– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Eine Schlehe im Mund komme ich übers Feld“ aus Sarah Kirsch: Landaufenthalt. –
SARAH KIRSCH
Eine Schlehe im Mund
komme ich übers Feld
Eine Schlehe im Mund komme ich übers Feld
sie rollt auf der Zunge stößt Zähne an wenn ich geh
mein Kopf eine Schelle klappert und macht
einen traurigen Mund
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaameiner mit einer Schlehe
deiner Sand schon und Kieselstein
ich drüber du drunter
Ebereschen blutrot samtrot liegts auf dem Weg
Drosseln freßt freßt
den Herbst lang euch Vogelfett an
2.9.66
Ihr Kopf ist eine Schelle, die nur sie selbst hört, und sie schüttelt ihn. Über wen, worüber? Und warum macht sie einen traurigen Mund? In ihm rollt auf der Zunge eine schwarzblaue Beere. Sein Mund dagegen ist „Sand schon und Kieselstein…“ Wer ist er? Richtiger: Wer war er? Einer, dessen Mund schon Sand und Kieselstein ist, muß vor langer Zeit gestorben sein. Und warum entsinnt sie sich seines Mundes? Kann sie seine Küsse nicht vergessen? Warum aber ist dann ihr Kopf mit der Schlehe im Mund eine Narrenschelle? „… ich drüber du drunter“. Kein Zweifel – die Rede ist vom Geliebten. Aber der Ton ist eher triumphal, und so spricht man nicht von einem Toten. Der Geliebte ist nicht gestorben. Nur für sie ist er’s. Ihre Liebe ist tot.
Sie schüttelt den Kopf über sich selbst. Sie war eine Närrin. Sie hatte geglaubt, ohne ihn werde das Leben nicht weitergehen, und auch er hatte wohl geglaubt, das Leben werde ohne ihn nicht weitergehn für sie. Er war wohl allzu sehr davon überzeugt gewesen, daß das Drüber ihm, das Drunter ihr zustehe. Bis es drunter und drüber gegangen war. Nun geht sie drüber hin und redet sich ein, darüber hinweg zu sein. Sand sei sein Mund schon und Kieselstein. Doch sie ist eine Närrin und weiß, daß sie’s ist: Ihr Kopf ist eine Schelle. „Ebereschen blutrot samtrot liegts auf dem Weg“. Ihre Seele liegt bloß, und ihr graut vor der Zeit, die nun kommen wird. Ihr graut vor der Einsamkeit, vor der Kälte.
„Drosseln freßt freßt / den Herbst lang euch Vogelfett an“. Ihr bleibt nichts anderes, als auf der Zunge die Schlehe zu rollen. Als Schelle sorgt ihr Kopf dafür, daß sie ihn nicht verliert.
Die alte, uralte Geschichte vom Liebesleid – keine dürfte öfter erzählt worden sein als diese –, und Sarah Kirsch erzählt sie, wie sie noch nie erzählt worden sein dürfte. Einen Kirschkern hat jeder schon im Mund gehabt, im Kopf aber nicht den Einfall, dieser sei nun eine Schelle. Und der Einfall ist nur das eine. Das andere ist, nicht mehr zu brauchen als dieses eine poetische Bild, um die ungezählte Male erzählte Geschichte unvergeßlich neu zu erzählen.
Und so zu erzählen, daß jeder eine etwas andere Geschichte erzählt bekommt – die, für die er geschaffen ist. Das Bild hält bereit, was jeder für seine Geschichte braucht. Das, was das eigene Gedicht der Dichterin erzählt, weiß vielleicht nur sie selbst. Falls nicht auch sie es erst zu einem Teil weiß. Und das ist Poesie.
Reiner Kunze, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993
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