Reinhold Grimm: Zu Alfred Lichtensteins Gedicht „Abschied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Alfred Lichtensteins Gedicht „Abschied“ aus Alfred Lichtenstein: Gesammelte Gedichte. –

 

 

 

 

ALFRED LICHTENSTEIN

Abschied
(kurz vor der Abfahrt zum Kriegsschauplatz
für Peter Scher)

Vorm Sterben mache ich noch mein Gedicht.
Still, Kameraden, stört mich nicht.

Wir ziehn zum Krieg. Der Tod ist unser Kitt.
O, heulte mir doch die Geliebte nit,

Was liegt an mir. Ich gehe gerne ein.
Die Mutter weint. Man muß aus Eisen sein.

Die Sonne fällt zum Horizont hinab.
Bald wirft man mich ins milde Massengrab.

Am Himmel brennt das brave Abendrot.
Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot.

 

Korrektur eines Mythos

Die Mensa der kleinen fränkischen Universität, an der Alfred Lichtenstein zuletzt studierte und 1914, ehe er an der Somme fiel, gerade noch promovierte, steht nicht etwa an einem Lichtenstein-Platz. Sie steht am Langemarck-Platz. Ich weiß das; denn Erlangen war auch meine – wie sagt man doch gleich – Alma mater. Von Langemarck und davon, wie einst unsere Kommilitonen (was ja tatsächlich „Kriegskameraden“, sogar „Glaubensgenossen“ heißt) zu Hunderten oder Tausenden, das Deutschlandlied singend, in die englischen Maschinengewehre rannten, hat man uns oft erzählt. Von Lichtenstein nie.
Und dabei wäre nichts dringlicher, nichts nötiger gewesen. Wenigstens ein einziges der Lichtensteinschen Soldatengedichte (die nämlich durchaus nicht „soldatisch“ sind, weder im mythisierenden noch im militaristischen Sinne, sondern einfach aufrichtig) hätte man uns, der zweiten Nachkriegsgeneration, zur Pflichtlektüre machen müssen. Zum Beispiel „Montag auf dem Kasernenhof“, mit dem surreal ernüchternden Schluß:

Sehr selten nur zerreißt ein heiseres Gebell
Die blaue Sau, die auf den Steinbaracken liegt.

Oder „Ein Generalleutnant singt“. Denn er singt unter anderem:

Wäre doch endlich ein Krieg
Mit blutigen, brüllenden Winden.

Aber erst recht und vor allem eben jene lakonisch mit „Abschied“ überschriebenen Verse, die scheinbar so konventionell und unzweideutig einem Kameraden einem Schicksals-, vielleicht Leidensgenossen – vom Glauben wollen wir lieber schweigen – beim Aufbruch „zum Kriegsschauplatz“ gewidmet sind.
Lichtenstein hat sie, denke ich mir, in irgendeinem der unzähligen, mit Kreideparolen beschmierten Viehwaggons, in denen man die Regimenter an die Front verfrachtete, niedergekritzelt. „Vor der Abfahrt“ und also „vorm Sterben“. Daraus erwachsen Größe und Ehrlichkeit dieses Gedichts. Das Erstaunliche an ihm ist ja die Art, wie hier die Vorstellungen von Soldatentum und Krieg und Opfermut, im vertrauten Bild des fahnenüberwehten, marschmusikdurchschmetterten Abschieds mit seinem Schluchzen und Lachen, Händeschütteln und Liebesgabenverteilen (samt den makabren Blumensträußchen auf den Gewehrläufen) keineswegs schroff verneint oder verleugnet, sondern gewissenhaft berichtigt und ergänzt werden. Nicht unbarmherzig negiert, sondern schlicht und sachlich korrigiert wird von Lichtenstein das patriotische Klischee und damit im Grunde bereits der Mythos.
Freilich – wie das geschieht, ist von einer Hellsicht und schnoddrigen Trauer, einer ergreifenden, nun wirklich gnadenlosen Lustigkeit und gefaßten Resignation, die selbst heute noch ihresgleichen suchen.
Aus diesen zehn knappen, monoton gereihten und gereimten Zeilen spricht weder der begeisterte Taumel derer, die damals in Flandern sangen und starben, noch auch der „goldene Humor unserer tapferen Feldgrauen“, den man offiziell hätschelte, sondern der bittere Galgenhumor eines jungen Menschen, der ein Dichter war und erkannt hatte, daß er, von heiseren Phrasen umbellt, in den brüllenden, blutigen Tod ziehen durfte.
Langemarck wird durch Lichtenstein nicht widerlegt. Dessen Korrektur aber beruht darauf, daß er, ahnungsvoll, den Mythos konsequent ins Groteske verfremdete und beide ineinander aufhob. Die Worte und Bilder, Anspielungen und Umkehrungen sind beredt genug. überall vom „milden (!) Massengrab“ und Heldentod als „Kitt“ bis zum „braven (!) Abendrot“, hinter dem nach wie vor das abgedroschene Morgenrot zum frühen Tod leuchtet, nein, konkret „brennt“, verknüpfen sie das Heroische mit dem Schäbigen, das Pathetische mit dem Kitsch und erzeugen so aus Phrase, Klischee und sorgsam genährter Legende die nackte Wahrheit und Wirklichkeit. „Ich gehe gerne ein“, gestand dieser Dichter so grausam ernst wie parodistisch. Und mit einem letzten Anflug von abergläubischem Spott und verzweifelter Ironie:

Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot.

Am 8. August 1914 wurde Alfred Lichtenstein an die Westfront abtransportiert. Nur wenige Minuten zuvor, als die Räder schon langsam zu rollen begannen, schrieb er jene Verse. Nur wenige Wochen danach, im September, fiel er bei Vermandovillers.

Reinhold Grimmaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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