Reinhold Grimm: Zu Karl Krolows Gedicht „Mit feuchten Händen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Krolows Gedicht „Mit feuchten Händen“ aus Karl Krolow: Gesammelte Gedichte 2.

 

 

 

 

KARL KROLOW

Mit feuchten Händen

In Badehäusern errät man
alle Möglichkeiten
der Wasserlust.
Aurora malt
mit abgebrochenem Buntstift
eine Himbeerstadt,
ehe es zu heiß ist
und die Thermometer zerbrechen.
Mit weißer Binde
vor den Augen
ruht höhere Bildung.
Die Ideale
bekommen feuchte Hände
im prallen Sonnenland.

 

In der Wollust des Sommers

Lyrik, schrieb Brecht einmal, sei dazu da, „unseren Lebensgenuß zu erhöhen“. Sie schärfe die Sinne und verwandle selbst die Schmerzen in Genuß.
Karl Krolow gehört zu den wenigen, die das bis heute beherzigt haben. Auch in diesem Gedicht ist etwas davon spürbar. Freilich „errät man“ zugleich einiges andere. Denn Krolows Verse scheinen zwar lediglich eine hochsommerliche Miniatur zu entwerfen, reduziert auf Hitze und Horizontales, auf ein paar Striche unter der gleißenden Helle aus „Wasserlust“ und „prallem Sonnenland“. Doch schon die seltsam anmutende „Himbeerstadt“, die mit dickem Farbstift mitten in diese Idylle gemalt wird, verändert das Bild. Sie fügt ihm nicht nur ihre grelle Buntheit ein, sondern, zeitweilig jedenfalls, das Element des Vertikalen, das übrigens spielerisch auch in den „Thermometern“ auftaucht. Als typisch Krolowsches Concetto verwandelt sie die ursprüngliche Skizze, ohne deren Grundstimmung aufzuheben.
Viel über die „Möglichkeiten“ sommerlicher Lust verraten in den „Badehäusern“ auch die obszönen Sgraffiti, die man an den Bretterwänden studieren kann. Darauf verweist noch nachträglich, mit einem Sinn-Enjambement gewissermaßen, jenes Malen des zweiten Satzes, dessen „Witz“ nicht zuletzt in einer unverkennbaren Doppeldeutigkeit besteht. „Aurora“ ist ja nicht bloß mythologische Figur, sondern auch Name: einer Frau; genauer: eines kleinen Mädchens. Einerseits „malt“ Aurora konkret „mit abgebrochenem Buntstift“ ihre kindliche Phantasiestadt. Andererseits aber, als preziöse Bezeichnung der Morgenröte, nimmt sie ihre Malerei am Himmel vor. Dort, wo Hölderlin einst „unzählig die Rosen“ erblühen sah, erscheint nun, in bewußter Verschränkung von Naturhaftem und Künstlichem, Krolows Concetto. Verknüpft mit der Zeile „ehe es zu heiß ist“, ergibt sich dabei zusätzlich eine zeitliche Bewegung, die jedoch bald in der Glut und panischen Stille des Mittags zur Ruhe kommt. Unnachahmlich, mit zarter Heiterkeit, ist dann das auf den Stränden ausgelegte Fleisch in seiner dumpfen Indolenz ins Bild gefaßt. Der Schluß wirkt wiederum mehrdeutig: die „feuchten Hände“ rühren ebenso von der Hitze her wie vom allmählichen Erschlaffen der „Ideale“, dem trägen Brüten der Begierden in den hingebreiteten Körpern.
Der eigentliche Reiz dieser Verse erwächst aber daraus, daß sie nicht nur zu erhöhtem Genuß befähigen, sondern daß sie – Brechts Diktum umkehrend, doch gerade dadurch bestätigend – in solchem Genuß noch den Schmerz zu vergegenwärtigen wissen. Ihre lässige Nonchalance ist in zweifachem Sinne fragil. Bereits das wiederholte Motiv des Zerbrechens läßt – rein assoziativ – Bedrohung, selbst Scheitern ahnen. Auch die „Binde vor den Augen“ derer, die sich hier in so manchem sonnen, ist mehr als Scherz, ist halblaute Warnung vor blindem Vergessen. Ja, sogar jener vergänglichen „Himbeerstadt“ eignet, trotz aller Verspieltheit, etwas süßlich Synthetisches, ein banal, aber ungut Chemisches, das mit seiner falschen Buntheit die arglosen Dinge überspinnt. Überall meldet sich, zierlich verzerrt, ein leises Schmerzgefühl. „Mit feuchten Händen“ (nicht umsonst stehen sie im Titel) atmet und schreibt daher auch der Dichter: Angst, zumindest einen Herzschlag lang, spricht aus diesen beziehungsreichen Worten. Dem Schreibenden bangt, mitten in der Wollust des Sommers, daß nicht allein die Kunst, sondern das Allereinfachste gefährdet sei:

Nichts weiter als Leben.

Mit sparsamsten Mitteln setzt Karl Krolow solche Zeichen. „Luftlinien“, „Horizonte“, „Perspektiven“: so lauten, in anderen Gedichten, seine Schlüsselbegriffe. Eine fast geometrische Kargheit. Dennoch errät man aus ihr noch immer fast alle Möglichkeiten moderner Lyrik.

Reinhold Grimmaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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