sieht sich getäuscht. Ländliche Bezüge, etwa die gerade bei Herbstgedichten naheliegenden Klischees bunter Wälder und reifer Früchte, sind in diesem Gedicht dünn gesät. Mit „fernsehgeräte“ (V. 11) und „park“ (V. 13) wird eher ein urbaner Raum angedeutet. Ein Bezug auf eine urban-kultivierte Landschaft ist nicht völlig neu im Herbstgedicht. Georges Gedicht lädt in den „totgesagten park“ ein und auch die ,unbehausten‘ Figuren in Rilkes „Herbstgedicht“ „wandern“ nicht im Wald, sondern in „Alleen“.16 Auch Wagners Personal erweist sich als nicht sonderlich bäuerlich, sondern bleibt weitgehend unbestimmt: ein angesprochenes Du im grauen Mantel (V. 7) und „einer“, der sich ins Dunkel tastet (V. 16f.).
Überhaupt fällt die ungastliche Atmosphäre der Szenerie auf. Der Herbst ist in diesem Fall nicht die goldene und farbige Periode der Ernte und der letzten Wärme. Es ist bereits Spätherbst, die Tage sind dunkel, die Stunden sind (,gefühlt‘?) verkürzt und die Bäume farblos.
Werfen wir einen Blick auf die Struktur und Gliederung des Gedichtinhalts: Die Auswahl und Anordnung der Herbsterfahrungen sowie die Perspektive der Äußerungsinstanz scheint einer gewissen Willkür zu unterliegen. Man hat nicht den Eindruck, eine geschlossene Situation liege vor, sondern eher denjenigen, einen Bilderbogen vor sich zu haben, der unterschiedliche Situationen oder Ansichten ohne Überleitung aneinanderreiht.
Die ersten Terzette scheinen jedoch auf bestimmte Thematiken festgelegt zu sein. Ein Großteil der Aussagen wird mit einer einfachen setzenden Syntax behauptet, sodass die angesprochenen Erfahrungen einen bemerkenswerten Verallgemeinerungsanspruch erheben. Dies gilt insbesondere für das erste Terzett, das ziemlich allgemeine Aussagen über die herbstliche Welt macht. Entsprechend der Struktur der Villanelle werden zwei Zeilen aus diesem ersten Terzett regelmäßig wiederholt, sodass die Erfahrung zunehmender Dunkelheit und der Farbverlust der Bäume nachdrücklich, fast aufdringlich immer wieder in den Vordergrund gestellt wird.
Das zweite Terzett verbindet Meteorologie mit einer Bühnenmetapher der inneren Befindlichkeit. Diese Befindlichkeit ist aber nicht Ausdruck individuellen Empfindens, die Aussage wird allgemein verbindlich und dennoch leicht ironisch „für das kleine drama in jedem von uns“ (V. 5) formuliert. Es ist bemerkenswert, dass der Bezug auf Individualität und Subjektivität konsequent vermieden wird. So geht es eben nicht um das „kleine drama in mir“, sondern „in jedem von uns“. Die konsequente Verallgemeinerung der Aussage jenseits des historisch biographischen Interesses an bestimmten Umständen hat Wagner verschiedentlich mit Nachdruck vertreten. In einem 2006 erschienenen Aufsatz hat Wagner den von Friedrich Schiller in der Bürger-Rezension zum Ausdruck gebrachten Anspruch, der Dichter habe „von seiner noch so sehr geliebten Individualität in einigen Stücken Abstand zu nehmen“, sehr wohlwollend behandelt.17 Dieses Wohlwollen ist insofern erstaunlich, als idealistische Lyrikkonzeptionen des 19. Jahrhunderts seit geraumer Zeit eher kritisch behandelt werden.18 Nun dürfte es Wagner nicht um eine Rettung solcher Konzeptionen gehen, sondern hauptsächlich um die Anweisung, die Texte allgemein zu verstehen.
In dem darauffolgenden dritten Terzett tritt, wie bereits oben erwähnt, eine überraschende Anrede an ein Du auf (V. 7), das aber nicht näher bestimmbar ist. Wagner vertritt aber auch explizit die Position, dass lyrische Aussagen nicht mit der Neugier nach biographischen Umständen verfolgt werden sollten. So habe er „nicht existierende Familienmitglieder“ wie Tante Mia in seine Gedicht eingeschleust, um den ,unstillbaren Wunsch‘ nach einem Blick „auf das wahre Leben hinter den Versen“ zu hintergehen.19 Man sollte sich also hüten, Wagners Gedichte zu referenzialisieren, d.h. zu den Elementen der Textwelt des Gedichts vorschnell konkrete Entsprechungen in der realen Welt zu suchen. Dagegen spricht nicht zuletzt, dass die Bezüge innerhalb der Textwelt selbst unterdeterminiert sind. So könnten „dein“ und „dich“, im Sinne eines Selbstgesprächs, auf die Äußerungsinstanz selbst verweisen. Es wäre ebenso denkbar, das dritte Terzett als fiktive Anrede an eine Figur oder gar als Leseranrede zu verstehen (zumal wenn man den grauen Mantel und dessen Trennwirkung zur Luft uneigentlich als Ausdruck der Abgrenzung oder im weitesten Sinne als ,Isolation‘ versteht). Eine nichtreferenzielle Lesart suggeriert auch der nachfolgende Vers (V. 8): Als „passepartout“ bietet Vers 7 eine ,Einrahmung‘20 für den in Vers 9 aufgrund generischer Regeln wiederholten Satz „die bäume spielten ihre letzten farben“. Die kurze Anrede an das Du erweitert sich in diesem Fall zur selbstbezüglichen Aussage über die Wiederholungsstruktur der Villanelle. Ein Passepartout als Teil des Bildrahmens kann fast mit einer beliebigen Ansicht unterlegt werden, im Text der Villanelle ist aber an dieser Stelle die Wiederholung des zweiten Kehrverses vorgesehen.
Das vierte und fünfte Terzett sind durch ein Enjambement verbunden, die Zeilen entwerfen aber unterschiedliche, fast disparate Ansichten. Die „eisblaue[n] fenster“ (V, 10) lassen auf den optischen Eindruck von Fernsehgeräten zurückführen, die „daumenabdrücke“ (V. 11) auf die Darstellung von Isobaren meteorologischer Karten. Die Wahrnehmung der blau erleuchteten Fenster setzt eine Wahrnehmung außerhalb der Gebäude voraus, wohingegen die Wahrnehmung der Wetterkarten auf den Fernsehern einen Blick hinein impliziert. Die im vierten Terzett wiederholte Zeile „den tagen geht das licht aus“ (V. 12) eröffnet bereits einen neuen Zusammenhang für das darauffolgende Terzett. Syntaktisch wird diese Kehrzeile auf den leeren Park und den Teich ausgeweitet, denen ebenfalls das Licht ausgeht. Die im Teich aufgereihten Enten, aber auch die Bäume, die ihre letzten Farben gespielt haben, können hier im Parkzusammenhang betrachtet werden.
Durch seine Form ist das abschließende Quartett von den übrigen Terzetten abgehoben. Diese besondere Form ergibt sich unter anderem dadurch, dass beide Kehrverse wiederholt werden. Konfrontiert werden diese beiden Zeilen mit dem Auftritt einer weiteren Figur:

und einer, der sich mit drei sonnenblumen
ins dunkel tastet, drei schwarzen punkten auf gelb
(V. 16f.).

Auch hier ist die Referenz strategisch offengehalten. Drei Sonnenblumen, die an und für sich im Sommer blühen, scheinen keine gute Vorbereitung auf die Zeit der Dunkelheit zu sein, jedenfalls bieten sie keine Sehhilfe im Dunkeln. Durch das Tragen von „drei schwarzen punkten auf gelb“ (V. 17) könnte man die „drei sonnenblumen“ (V. 16) nicht nur als Inbegriff einer Sommerblume, die im Herbst aber allenfalls verblüht und geschwärzt anzutreffen ist, sondern auch als Symbol der Armbinde eines Blinden verstehen. Eine solche Metapher der Blindheit passt zum Verlust der Farbe und des Lichts.

IV.
Eine Frage, die von der jüngeren Lyriktheorie wieder mit größerer Aufmerksamkeit behandelt worden ist, betrifft den Status der Äußerungsinstanz im Gedicht. Dabei ist insbesondere gefragt worden, ob diese Instanz in jedem Fall ein fiktives Geschöpf des Textes ist – beziehungsweise in welchem Ausmaß der Autor als Äußerungsinstanz betrachtet werden kann.21 Wem können also die Worte in diesem Gedicht zugeschrieben werden?
Wagner selbst hat einmal explizit von einem ,Maskenball‘ des Poeten gesprochen22 und dabei auf die Gemeinsamkeiten zwischen seiner eigenen Persönlichkeit und seinen offenkundig fiktiven Dichter-Figuren im Gedichtband Die Eulenhasser in den Hallenhäusern (2012) hingewiesen. ,Maskenball‘ erinnert an den in der Lyriktheorie vereinzelt verwendeten Begriff der ,Persona‘, dem lateinischen Wort für die Schauspielermaske.23 Bei einer Persona, so könnte man sagen, äußert sich der Autor durch die Maske einer fiktiven Rollenidentität, ohne bei dieser Äußerung mit sich selbst identisch zu sein (das steckt auch in der wortwörtlichen Bedeutung des lateinischen Verbs ,personare‘ im Sinne von ,durchtönen‘). Diese Konstellation dürfte mit großer Gewissheit bei Jan Wagners fiktivem Dichter Anton Brant24 vorliegen. Aber aus produktionsästhetischer Sicht scheint es doch ein fundamentaler Unterschied zu sein, ob ein Gedicht einem fiktiven Dichter wie Anton Brant zugeschrieben wird oder Jan Wagner direkt als Autor für die Form einsteht. Angemessener wäre es wohl, bei der Äußerungsinstanz der „herbstvillanelle“ von einer referenziellen Unterbestimmtheit zu sprechen. Es wäre also denkbar, dieses Gedicht einer Äußerungsinstanz zuzuschreiben, die sich nach dem Muster des Lyrischen Ichs25 durch eine Leer-Deixis26 auszeichnet. Das bedeutet, die Position der Äußerungsinstanz könnte nicht nur vom Autor, sondern einem beliebigen Sprecher eingenommen werden.
Die Frage nach dem Status der Äußerungsinstanz im Gedicht sollte aber auch im Hinblick auf den Gedichtinhalt erörtert werden. Tatsächlich wurde bereits festgestellt, dass die Aussagen zu einem großen Teil von allgemein beschreibender Art sind. Dies könnte man als ein Argument dafür auffassen, dass das Gedicht gerade wegen der Allgemeinheit der Aussagen nicht fiktional verstanden werden muss. Das heißt nicht, dass wir in der Biographie von Jan Wagner nach den entsprechenden ,Erlebnissen‘ suchen sollten, die sich vielleicht auf eine Person beziehen, die sich „mit drei sonnenblumen / ins dunkel tastet“ (V. 16f.). Ebenso wenig sind wir aufgefordert, an einen bestimmten Herbst zu denken (nach dem Muster ,Spätherbst 1999, ich erinnere mich: sehr garstiges Wetter‘). Vielmehr wird uns, wie es Jonathan Culler formulieren würde, etwas Allgemeines über unsere Welt (oder wenigstens über den Herbst überhaupt) mitgeteilt.27 Jedenfalls passen die Aussagen wenig zur Rezeptionshaltung, die als neutral für die „Fiktionalitätsinstitution“ erachtet wird, nämlich keine unmittelbaren Schlüsse „auf das Vorliegen von Sachverhalten in der Wirklichkeit“ vorzunehmen.28 Gewiss, man könnte das Gedicht als Einladung auffassen, sich vorzustellen: ,ein Herbst, den Tagen geht das Licht aus….‘ Mit der Evokation einer fiktionalen Welt scheint mir aber die Leistung des Gedichts ungenügend erfasst. Bei aller Subjektivität des Ausdrucks haben wir es eher mit einer Darstellung allgemeiner Erfahrungen zu tun. Man könnte also sagen, dass das Gedicht uns einlädt, etwas zu erkennen oder wiederzuerkennen. Die Allgemeinheit der Aussagen verstärkt den Eindruck, dass es hier um eine Äußerungshaltung geht, die im Hinblick auf Herbsterfahrungen eingenommen werden kann. Die Angaben sind dabei so vage, dass man schwerlich eine fiktive Persona daraus konstituieren könnte, deren Gestimmtheit und Rollen-Biographie Gegenstand unserer Spekulationen werden sollte.
Dennoch gibt es in diesem Gedicht auch subjektivere Aspekte. Dazu gehört insbesondere die Insistenz, mit der – villanellen-typisch – Beobachtungen wiederholt werden. Wie Pia-Elisabeth Leuscher bereits festgestellt hat, eignet sich die Form der Villanelle insbesondere „zur Darstellung eines obsessiven Gedankens“.29 Dafür ist auch das vorliegende Gedicht beispielhaft, indem die Rede in manischen Zirkeln auf die unangenehmen Begleiterscheinungen des Herbsts zurückkommt. Prominent wird im Gedicht wiederholt, dass die Tage weniger Licht und die Bäume ihre letzten „farben“ ausgespielt haben. Bei den Bäumen immerhin ein Anklang an das bunte Herbstlaub traditioneller Gedichte, wenn auch im Modus der Vergangenheit: zum Zeitpunkt der Gedichtrede haben die Bäume – es ist die einzige Zeile im Präteritum – ihre letzten Farben längst gespielt, sie bieten also keinen farblichen Kontrast mehr zu den eisblauen Fenstern (V. 10).
Man könnte sich eine ,manisch-neurotische‘ Äußerungsinstanz vorstellen, die all diese Beobachtungen wiederholt zum Ausdruck bringt. Diese manische Fixiertheit muss man selbstverständlich nicht biographisch begründen, sie ist nicht zuletzt Resultat der gewählten Form. Natursujets, die spätestens seit den Regentonnenvariationen (2014) stark mit Wagner in Verbindung gebracht werden,30 sind in diesem Gedicht auffällig abwesend oder denaturalisiert, genauer gesagt: verdinglicht oder vermenschlicht. Die Bäume erscheinen wie Menschen, die sich beim Kartenspiel ,verzockt‘ haben, die Meteorologie wird mit dem Wechseln von Bühnenbildern verglichen, und die Äußerungsinstanz nimmt das Wetter medial vermittelt auf Fernsehgeräten wahr. Die Enten erscheinen wie an Fäden aufgezogene Gegenstände. Sogar die „sonnenblumen“ (V. 16) könnten lediglich Metaphern für die Kennzeichnung von Blindheit sein. Der Verlust des Lichts findet seine Entsprechung in einer erstarrenden Umwelt. Dies bildet einen deutlichen Kontrast zu herbstlichen Naturbildern, die man in dieser Gattung allenfalls erwarten könnte. Damit ist Wagners „herbstvillanelle“ aber nicht weniger ,natürlich‘ als andere Villanellen, wie ein Blick in die Tradition dieser Gattung zeigt.

V.
Das Gedicht „herbstvillanelle“ weist Wagners ausgeprägtes Interesse für die kunstvolle Verarbeitung traditioneller Gedichtformen aus. Dieses Interesse zeigt sich in seinem Werk an der Reihe anspruchsvoller Strophenformen. So zeigt das Gedicht „anna“31 eine Auseinandersetzung mit der komplexen Wiederholungsstruktur der Sestine,32 aber auch die Sonette,33 wie zum Beispiel „giersch“34 oder die Annäherung an die Terzinenform in „versuch über mücken“,35 lassen sich hier erwähnen. Nicht zuletzt hat Wagner in einem Aufsatz bekräftigt, dass das Spiel mit der Form in der Suche nach einer einzigen für ein Gedicht bestimmten „Formel“ kulminiere:

In jedem Gedicht ist so neben dem Widerspruch auch der Bannspruch enthalten, der Zauberspruch, die Beschwörungsformel, die nur in ihrer einen, dem Eingeweihten bekannten Form Wirkung zeigt. Nicht nur das mot juste, auch die forme juste ist entscheidend.36

Die Formulierung klingt ein wenig nach einer von metaphysischen Vorstellungen durchsetzten Poetik in postmoderner Nachfolge von Eichendorffs „Wünschelruthe“ („Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort“).37 Nur muss hier das Zauberwort auch noch in der richtigen Form erscheinen. Das Gelingen eines Gedichts wird auf diese Weise als einzigartiger Treffer inszeniert. Die dichtungspraktischen Schlussfolgerungen sind aber konkret: Die Bedingungen, unter denen Form und Inhalt zusammenfinden, wechseln radikal mit jedem Gedicht. Die Verbindung von mot juste und forme juste ist also kein uneingeschränktes Bekenntnis zum Formenzauber oder zum ,Formalismus‘, vielmehr eine Aufforderung zur jeweils produktiven Auseinandersetzung mit den Grenzen etablierter Formen:

Das Wissen um die Eigenarten dieser alten Formen erweitert den gestalterischen Freiraum, wenn man sie nicht als Alternative zur freien Form, zum freien Rhythmus oder zum vers libre auffasst, sondern als Ergänzung versteht. […] Wieso den jeweils ganz eigenen Ausdruck einer Form links liegen lassen, wieso beispielsweise auf das Spiel der Zweireimigkeit und die auf die Spitze getriebene Wiederholung zweier Zeilen, wie sie bei der Villanelle auftreten, verzichten, wenn es sich als formale Lösung für ein Gedicht anbietet oder sogar aufdrängt?38

Hier ist es also explizit: Die Form der Villanelle bzw. Formaspekte dieser Gattung, namentlich die Wiederholung, drängte sich genau für dieses Gedicht auf.
Zur Aufnahme einer alten Form gehört auch die Auseinandersetzung mit ihrer Literaturgeschichte. Wir haben bereits gesehen, dass Wagner Formaspekte der Villanelle aufgreift, die exzessiven Anforderungen des Endreims aber zum Beispiel übergeht. Wie stark setzt er sich auf diese Weise von der deutschsprachigen Tradition ab? Die Frage kann tatsächlich kaum beantwortet werden, denn die formstrenge Villanelle kommt im deutschen Sprachraum nur in wenigen Beispielen vor. Es fällt sogar schwer, von einer Tradition zu sprechen, auch wenn der kurz vor Wagners Debüt erschienene Gedichtband Villanella & Pantum (2000) von Oskar Pastior39 mit über vierzig Villanellen mithelfen könnte, eine solche endlich zu etablieren. Die intertextuellen Vorbilder von Wagner müssen aber nicht unbedingt in der deutschsprachigen Literatur gesucht werden. Für den studierten Anglisten Wagner dürfte vor allem die Tradition der Villanelle aus dem englischsprachigen Raum relevant sein, wo Gedichte in der strengen Form der Villanelle von der thematischen Breite und Suggestionskraft der Gattung zeugen. Die Kunst des Verlierens – genauer gesagt: der Umgang im Verlust – thematisiert zum Beispiel Elizabeth Bishops „One Art“ (1976).40 Der Ton jener Villanelle klingt zunächst beiläufig („The art of losing isn’t hard to master“); das ,Meistern‘ des Verlierens und der strengen Gedichtform in fast umgangssprachlicher Wortwahl (mit villanellen-typischer Wiederholung der Reimwörter, allerdings ohne komplette Kehrverse) wird aber durch das wiederkehrende „disaster“ konterkariert. So scheint die Form dem leichten Ton des Gedichts entgegenzuwirken und ihn zu hintergehen, gerade mit der Wiederholung von „master“ und „disaster“. Das Beispiel von Bishop zeigt, dass Wiederholung in der Villanelle kein Ausdruck von Verspieltheit sein muss. Die Wiederholung hat auch Zwanghaftes, und in der englischsprachigen Tradition finden sich verschiedene Beispiele, die eine manisch-neurotische Fixiertheit einbringen. Zu dieser Einschätzung der Form dürfte die Tatsache beitragen, dass bekannte Verfasserinnen und Verfasser von Villanellen wie Sylvia Plath („Mad Girl’s Love Song“) und Dylan Thomas („Do not go gentle into that good night“) sich durch einen spektakulären Lebenswandel auszeichneten.
Unter den englischsprachigen Villanellen verdient insbesondere Dylan Thomas’ Villanelle „Do not go gentle into that good night“41 Aufmerksamkeit, nicht nur, weil es vermutlich über den englischen Sprachraum hinaus die bekannteste Villanelle ist, sondern auch, weil in Wagners „herbstvillanelle“ die Zeile „den tagen geht das licht aus“ wie ein Echo von Thomas’ Kehrvers „Rage, rage against the dying of the light“ klingt. Die Gemeinsamkeiten sollten aber nicht überstrapaziert werden. Bei Wagner müssen die Tage am Ende des Jahres mit einem schmaleren Licht-Budget zurechtkommen, das ist zweifellos eine weniger drastische Metapher als das Sterben des Lichts bei Thomas. Zudem ist Dylan Thomas’ Villanelle kein Herbstgedicht, vielmehr eine wütende Anklage gegen das Sterben:

Old age should burn and rave at close of day (V. 2).

Aber der Bezug zu Dylan Thomas macht auf ein wiederkehrendes Thema von Herbstgedichten aufmerksam: Herbst ist die Jahreszeit des vergehenden Jahres, des Niederganges und des Endes. Bei Wagner ist zwar nicht die Rede vom Tod, aber der Verlust von Farbe und von Licht ist allgegenwärtig und wird begleitet von zunehmender Kälte und Dunkelheit. Sogar die Enten im leeren Park erscheinen wie leblos aufgereihte Objekte. Diese Entwicklung erscheint final: Während die Bäume ihre letzten Farben gespielt haben, den Tagen das Licht ausgeht und die Welt in Kälte erstarrt, verweist nichts auf einen Frühling mit neuem Grün und länger werdenden Tagen. Das sind keine guten Aussichten.
Der herbstliche Niedergang ist vielleicht keine naheliegende Thematik für das Debüt eines noch jungen Dichters. Bis zu einem gewissen Grad haben wir es in diesem Fall aber auch mit einer produktiven Wirkung der Form zu tun. Die Wiederholungsstrukturen der Villanelle bieten sich als Form an, um kreisende Gedankengänge darzustellen, und zugleich produzieren diese Strukturen manische Wiederholungen, die die Erfahrung einer Herbstdepression so wirkungsvoll suggerieren. Wie eine Schlagermelodie, die uns verfolgt, demonstrieren die Kehrreime, dass es Zeilen sind, die nicht mehr aus dem Sinn wollen: „den tagen geht das licht aus“, „die bäume spielten ihre letzten farben“.

Ralph Müller, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017

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