– Zu Paul Éluards Gedicht „Die Schafe“ aus dem Sammelband Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919–1939. –
PAUL ÉLUARD
Die Schafe
Schließe die Augen schwarzes Gesicht
Schließe die Gärten zur Straße
Die Intelligenz und die Kühnheit
Der Verdruß und die Stille
Die ewig tristen Abende
Das Glas und die Glastür
Behaglich und empfindlich
Unbedeutend und der Obstbaum
Der Blumenstrauch und der Obstbaum
Fliehen.
Übersetzung Rammon Reimann
Eugène Emile-Paul Grindel (1895–1952), der sich Paul Éluard nannte, schrieb „Les moutons“ während seiner surrealistischen Schaffensphase. Der Begriff ,Surrealismus‘ [Überrealismus] war 1917 von Guillaume Apollinaire geprägt worden. Konstituiert hatte sich die Gruppe der surrealistischen Dichter aber erst 1924. Neben dem Modell der Hegelschen Triade (These – Antithese – Synthese) kommt der Traumdeutung des Wiener Arztes Sigmund Freud innerhalb der surrealistischen Ästhetik besondere Bedeutung zu.
In dem Aufsatz „Das Ich und das Es“ (1923) hatte Freud das sogenannte Instanzenmodell erläutert. Danach besteht die menschliche Psyche aus dem Ich, dem Es und dem Über-Ich. Das Ich beschrieb Freud als die teilweise bewußt operierende Instanz der Realitätsprüfung, das die aus dem Es, den Trieben, drängenden Impulse kontrolliere und zensiere. Das Ich zeichne somit verantwortlich für die Verdrängungen. Die sozialen Normen und Wertmaßstäbe, die für die zur Verdrängung führenden Zensurleistungen des Ich maßgeblich seien, bezeichnete Freud als das Über-Ich. Im Traum wirkten die Triebe (Es) und die Normen und Wertmaßstäbe (Über-Ich) ungehemmt auf das Ich ein. Das Ich ist gleichsam Spielball von Es und Über-Ich. Für den Neurosearzt bildet der Traum dadurch die Grundlage psychischer Heilung.
Sich auf diese Lehre berufend, lehnten die Surrealisten die Logik, das ewige Zwei-mal-zwei-ist-vier, als Erklärungsmodell für die Welt ab, deren Rationalität soeben in einem verheerenden Krieg ad absurdum geführt worden war. Anstelle von Welterkenntnis rückten sie das Individuum programmatisch in den Mittelpunkt ihrer Dichtung. „Alles, was nicht Ich ist, ist unverständlich“, schrieb Louis Aragon 1922.
Als erklärtes Ziel galt, Traumzustände zu evozieren, um mit Hilfe der „écriture automatique“ [automatische Schreibweise] der Lösung grundlegender Lebensfragen jenseits aller Rationalität auf die Spur zu kommen. André Breton, das Haupt der surrealistischen Bewegung, postulierte 1924 im ersten „Manifest des Surrealismus“:
Ich glaube an die zukünftige Lösung dieser beiden scheinbar so gegensätzlichen Zustände, Traum und Realität, an eine Art von absoluter Realität, von Surrealität, wenn man so sagen kann.
Als Aufforderung zum Schlaf, der Voraussetzung des Traumes, kann auch das Gedicht „Les moutons“ interpretiert werden. Der Titel läßt eine Vielzahl von Assoziationen zu. Durch die Rolle des Agnus dei, des heiligen Lammes, in der christlichen Mythologie und die Beziehung der Schafe zum Jesuskind kann das Schaf in Verbindung mit der Reinheit, dem Göttlichen gebracht werden.
„Revenons à nos moutons“ [Kehren wir zu unseren Schafen zurück] ist ein französisches Sprichwort, das jenen, der in seiner Rede vom Wesentlichen abschweift, auf dasselbe zurückstoßen soll.
Das eigentliche Thema ist für den surrealistischen Dichter das Individuum in seiner Einsamkeit, wo nichts und niemand von der Selbstbetrachtung ablenkt, die sich im Traumschlaf vollzieht, in dem auch Halluzinatorisches und Wunderbares ihren Platz haben. In Fieber- und Rauschgiftträumen treten häufig Schafe auf, was zuletzt 1979 von Roger Waters in „Comfortably Numb“ [Behagliches Zimmer] glaubwürdig verarbeitet wurde (vgl. Pink Floyd: The Wall. Side 3).
„Schließe die Augen“ lautet denn auch der Imperativ des offenbar mit sich selbst kommunizierenden lyrischen Subjekts im ersten Vers des Gedichts. Angesprochen wird ein „schwarzes Gesicht“. Sofern der Titel mit dem ,schwarzen Gesicht‘ korrespondiert, bedeutete dies eine Anspielung auf das schwarze Schaf, den Außenseiter, der aufgrund seiner Verschiedenheit von der Masse auf das eigene Ich geradezu zurückgeworfen ist.
Die Einsamkeit galt den Surrealisten als Alternative zur fragwürdigen Geschäftigkeit der äußeren Realität, die nur Zwänge und innere Leere erzeuge. Anicet, der Held eines surrealistischen Romans von Louis Aragon („Anicet ou le Panorama“, 1921), belegt das exemplarisch, indem er eine öde Gefängniszelle mit seinen Gedanken bevölkert und belegt:
Um freier als meine Gefängniswärter zu sein, brauchte ich mich nur von der Zeit oder dem Raum zu abstrahieren, zog es jedoch vor, diese Einsperrung für neue geistige Ausbrüche zu nutzen. (Louis Aragon: Anicet oder das Panorama. Roman. Berlin 1978)
Um mit der Außenwelt nicht in Berührung zu kommen, sind auch „die Gärten zur Straße“ zu schließen.
Ein Stück äußerer Absonderung von der Realität ist nach dem zweiten Vers bereits vollzogen. Damit werden auch geläufige Werte wie „Intelligenz“ und „Kühnheit“ „unbedeutend“, bedeutungslos, fallen „Verdruß“ und „Stille“ vom Individuum ab wie die „ewig tristen Abende“.
„Das Glas und die Glastür“ sind Metaphern für Zerbrechlichkeit, aber auch für Sicht und Aussicht, was bedeuten könnte, daß das sich im behaglichen Raume befindende Individuum die Augen wieder geöffnet hat.
Als Zusammenhang ist „empfindlich“ „unbedeutend“ zu lesen; im Französischen kennzeichnet die Konjunktion ,et‘ [und] stets einen Einschnitt, der stärker ist als die Zäsur zwischen den offensichtlich im Enjambement stehenden Versen 7 und 8. Syntaktisch bezieht sich ,empfindlich unbedeutend‘ auf die Verse 3 bis 6.
Abrupt wendet sich der Betrachter, der bei dem Blick durch die Scheibe der Glastür Obstbäume und einen Blumenstrauch sieht, davon ab:
[…] der Obstbaum
Der Blumenstrauch der Obstbaum
Fliehen.
Sie huschen vorbei im Zuge des raschen Abwendens, wie Bäume und Sträucher beim Blick aus dem Fenster eines rollenden Fahrzeuges gleichsam fliehen.
Abgewandt von der Glastür, den Blick bestenfalls auf das bekannte Mobiliar, wenn nicht auf eine kahle Wand gerichtet, kann der Übergang von der Realität zum Traum jetzt endgültig vollzogen werden.
Der abschließende Punkt des Schlußverses, das einzige Interpunktionszeichen des Gedichts, bekräftigt die Vollendung der Abgrenzung von der Außenwelt. Bei einem neuerlichen Öffnen der Augen stünde keinerlei störende Ablenkung mehr zu befürchten…
Rammon Reimann, aus Peter Geist, Walfried Hartinger u.a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne, Volk und Wissen Verlag, 1992
Schreibe einen Kommentar