– Zu Thomas Braschs Gedicht „Vorkrieg“ aus Thomas Brasch: Der schöne 27. September. –
THOMAS BRASCH
Vorkrieg
Ich habe heute nacht geträumt
Von einem dunklen Tag
Und einer fremden Frau
Wie Atemlos ich bei ihr lag
Sie sprach von einem schönen Tod
Und von einem eisernen Krieg
Ich sah wie sie mit großem Schritt
Die eiserne Treppe hochstieg.
Ich bin ihr nachgegangen
Soldaten haben mich eingefangen
Und mit hellen Regentropfen erschossen So wurde ich wach
Aber noch immer schlagen die Tropfen aufs Dach
Rätselhaft und erregend sind diese Verse aus dem Band Der schöne 27. September, diese scheinbar so einfach, fast nachlässig gebauten und gereimten Zeilen. Ich bin mir noch keineswegs sicher, ob ich sie ganz verstehe. (Was, zum Beispiel, bedeuten die Treppenstufen, die die Frau hochsteigt, was die filmischen Reminiszenzen, die ein solches Bild weckt?) Aber dennoch oder gerade deshalb ziehen mich diese drei Strophen stets aufs neue an, finde ich mich und mein Lebensgefühl „atemlos“ in ihnen gespiegelt. Ist nicht, was in ihnen zum „dunklen“ Ausdruck gelangt, unser aller Erfahrung zwischen „Tag“ und „Tod“? Thomas Brasch hat hier ein düster-prophetisches Zeitgedicht geschaffen, das zugleich ein Liebesgedicht ist – oder doch eins von der Liebe, über die Liebe.
Sein Titel scheint zu besagen: Der Nachkrieg droht abermals, und vielleicht zum letzten Male, zum Vorkrieg zu werden. Doch entstammen Braschs Verse nicht dem ersten Teil seiner Sammlung, den er „Der Morgen“ genannt und mit der Losung „Zwischen Widerstand und Wohlstand“ versehen hat, sondern dem abschließenden vierten, der „Die Nacht“ überschrieben ist und durch den Zusatz „Das Tier mit den zwei Rücken“ sehr deutlich auf den Liebesvollzug anspielt. Nicht von „Soldaten“ nur, die den Dichter fangen und töten, ist die Rede, sondern auch und vor allem von einer „Frau“, bei der er liegt und die mit ihm spricht, die ihn verläßt und der er folgt.
Geschildert werden ein Traum und das Erwachen daraus. Indes, es bleibt weder bei diesem alltäglichen Erlebnis noch bei solch einsinnigem Ablauf. „Nacht“ und Tag, die „hellen“ und die dunklen Eindrücke und Empfindungen durchdringen einander gleich Wollust und „Krieg“, gleich Tod und Verlangen. So aufgefaßt, weist der Titel auf das Vorgefühl der Feindseligkeit im Erotischen, den Liebeskampf im doppelten Sinne mit irgendeiner Unbekannten, doch Lockenden, den der Träumende ahnt. Aber wie jenes Wort metaphorisch auf die Liebe deutet, deutet umgekehrt diese auf den archaisch-elementaren und eben dadurch so erschreckenden „eisernen“ Krieg, ja sogar auf den Tod, der als „schöner“ gewiß von Galle und Hohn trieft und trotzdem unverkennbar auf die Liebe und deren Vollzug zurückweist.
Solche Paradoxie ist nicht in Begriffen mitteilbar, sondern allein in Bildern. Sie folgen einander mit der surrealen Logik des Traums. Besonders die dritte Strophe zeigt, mit welcher Vollendung Brasch diese verschränkende Chiffrenschrift handhabt. Denn die nächtlichen Häscher haben den Träumenden zwar erreicht und „erschossen“, doch mit den Regenschauern der Dämmerung, in die hinein er, befreit, erwacht; und obschon deren „Tropfen“, wie er weiß, bloß „aufs Dach“ über ihm trommeln, spürt er sie „immer noch“ wie tödliche Kugeln in seinen Leib „schlagen“. Der Dichter ist entkommen und gleichwohl weiterhin „eingefangen“: er lebt, wie wir alle, dazwischen.
Reinhold Grimm, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985
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