DAS MEER IN SACHSEN
I
braunkohle mit mehr als fünfzig prozent
wassergehalt wird in sachsen gegraben
furchtbare unglücke
katastrophen im tertiär preßten
das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt
trat die erde über die ufer zerdrückte das meer
und seine lagunen mit mammutbäumen das meer
kocht und dampft in der kohle in sachsen
die
menschen
in sachsen mit fellen behängt
sammeln sich an den küsten der unterirdischen energie
schütteln drohende fäuste gegen das meer gegen
die neuaufschlüsse des meers
(gelbes gras wuchert von den wellenkämmen des abraums
hinab zu den straßen gedeiht im sperrfeuer
vorüberflammender frontscheiben
(es ist ruhe doch sachsen
sinnt gottes sonntag zu ändern
2
sachsen ist ein land scheußlichsten wetters
tagelang strahlt nacktes sonnenlicht gegen die erde
dann wieder wochenlang eisiger regen fressende kälte
die bagger versinken im schlamm telegraphendrähte
schwimmen im sand in den verödeten tagebauen
kilometerweit geht der wind unangefochten
schnee die züge haben verspätung sturm die häuser
heulen auf und wieder sonne daß der rauch
nicht aus den kaminen kann
sauwetter
sagt man in sachsen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasachsen sinnt gottes
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauswahl zu ändern
sachsen ist rot (großmutter
verbarg sich hinter der gardine und
schleuderte briketts gegen die köpfe
der schwarzen reichswehr
kapps mörder faßten nicht fuß in sachsen
im sauwetter die glimmstengel mit der hohlen hand
schützend rannten sie gegen verschloßne haustüren
straßen grau von scheußlichem wetter das ist
sachsen aktionen fallen ins wasser die einheiten
frieren sind müde (der volkssturm ging an schneeregen ein
und die amerikaner zogen schnell über die elbe ab
am ersten mai die bergleute kennen
sich aus begrüßen grinsend den hagel
3
sachsen ist langweilig
ungastlich graurot (die deutschen
können die sachsen nicht leiden nietzsche
konnte das sächsische essen nicht vertragen
das kraut liegt grimmig in den gedärmen gewürzt
mit politik die galle gärt in den leuten wie
altes wasser
spät schließen die kneipen doch die ranzigen sessel
bleiben leer (um nicht in die luft zu gehen
füllen mit schaurigem stoff aus der geschichte
wir uns wir fahnden in den büchern
nach unserer schande
die sachsen glauben an könige an
kriege und hunger in den gärten unter kalifornischen
apfelbäumen werden kartoffeln gepflanzt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasachsen sinnt gottes
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaküche zu ändern
und in den lauben trocknet gelber tabak
an fäden aufgereiht die großen überseeischen blätter
deren duftender schweiß über den dächern
hell in die sonne steigt
und die sonne atmet blauen rauch verfeinert
vom arom enthaupteter sonnenblumen
fern
brennt gras zwischen eisenbahnschwellen
und vögel taumeln im glutdunst besessen
lauern die kohle das wasser
unterm gras auf das feuer
4
fern das brennende gras
rauch atmet die sonne ich
bin ein wahnsinniges kind man erlaubt mir
das violette distelfeld eines spätsommers zu verwüsten
zu stampfen im bach mit einer haut von kohlenstaub
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasachsen sinnt gottes
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaordnung zu ändern
man erlaubt mir feuer zu legen nachts
in den kriegsruinen
mit karbid zu sprengen im abgesoffnen
luftschutzbunker oder ich bin arretiert
im haus und der regen
wirft sein nasses haar gegen das fenster
ich verachte die zeiten
die ich reifte ich kenne aus dem flüstern
der alten haushohe flöze die das blut
des phosphors niedertropfen
generationen von amphibien oder intelligente
zellen starben im heißen druck der kohle
ich bin das kind dem erlaubt ist
vom graugrünen meer zu wissen (doch einst
war ich älter
vom meer durchwogt von der masse seiner goldenen vegetation
erfüllt vom laich einer sonnigen brut die gottes
unglück uns verlor
vom geruch riesiger goldener tabakblätter überm meer
von der strahlenden energie des kohlenstoffs im meer
die den samen
neuer menschen gebar
ich weiß das meer kommt wieder nach sachsen
es verschlingt die arche
stürzt den ararat.
Wolfgang Hilbig
I
Publikations-Visitenkarte: Jubiläumsband mit Gedichten aus Originalausgaben des S. Fischer Verlages, die in den ersten hundert Jahren seines Bestehens erschienen sind, der Festtafel zugearbeitet von einem seiner Autoren.
Unter „Originalausgabe“ werden verstanden: Erstausgabe (bezogen auch auf das einzelne Gedicht), Erstausgabe in deutscher Sprache und Erstausgabe der jeweiligen Übersetzung.
2
Niemand suche in dieser Anthologie die Gedichte Hugo von Hofmannsthals oder den Morgenstern. Nicht der Verlag mit dem fischenden Fischer im Wappen hat „Fisches Nachtgesang“ an Land gezogen (von Morgenstern erschienen bei S. Fischer nur die beiden Sammlungen Ein Sommer und Und aber ründet sich ein Kranz, nach deren zeitgenössischer Lektüre bestenfalls ein Astrologe den Morgenstern hätte voraussagen können, der drei Jahre später zu leuchten begann), und die Gedichte „Terzinen über die Vergänglichkeit“ oder „vorfrühling“, an die der Liebhaber denken mag, wenn der Name von Hofmannsthal fällt, sind nicht in den S. Fischer-Nachlesen der Gedichte zu finden, in denen der Herausgeber zu suchen hatte. Anstelle der Namen von Hofmannsthal und Morgenstern könnten auch stehen: Hesse, Werfel, Celan, Nelly Sachs und andere. – Grenzen einer Auswahl, der die Editionen eines einzigen Verlages zugrunde liegen.
3
Ausgewählt wurden Gedichte, die der Herausgeber liebt, bewundert oder respektiert. Dort, wo dem Herausgeber der Zugang zu einem Werk völlig versagt blieb, so daß ihm die Kriterien fehlten, nach denen er hätte auswählen können, findet der Leser eine Lücke. Grenzen der Auswahl eines Einzelnen.
4
Der Herausgeber hatte nicht den Ehrgeiz, um Versammlung großer Namen willen Erzähler, Dramatiker und Kritiker von Rang als Lyriker wiederzuentdecken, als die sie zu Recht vergessen sind. Wo sich ein poetisches Dokument anbot, wurde der Staubpinsel sorgsam betätigt.
5
Der Herausgeber hält es für ein Gebot der Fairneß, die Debütanten der jüngsten Zeit auf die Schultern einer Auswahl aus hundert Jahren zu heben, auch wenn ihn nicht jedes dieser Debüts überzeugt.
6
An der Anzahl der einem Autor gewidmeten Seiten oder der von ihm aufgenommenen Gedichte eine Wertung ablesen zu wollen, wäre nicht nur angesichts der Tatsache widersinnig, daß oft nur aus einem Teil des Gesamtwerkes ausgewählt werden konnte. Ein Gedicht, das der Herausgeber liebt, bedeutet ihm mehr als eine beliebige Anzahl von Gedichten, denen er lediglich Respekt zu zollen vermag.
7
Dem jeweils älteren Dichter wurde der Vortritt gelassen.
8
Um ein einheitliches Druckbild zu ermöglichen, wurden – in einigen Fällen abweichend vom Original – die Gedichtüberschriften in Großbuchstaben gesetzt und Widmungen in Klammern unter dem Titel plaziert.
9
Das Gedicht „Rede auf Rußland“ wurde von Arnulf Conradi, S. Fischer Verlag, ausgewählt, wofür sich der Herausgeber freundlich bedankt.
10
Außerdem und nicht weniger freundlich bedankt er sich bei Frau Margrit Koch, S. Fischer Verlag, die mit einer Bibliographie der bei S. Fischer erschienenen Gedichtbände die Grundlage für Auswahl und Quellenrecherchen schuf, bei Fräulein Paula Wachtfeichtl, Staatliche Bibliothek Passau, die Unerreichbares erreichbar machte, und bei Herrn Wolfgang Cremer, der mit Engagement die kostbaren Archiv-Unikate zwischen Verlag und Herausgeber transportierte.
11
Schlußbemerkung, die ein Credo ist: Viel und Dichtung schließen einander aus. Alle und Dichtung schließen einander aus.
Reiner Kunze, Vorwort, Herbst 1984
AUF EIGENE HOFFNUNG
nach Reiner Kunze
MAHNUNG AN DIE DICHTER, SO BEHUTSAM WIE
IRGEND MÖGLICH MIT DEM WORT UMZUGEHN
aaaaana na
Manfred Bieler
Michael Wolffsohn: REINER KUNZE – der stille Deutsche
In Lesung und Gespräch: Reiner Kunze (Autor, Obernzell-Erlau), Moderation: Christian Eger (Kulturredakteur der Mitteldeutschen Zeitung, Halle). Aufnahme vom 17.01.2012, Literaturwerkstatt Berlin. Klassiker der Gegenwartslyrik: Reiner Kunze. Wenn die post hinters fenster fährt blühn die eisblumen gelb.
Harald Hartung: Auf eigene Hoffnung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.8.1993
Katrin Hillgruber: Im Herzen barfuß
Der Tagesspiegel, Berlin, 16.8.2003
Lothar Schmidt-Mühlisch: Eine Stille, die den Kopf oben trägt
Die Welt, 16.8.2003
Beatrix Langner: Verbrüderung mit den Fischen
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.8.2003
Sabine Rohlf: Am Rande des Schweigens
Berliner Zeitung, 16./17.8.2003
Hans-Dieter Schütt: So leis so stark
Neues Deutschland, 16./17.8.2003
Cornelius Hell: Risse des Glaubens
Die Furche, 14.8.2003
Michael Braun: Poesie mit großen Kinderaugen
Badische Zeitung, 16.8.2008
Christian Eger: Der Dichter errichtet ein Haus der Politik und Poesie
Mitteldeutsche Zeitung, 16.8.2008
Jörg Magenau: Deckname Lyrik
Der Tagesspiegel, 16.8.2008
Hans-Dieter Schütt: Blühen, abseits jedes Blicks
Neues Deutschland, 16./17.8.2008
Jörg Bernhard Bilke: Der Mann mit dem klaren Blick: Begegnungen mit Reiner Kunze: Zum 80. Geburtstag am 16. August
Tabularasa, 18.7.2013
artour: Reiner Kunze wird 80
MDR Fernsehen, 8.8.2013
André Jahnke: Reiner Kunze wird 80 – Bespitzelter Lyriker sieht sich als Weltbürger
Osterländer Volkszeitung, 10.8.2013
Josef Bichler: Nachmittag am Sonnenhang
der standart, 9.8.2013
Thomas Bickelhaupt: Auf sensiblen Wegen
Sonntagsblatt, 11.8.2013
Günter Kunert: Dichter lesen hören ein Erlebnis
Nordwest Zeitung, 13.8.2013
Marko Martin: In Zimmerlautstärke
Die Welt, 15.8.2013
Peter Mohr: Die Aura der Wörter
lokalkompass.de, 15.8.2013
Arnold Vaatz: Der Einzelne und das Kartell
Der Tagesspiegel, 15.8.2013
Cornelia Geissler: Das Gedicht ist der Blindenstock des Dichters
Berliner Zeitung, 15.8.2013
Johannes Loy und André Jahnke: Eine Lebensader führt nach Münster
Westfälische Nachrichten, 15.8.2013
Michael Braun: Süchtig nach Schönem
Badische Zeitung, 16.8.2013
Jochen Kürten: Ein mutiger Dichter: Reiner Kunze
Deutsche Welle, 15.8.2013
Marcel Hilbert: Greiz: Ehrenbürger Reiner Kunze feiert heute 80. Geburtstag
Ostthüringer Zeitung, 16.8.13
Hans-Dieter Schütt: Rot in Weiß, Weiß in Rot
neues deutschland, 16.8.2013
Jörg Magenau: Der Blindenstock als Wünschelrute
Süddeutsche Zeitung, 16.8.2013
Friedrich Schorlemmer: Zimmerlautstärke
europäische ideen, Heft 155, 2013
LN: Sensible Zeitzeugenschaft
Lübecker Nachrichten, 15.8.2018
Barbara Stühlmeyer: Die Aura der Worte wahrnehmen
Die Tagespost, 14.8.2018
Peter Mohr: Die Erlösung des Planeten
titel-kulturmagazin.de, 16.8.2018
Udo Scheer: Reiner Kunze wird 85
Thüringer Allgemeine, 16.8.2018
Jochen Kürten: Sich mit Worten wehren: Der Dichter Reiner Kunze wird 85
dw.com, 16.8.2018
Lothar Müller: Widerstand in Jeans
Süddeutsche Zeitung, 15.8.2023
Cornelia Geißler: Dichterfreund und Sprachverteidiger
Berliner Zeitung, 15.8.2023
Antje-Gesine Marsch: Greizer Ehrenbürger Reiner Kunze feiert 90. Geburtstag
Ostthüringische Zeitung, 16.8.2023
Ines Geipel: Nachwort. Zum 90. Geburtstag von Reiner Kunze
S. Fischer Verlag
Ines Geipel: Mit dem Wort am Leben hängen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.8.2023
Gregor Dotzauer: Mit den Lippen Wörter schälen
Der Tagesspiegel, 15.8.2023
Hans-Dieter Schütt: Das feingesponnene Silber
nd, 15.8.2023
Stefan Stirnemann: Ausgerechnet eine Sendung über Liebesgedichte brachte Reiner Kunze in der DDR in Nöte – und mit seiner späteren Frau zusammen
Neue Zürcher Zeitung, 15.8.2023
Christian Eger: Herz und Gedächtnis
Mitteldeutsche Zeitung, 15.8.2023
Matthias Zwarg: Im Herzen barfuß
Freie Presse, 15.8.2023
Marko Martin: Nie mehr der Lüge den Ring küssen
Die Welt, 16.8.2023
Josef Kraus: Mutiger Lyriker, Essayist, Sprachschützer, DDR-Dissident, Patriot – Reiner Kunze zum 90. Geburtstag
tichyseinblick.de, 16.8.2023
Erich Garhammer: Das Gedicht hat einen Wohnort: entlang dem Staunen
feinschwarz.net, 16.8.2023
Volker Strebel: Ein deutsch-deutscher Dichter
faustkultur.de, 29.8.2023
Reiner Kunze – Befragt von Peter Voss am 15.7.2013.
Schreibe einen Kommentar