– Zu Günter Kunerts Gedicht „Im Norden“ aus Günter Kunert: Berlin beizeiten. –
GÜNTER KUNERT
Im Norden
Dir bleiben ja die großen Himmel über Deichen.
Die Wolkenwerke. Weißes Licht. Erhabnes Blau.
Die Sehnsucht, weit hinaufzureichen
zu einem Blick aus jener Vogelschau
aus der die Erde fremd wirkt: Nur ein Hügel
in fahlen Farben und wie unbelebt.
Und du erinnerst dich der eigenen Flügel
in einem Traum, der selber längst verschwebt.
Bereits die Überschrift des Gedichts ruft sogleich vertraute und dennoch ferne Stimmungen wach, beschwört Zeichen und Klänge, ja verlockt dazu, sich an andere, ältere norddeutsche Lyriker zu erinnern. Etwa an Theodor Storm und seine besonnte Heide, seine Marschen und Watten; oder an Detlev von Liliencron, an die Bläue und Wolkenhelle in dessen nördlichem „Märztag“ vielleicht. Selbst an Hebbelsche Verse denkt man, namentlich an die ähnlich knapp in zwei jambische Strophen zu jeweils vier Zeilen gebannten, ähnlich gelassen empfundenen und gedeuteten Landschaften oder landschaftlichen Stilleben die „Sommerbild“ und „Herbstbild“ heißen. Ja, man könnte sogar den neuerdings für Kunert offenbar besonders wichtig gewordenen Gottfried Benn nennen, der zumindest am Anfang seiner Laufbahn neben Friedrich Hebbel auch Liliencron bewunderte und ebenfalls aus dem Norden Deutschlands stammte.
Wie in fast aller zeitgenössischen Lyrik hat sich auch in den acht Zeilen von „Im Norden“ literarische Tradition niedergeschlagen, ob mit oder ohne Wissen und Willen des Dichters (ich glaube freilich, daß gerade bei Kunert derlei durchaus mit Bewußtsein und Absicht geschieht). Vergangenes ist hier, anders gesagt, im Heutigen aufgehoben: es zu erkennen, indem es gleichsam zitiert wird, bereichert diese Verse und Strophen, ohne doch für ihr Verständnis im geringsten nötig zu sein. Das scheinbar so schlichte und anspruchslose, in Wahrheit aber höchst kunstvoll geformte und strukturierte lyrische Gebilde spricht beredt genug.
Was mich an ihm vor allem beeindruckt, ist die souveräne Selbstverständlichkeit, mit der es zuerst die Weite der nördlichen Ebenen, ihre „großen Himmel“ und endlosen, nur von „Deichen“ begrenzten Horizonte, entwirft oder eigentlich hervorruft, dann sich „weit“ über diese „Erde“ zum verfremdenden „Blick“ von oben, „aus jener Vogelschau“, emporschwingt und zuletzt ohne Mühe beides in die plötzlich erwachende Traumerinnerung verwebt – der beinah identische Anklang an „verschwebt“ stellt sich dabei in der Tat wie von selber ein. Denn die Kunertschen Verse sind zugleich auch von hoher Musikalität; das zeigt sich in nahezu jeder Zeile.
Verfolgt man den Dreischritt des Gedichts im einzelnen, so wird man gewahr, wie nach dem Augenaufschlag, den der erste Vers ja voraussetzt, im zweiten die blendenden Haufenwolken, zwischen denen das „Blau“ des Himmels nur desto tiefer leuchtet, sich zu ballen beginnen, sich bewegen, verwandeln, sich förmlich, vom Stabreim gestützt, kraft der metrischen Sprache vor einem auftürmen: „Weißes Licht“. Erst recht erstaunlich jedoch ist der lange, sich über volle vier Verse erstreckende, auch nicht bloß durch Zeilensprung, sondern obendrein durch Strophenenjambement gegliederte und gleichwohl nahtlose Mittelsatz, der die „Sehnsucht“ des Dichters, dort „hinaufzureichen“, von wo alles Irdische drunten „fremd wirkt“, ebenso wie die abrupte Umkehrung der Blickrichtung – nicht umsonst fehlt genau an dieser Stelle das Komma – auf meisterhafte Weise spiegelt, abbildet, ja geradezu körperlich spürbar macht. Das „längst“ verblaßte Erlebnis (ein Kindheitserlebnis?) der „eigenen Flügel“ schließlich verleiht, neu erfahren, Kunerts Versen noch eine weitere Dimension. Sie halten das Einst und das Jetzt, den Blick hinauf und herab, das Innen und das Außen in beglückender Schwebe.
Noch einmal heile Welt also, Abgeschiedenheit, Trost der Idylle? Doch der Schein trügt. Blättert man im selben Lyrikband Kunerts nämlich nur eine Seite um, so findet man ein Gedicht über „Wolkenwerke“, das nun wirklich „Augenaufschlag“ überschrieben ist. Es stellt indes weder eine Ergänzung noch gar eine Steigerung von „Im Norden“ dar, sondern dessen unwiderrufliche Zurücknahme. Sein Untertitel lautet: „Nach Tschernobyl“.
Reinhold Grimm, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990
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