− Zu Volker Brauns Gedicht „Tagtraum“ aus dem Gedichtband Volker Braun: Langsamer knirschender Morgen. −
VOLKER BRAUN
Tagtraum
Im Niemandslande zwischen den Grenzen stand
Mein Wagen, angezogen die Bremsen, hart
Betrachtet von den Türmen, und kein
Rad war zu wechseln hier ungeduldig.
Was wollt ich denn? in meiner Gedanken Zeit
War ich nie so allein, und die Toten nur
Und Ungebornen atmeten mir
Ruhig nun zu, unterm heißen Hundstern.
Die Völker schwiegen, schlummerten nun nicht mehr
Die Seltenzeit erblühte oktoberlich
Im leeren Felde flimmernd hielt sie
Über den Minen der Stille, reglos.
Die ernste Zukunft, eine Mulattin, teilt’
Mit schmaler Hand das Brot und die Arbeit aus
Nach Nord und Süden und die Wahrheit
Welche auf beiden Seiten wohnet.
Ein Leben lang hab ich es gewußt: es wird.
Jetzt glaubt ich nurmehr. Und ich saß still im Gras
Daß mich der dunkle Abend kühlte.
Jaulend dann nahten die Hundeführer.
Der Lorbeer bloßen Wollens hat nie gegrünt
Und irrdisch ist und fahrlässig unsre Bahn
Ich muß auf eine Seite, muß es.
Aber ich ahne nur meine Worte.
Verschlüsselt ist poetische
Mitteilung allemal…
Volker Braun
Volker Brauns Gedichtsammlung von 1987, Langsamer knirschender Morgen, erschien beinah gleichzeitig sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Veranlaßt durch Brauns Bemerkung, daß poetische Mitteilung stets eine verschlüsselte sei, ist man versucht, auf Anhieb Vermutungen über den Sinn des Partizips „knirschend“ anzustellen. Sollte der Dichter damit einen grundsätzlichen Doppelsinn beabsichtigt haben, eine zähneknirschende Doppeldeutigkeit sozusagen, zusätzlich zum knirschenden Geräusch einer langsamen, mühsamen, zähen Bewegung – etwa des Rades (oder Räderwerks) der Geschichte? Oder wie ich dies früher einmal formuliert habe: „Soll man am Ende […] aus dem Titel […] zugleich ein hilflos-erbittertes Zähneknirschen heraushören, nicht bloß das Knirschen einer […] fast schon zum Stillstand gelangten, doch ebendarum desto verbissener geforderten Bewegung und Veränderung?“ Wie dem auch sei, Braun widersprach mir nicht, als ich ihm die betreffende Interpretation bei ihrem Erscheinen vorlegte.
Es kommt aber noch etwas hinzu. Denn wie ich feststellte, fehlen in der westdeutschen Ausgabe ausgerechnet die kühnsten wie auch bei weitem dunkelsten und dabei dichterisch reichsten, gelungensten Verse der Braunschen Sammlung: die mit „Tagtraum“ überschriebenen. Statt dessen findet sich ein unzweideutiges allegorisches Gedicht mit dem Titel „Die Konsolidierung“, welches lautet:
Auf der obersten Sprosse, jubelbefohlen
Mit starrem Lächeln, zeitungsreif
Voll Errungenschaften mit ausgefallenen Haaren
Schreitet sie, pausenlos von sich selber sabbernd
An diesem zukurzgekommenen Morgen
Der sich bürokratisch verheddert zwischen 9 und 10
Schreitet sie, den Status quo im Schilde
Schleimscheißend, zähneknirschend, wirsch
Der Lude der Macht, ohne nach dir zu fragen
Schreitet sie herrlich auf der Stelle fort
Ihr totes Kind verborgen im flatternden Schoß.
Gewiß, auch diese Verse, voll Sarkasmus und blutiger Ironie, sind auf ihre Weise kühn und anspielungsreich genug. Doch in ihrem Fall wäre eine Interpretation wohl kaum sehr schwierig, zumal das „Knirschen der Zähne“ (obschon keineswegs der des Autors) ausdrücklich erwähnt wird.
Das Gedicht „Tagtraum“ allerdings ist von beträchtlich anderer Art. Sein Halbdutzend regelmäßiger Strophen zu jeweils vier Zeilen hat folgenden Wortlaut:
Im Niemandslande zwischen den Grenzen stand
Mein Wagen, angezogen die Bremsen, hart
Betrachtet von den Türmen, und kein
Rad war zu wechseln hier ungeduldig.
Was wollt ich denn? in meiner Gedanken Zeit
War ich nie so allein, und die Toten nur
Und Ungebornen atmeten mir
Ruhig nun zu, unterm heißen Hundstern.
Die Völker schwiegen, schlummerten nun nicht mehr
Die Seltenzeit erblühte oktoberlich
Im leeren Felde flimmernd hielt sie
Über den Minen der Stille, reglos.
Die ernste Zukunft, eine Mulattin, teilt’
Mit schmaler Hand das Brot und die Arbeit aus
Nach Nord und Süden und die Wahrheit
Welche auf beiden den Seiten wohnet.
Ein Leben lang hab ich es gewußt: es wird.
Jetzt glaubt ich nurmehr. Und ich saß still im Gras
Daß mich der dunkle Abend kühlte.
Jaulend dann nahten die Hundeführer.
Der Lorbeer bloßen Wollens hat nie gegrünt
Und irrdisch ist und fahrlässig unsre Bahn
Ich muß auf eine Seite, muß es.
Aber ich ahne nur meine Worte.
Kryptische Verse, kein Zweifel, bis in die Einzelheiten der Rechtschreibung hinein. Auch war ihr Verfasser schwerlich allzu mitteilsam, als ich ihn seinerzeit fragte, warum dieser ungewöhnliche Text in der Frankfurter Ausgabe nicht enthalten sei. Braun bemerkte lediglich: „,Tagtraum‘ kam erst zuletzt in den Zyklus, deshalb fehlt er bei Suhrkamp.“ Was das Fehlen der Allegorie „Die Konsolidierung“ in der Parallelausgabe betrifft, so äußerte sich Braun dazu überhaupt nicht.
Das, was jedem aufmerksamen Leser des Gedichts „Tagtraum“ – von dessen bekenntnishafter Offenheit und provozierender Szenerie und Bildlichkeit ganz abgesehen – sofort in die Augen springen muß, ist der schlichte, aber bedeutsame Umstand, daß dieses Gedicht in einer klassischen Versform abgefaßt ist: nämlich in der sogenannten alkäischen Strophe. Die charakteristische Zeilenstruktur von Brauns griechischem Muster ist auf den ersten Blick erkennbar; und mag auch das Metrum nicht immer mit peinlichster Exaktheit beibehalten sein, den zwingenden Rhythmus jedenfalls hat Braun durchweg überzeugend getroffen. Kurzum, es ist ihm gelungen, in modernem Deutsch echte antike Strophen zu schaffen. Daß er uns damit zugleich den Namen des größten deutschen Dichters, der ebenso meisterhaften wie ausgiebigen Gebrauch von solch klassischen Formgebilden gemacht hat, ins Gedächtnis ruft, versteht sich von selbst.
Zu behaupten, daß Volker Braun mit dem Schaffen Friedrich Hölderlins nicht gänzlich unvertraut sei, wäre ein krasses Understatement. Brauns Lyrik, wie sein Werk insgesamt, quillt von Anspielungen und Zitaten förmlich über; zudem ist einer seiner besten und bekanntesten lyrischen Texte, das dreiteilige freirhythmische Gedicht „An Friedrich Hölderlin“ aus den frühen siebziger Jahren, nicht nur ausdrücklich an sein berühmtes Vorbild gerichtet, sondern stellt darüber hinaus ein leidenschaftlich erregtes Zwiegespräch mit ihm dar. Kein Wunder also, wenn sich ähnliche Anklänge, ja selbst der unverkennbare Tonfall und Stil des Meisters auch in „Tagtraum“ bemerkbar machen. Bereits archaische oder poetische Verbformen wie „teilt’“ oder „wohnet“ wirken in dessen Kontext einigermaßen hölderlinisch; das gleiche gilt für die rhythmische und gedankliche Gestalt ganzer Sätze. Man betrachte nur etwa die bedrückte Frage „Was wollt ich denn?“ in der zweiten Strophe: eine Sprachgeste, die aufs genaueste Hölderlins verzweifeltem Ausruf „Wohin denn ich?“ aus seiner „Abendphantasie“ entspricht, und dies nicht bloß auf Grund ihrer Struktur, sondern ebensosehr durch ihre Stellung in Vers und Strophe. Sogar die scheinbar rätselhafte (oder willkürliche und sonderbare, doch sicher nicht irrtümliche) Verdoppelung des Konsonanten in „irrdisch“, die in der Schlußstrophe von „Tagtraum“ begegnet, ist, wie sich zeigen läßt, an diesem allgemeinen ,Hölderlinisierungsprozeß‘ beteiligt; ja, die fragliche Zeile in ihrer Gesamtheit – „Und irrdisch ist und fahrlässig unsre Bahn“ – trägt dazu deutlich bei. Nicht umsonst sind schließlich, seit Norbert von Hellingrath, die Eigenheiten der Hölderlinschen Schreibweise von den gelehrten Herausgebern immer buchstabengetreuer wiedergegeben worden. Auch dürfte offensichtlich sein, daß das Wort „irrdisch“ noch einen weiteren und äußerst gewichtigen Zusammenhang mit Hölderlin herstellt: nämlich einmal vermittels seiner semantischen Vielschichtigkeit und zum andern durch die von ihm, in Verbindung mit „fahrlässig“ und „Bahn“, bewirkte Evokation der höchst seltenen, doch desto bedeutungsschwereren Wortprägung „Irrbahn“ aus Hölderlins Ode „Der blinde Sänger“, der älteren Fassung von Chiron.
Vergleichbare Beobachtungen ergeben sich auch, mutatis mutandisy bei der vorhergehenden Zeile: „Der Lorbeer bloßen Wollens hat nie gegrünt.“ Sie freilich verdankt ihren Anspielungsreichtum weniger einer reinen Rechtschreibvariante oder einfach Brauns Wortfügung als vielmehr dem übergreifenden, von der Lorbeer-Metapher bewirkten Begriff und Gefühl menschlichen Ehrgeizes. Und außerdem ist der Vorgang hier gleichsam ein kumulativer. Denn dieser Vers evoziert mindestens drei aufschlußreiche Gedichte Hölderlins-Texte nun allerdings nicht aus der Reifezeit, sondern aus den Jugendjahren. Die einschlägigen Sätze oder Zeilen aus „Zornige Sehnsucht“, „Einst und Jetzt“ und „Die Weisheit des Traurers“ sprechen für sich selbst; ohnehin ist ihr gemeinsamer Nenner, eben der stolze und stets enttäuschte Ehrgeiz des Dichters, ein „oft behandeltes Motiv seiner Jugendlyrik“, wie man mit Recht gesagt hat. Die genannten Texte bringen dieselben Erfahrungen, dasselbe Streben und schmerzlich-widerwillige Eingeständnis von Vergeblichkeit und Scheitern zum Ausdruck, die summarisch in der metaphorischen Verdichtung von Brauns „Tagtraum“-Zeile enthalten sind:
Mich reizt der Lorbeer […].
Zurück zur Kummerstätte, wo […] du /
Weintest im Durste nach […] Lorbeer.
Aber zurück aus den Lorbeerhainen //
Stieß unerweicht die Ehre den Traurenden […].
Mit großer Wahrscheinlichkeit sind diese sämtlichen so beredten Bekenntnisse im oder um das Schicksalsjahr 1789 niedergeschrieben worden; „Die Weisheit des Traurers“ ist eigenhändig von Hölderlin auf das Jahr des Bastillesturms datiert.
Im Jahr zuvor, genauer im Oktober 1788, hatte Friedrich Hölderlin, zusammen mit seinem Freund und Landsmann Georg Wilhelm Friedrich Hegel, das berühmte Tübinger Stift bezogen; und beide wurden bekanntlich bald glühende, ja enthusiastische Bewunderer der Französischen Revolution. Nicht minder bekannt ist der intensive und fortgesetzte Gedankenaustausch zwischen ihnen, der sich während ihrer gemeinsamen Studienzeit vollzog. So dürfte es wohl kaum überraschen, daß die ursprüngliche – oder vielleicht, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, sogar ausschließliche – Quelle für Volker Brauns Zeile ein Diktum Hegels ist. Unwiderlegbar läßt sich die betreffende Hegelsche Formulierung „dingfest machen“, wie Braun dies selber ausdrückte. Hegels „Zusatz“ zum Abschnitt 124 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts lautet folgendermaßen: „In magnis voluisse sat est hat den richtigen Sinn, daß man etwas Großes wollen solle, aber man muß auch das Große ausführen können: sonst ist es ein nichtiges Wollen. Die Lorbeeren des bloßen Wollens sind trockene Blätter, die niemals gegrünt haben.“
Wären demnach, so ist zu fragen, die vorher aufgedeckten Beziehungen zwischen der Zeile Brauns und jenen Hölderlinschen Jugendgedichten durch die wortwörtliche Übereinstimmung, die hier herrscht, außer Kraft gesetzt? Indes, man darf zweierlei nicht übersehen. Zunächst befaßt sich nämlich auch Hegel selber an der genannten Stelle mit dem Hölderlinschen Motiv der persönlichen „Anerkennung […] in Ehre und Ruhm“; vor allem jedoch entnahm er seinerseits sein zitiertes Stichwort bereits einem klassischen Zitat, mit dem sein Freund und Studienkollege natürlich gleichfalls vertraut war. In einer der Elegien des Properz (II, 10, 5 f.) findet sich folgendes Distichon:
Quodsi deficiant vires, audacia certe
aaalaus erit: in magnis et voluisse sät est.
Wie man sieht, zitiert Hegel, von einer Winzigkeit abgesehen, Properz wortgetreu; er läßt sogar, ob bewußt oder unbewußt, eine zusätzliche, ziemlich ähnliche Wendung Tibulls anklingen. Und ein Zitat oder Anklang ganz ähnlicher Art begegnet denn auch – was wohl schwerlich mehr wundernimmt – bei Hölderlin. Die zweite Fassung seiner Ode „Lebenslauf“ von 1800 (die erste Fassung, die nur eine einzige Strophe aufweist, stammt von 1798) beginnt auf unmißverständlich properzische Weise:
Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
aaaAll uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
aaaaaaDoch es kehret umsonst nicht
aaaaaaaaaUnser Bogen, woher er kommt.
Die von mir hervorgehobene Wortgruppe in der ersten Zeile bedarf, denke ich, keiner Erläuterung. Überdies treten umrißhaft – ob man hinterm „umsonst nicht“ der dritten Zeile das properzische sat est erkennen will oder nicht – Vorwegnahmen sowohl der Hegelschen Rechtsphilosophie wie des Braunschen „Tagtraum“-Gedichts auch in den restlichen Strophen von Hölderlins Ode zutage. Diese Vorklänge sind teils wörtlicher, teils eher bildlicher Art. In der zweiten Strophe heißt es zum Beispiel vom „Recht“, es walte selbst „im Schiefesten Orkus […] noch“; in der dritten prägt oder verwendet der Dichter mit seinem Geständnis, er sei von den himmlischen Mächten nie „mit Vorsicht […] des ebenen Pfads“ geführt worden, unverkennbar ein Bild, das Brauns eigener unebener, so beziehungsreich als „fahrlässig“ bezeichneter „Bahn“ ganz und gar nicht unähnlich ist. Und nicht zufällig erscheint dieses Bild unmittelbar nach oder neben der Zeile über den Lorbeer des bloßen Wollens.
Damit soll keineswegs behauptet werden, Hegel und Braun seien sich solcher Hölderlin-Reminiszenzen bewußt gewesen. Was den Verfasser der Grundlinien der Philosophie des Rechts anbelangt, so ist es überaus unwahrscheinlich, daß ihm die Ode „Lebenslauf“ in ihrer zweiten Fassung bekannt war; denn sie wurde erstmals 1826 veröffentlicht, als die Vorlesungen, die dem Hegelschen Band zugrunde liegen, bereits des öfteren gehalten worden waren. Braun freilich – das dürfen wir mit Sicherheit annehmen – hatte einen so bekannten und wichtigen Text seines geliebten Hölderlin längst gelesen, und vermutlich mehr als einmal; doch findet sich gleichwohl keinerlei Hinweis darauf, daß er sich bei der Abfassung von „Tagtraum“ an ihn erinnert, geschweige denn auf ihn angespielt hätte. Trotz allem glaube ich, daß die aufgezeigten Verbindungen mit Hölderlins Jugendlyrik schlüssig und insgeheim wirksam sind, nicht anders als die Beziehungen, die sich zwischen Brauns Lorbeer-Metapher und deren Nachbarzeile einerseits und dem Hölderlinschen „Lebenslauf“ andererseits ergeben haben. Als ich Braun nach möglichen „Hölderlin-Anklängen“ in Sätzen und Wörtern wie „Was wollt ich denn?“ oder „irrdisch“ fragte, wurde ihm, wie er in einem Brief an mich nachdenklich äußerte, mit einem Male klar, „daß auch das bloße Fragen eine schöne Form der Analyse ist“. Was könne Interpretieren eigentlich Besseres leisten, erklärte er, „als das Nachsinnen vorzuführen, das Hineinhören in den vermuteten großen Kontext? Auch beim Schreiben ists doch ein Ahnen, Empfinden dieses Zusammenhängens mit den Worten anderer, Geliebter, ein ,ahnendes Zitieren‘, wenn ich diesen Begriff erfinden darf: ohne wirklich zu wissen, ob es überliefert ist; aber es ist eine gemeinsame Sprache in der neuen. So verhält es sich wohl mit den Anklängen an Hölderlin in Tagtraum […]“ Braun zufolge ist es die Aufgabe, ja geradezu „Kunst“ des Interpreten, „diesen wirklichen [!] Zusammenhang aufzuspüren. Also daß sich ,was wollt ich denn‘ von ,woher [sic] denn ich‘ herschreibt, was mir kaum bewußt war, und daß ,irrdisch‘ in ,Irrbahn‘ einen Vorgänger hat, was ich noch weniger wußte.“
Diese Bekenntnisse und Bestätigungen sind willkommen, weil sie bezeugen, inwiefern und warum Hegels Diktum aus seiner Rechtsphilosophie, obschon es die ursprüngliche Quelle der Braunschen Zeile darstellt, beileibe nicht deren einzige oder ausschließliche ist. Volker Brauns „Tagtraum“-Brief (wie wir ihn füglich nennen dürfen) erweist sich darüber hinaus als äußerst erhellend noch in manch anderer Hinsicht. Denn die Einblicke und Erklärungen Brauns sind zweifelsohne von Bedeutung nicht nur für das Verständnis seines Gedichts, sondern für Praxis und Theorie des Zitats überhaupt. Namentlich die von ihm so bescheiden vorgeschlagene Formel „ahnendes Zitieren“ scheint mir ein ungewöhnlich glücklicher Fund zu sein – eine ,Erfindung‘, mit Braun selber zu reden, die sich bei der Interpretation seines „Tagtraum“-Gedichts immer wieder förmlich aufdrängt; ja, eine Begriffs- und Wortprägung, die es in der Tat verdiente, als literarischer terminus technicus von Kritik und Forschung aufgegriffen zu werden. Nicht zuletzt natürlich unterstreicht dieser Brief mit allem Nachdruck nochmals die außerordentliche Bedeutung, die Friedrich Hölderlin in unserem Kontext zukommt. Sogar unterm riesigen Schatten Hegels gleichsam begraben, ragt Hölderlin mächtig ins Denken und Schaffen Brauns, am meisten aber in dessen bekenntnishaften „Tagtraum“.
Es sind darin nämlich noch mehr Themen verborgen, die zu solch vergleichender Betrachtung einladen. Nachweisliche Beziehungen zwar simplerer, doch kaum minder subtiler Art verbinden etwa Brauns vorletzte Strophe (besonders den Satz „Und ich saß still im Gras / Daß mich der dunkle Abend kühlte“) mit einer Vielzahl Hölderlinscher Bekenntnisse, die sich alle um die Motive des Schweigens oder der Stille, des Abends und der Kühle, die er atmet, erst recht aber um die des Ruhens und Sitzens im Gras oder unter Bäumen gruppieren. Auch diese Belege stammen selbstredend nicht aus Hölderlins Jugendjahren, sondern aus seiner Reifezeit, ja bereits aus der Zeit seiner schwindenden Lebens- und Geisteskräfte: sie rühren, anders gesagt, von einem Menschen und Dichter her, der im Begriff ist, endgültig zusammenzubrechen, um schließlich zu jenem Opfer reaktionärer Unterdrückungspolitik, philiströser Bürgerlichkeit und unfähiger Psychiatrie zu werden, das eine frühere und überwiegend deutsche Germanistik mit Vorliebe als ,umnachtet‘ zu bezeichnen pflegte. Die verschiedenen Texte, die man zum Beweis all dessen heranziehen könnte, sind begreiflicherweise viel zu zahlreich, als daß sie sich im einzelnen anführen ließen; vermerkt sei immerhin, daß gerade „Chiron“ und schon vorher „Der blinde Sänger“, neben schlagenden Motivparallelen wie „Kühle“ und „Dämmerung“, den lapidaren Satz enthalten: „Nun sitz[’] ich still allein […].“
Indes, die bedeutsamste und zugleich offenkundigste Beschwörung, und zwar nicht bloß von Hölderlins Gestalt, Schicksal und Werk, sondern auch von Hölderlins Zeit und deren Erschütterungen, ist diejenige, welche sich in der dritten Strophe von „Tagtraum“ vollzieht. Es handelt sich dabei zudem um ein vollkommen exaktes Zitat; denn die Eingangsworte dieser Strophe, „Die Völker schwiegen, schlummerten“, sind mit den Eingangsworten eines fragmentarischen Hölderlin-Gedichts von 1797/98 identisch. In gewissem Sinne ist das, was hier vorliegt, sogar eine Art Braunsches Selbstzitat vermittels eines Zitats oder, wenn man will, ein potenziertes Zitat oder Zitieren im Quadrat: weil genau dieselben Worte wiederholt in Brauns langem Erzählgedicht „Material IV: Guevara“ von 1979 auftauchen. Gleich zweimal begegnen sie, und wiederum wörtlich, im Gedichttext selbst; darüber hinaus aber bilden sie auch, wichtiger noch, dessen Motto. Nicht weniger als die ersten fünfeinhalb Verszeilen des Hölderlinschen Fragments leiten das Braunsche Gedicht über Leben und Sterben des lateinamerikanischen Revolutionärs ein. Auch die Nennung des Verfassernamens ist nicht versäumt:
Die Völker schwiegen, schlummerten, da sähe
Das Schicksal, daß sie nicht entschliefen und es kam
Der unerbittliche, der furchtbare
Sohn der Natur, der alte Geist der Unruh.
Der regte sich, wie Feuer [Hölderlin]
Doch Friedrich Hölderlin ist nicht der einzige Dichter – noch auch, wie wir hinzufügen müssen, der einzige Revolutionär −, der in Volker Brauns „Tagtraum“ beschworen wird. Wie der Jakobiner von einst, so tritt in ihnen ein moderner Marxist zu wiederholten Malen auf. Brauns zweifaches Stichwort gegen Ende seiner Einleitungsstrophe („Rad […] zu wechseln“ und „ungeduldig“) läßt sich schwerlich überhören. Denn schließlich ist das epigrammatische Gedicht „Der Radwechsel“ nicht bloß eins der vollendetsten und berühmtesten, sondern auch eins der umstrittensten aus Bertolt Brechts Buckower Elegien:
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
Der „Wagen“ auch in Brauns Gedicht, ganz wie der (nicht eigens genannte) Brechtsche, ist zu einem zeitweiligen Stillstand gekommen: „angezogen die Bremsen“, hält er, so berichtet der Dichter, „zwischen den Grenzen“ an einem fast zufälligen Ort, der – sieht man von seiner Gefährlichkeit ab – Brechts „Hang“ oder Rain an irgendeiner Landstraße in vielem ähnelt. Allerdings, setzt Braun dann, Brechts Lage und Haltung auf doppelte Weise drastisch in ihr Gegenteil verkehrend, sofort hinzu: „[…] kein / Rad war zu wechseln hier ungeduldig.“ Unter diesen Umständen wäre, offen gestanden, ein erläuternder Kommentar zu den Brechtschen Versen sehr nützlich und willkommen gewesen. Was wird an ihnen sonst noch durch Brauns glatte Verneinungen abgelehnt oder ins Gegenteil verkehrt, und sei es auch nur implizit? Liebt auch Braun, gleich seinem Mentor unter den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, das Ziel seiner Fahrt sowenig wie deren Ausgangspunkt? Oder ist dies gerade nicht der Fall? Und worin – angesichts jener von Braun so strikt zurückgewiesenen „Ungeduld“ – bestünde zunächst einmal die Aussage von Brechts eigenem, so lakonischem wie überaus widerspruchsvollem Text? Die Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe jedenfalls, die anderswo oft genug zu überflüssiger Redseligkeit neigt, liefert dazu auch nicht den Hauch eines klärenden Kommentars.
Was Brechts zweiten Auftritt in „Tagtraum“ betrifft, so benötigt er offenbar keine solchen ergänzenden Erläuterungen, obschon der Textbeleg weitaus weniger greifbar und kompakt zu sein scheint. Dennoch sind des Meisters Stimme, Wortwahl und raffinierte Rhetorik abermals unüberhörbar. Wir haben es diesmal freilich nicht mit einem unverblümten (wenn auch verzerrten oder gar auf den Kopf gestellten) Zitat zu tun; was wir vor uns haben, ist vielmehr eine Reihe von leiseren und eher verhallenden An- und Nachklängen. Doch sie setzen sich desto eindringlicher durch. Tatsächlich kommen sowohl die beinahe zwanghafte Wiederholung des Wörtchens „muß“ in Brauns vorletzter Zeile als auch seine Sprachgebung insgesamt in diesem Vers und Satz einer anderen vieldiskutierten Brechtschen Formulierung dermaßen nahe, daß jedweder Verdacht, es könne sich dabei um puren Zufall handeln, von vornherein hinfällig wird. Der fragliche Bezugstext Brauns stammt, wie man bereits ahnt, aus dem Epilog zu Brechts Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan. Einer der „Spieler“ tritt am Schluß an die Rampe und wendet sich achselzuckend und scheinbar ratlos an die Zuschauer:
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Welcher Art diese Fragen sind und worauf sie abzielen, wird dem Publikum jedoch keineswegs vorenthalten. Insistierend heißt es weiter:
Was könnt die Lösung sein?
Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andre Götter? Oder keine?
Brechts Epilog gipfelt in dem zündenden Verspaar:
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!
Doch alle diese angeblich hilflosen, bitteren und fast flehenden Fragen und Bitten sind – das ist mit Händen zu greifen – rhetorisch von Anfang bis Ende, nicht anders als die „Lösung“, die Brechts Zuschauer finden und sich handelnd zu eigen machen sollen. Die Brechtsche Antwort ist eine unbekannte oder noch unentdeckte bloß dem Anschein nach; in Wahrheit enthüllt sie sich (schon während sie formuliert wird) als Brechts üblicher Schlachtruf, sein altvertrauter Aufruf zu radikaler gesellschaftlicher Veränderung, zu Klassenkampf und Revolution.
Braun hingegen hält umgekehrt, und in vollstem Gegensatz zu Brecht, keine vorgefertigte Antwort oder Lösung bereit, so schmerzlich und unabweisbar es ihn auch bedrängt, daß er antworten und seine Wahl treffen „muß“. Verfangen im Netz der geographischen Grenzen wie der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Fronten und Lager – und zwar nicht nur der von Ost und West, sondern unleugbar auch der von Nord und Süd −, vermag das einsame Ich in „Tagtraum“ weiter nichts zu erfahren und zu vermitteln als ein vages Ahnen und dunkles Vorgefühl; aber selbst derlei bezieht sich nicht einmal auf bestimmte Taten, sondern bestenfalls auf „Worte“. Trotz aller äußerlichen Übereinstimmung stellt Brauns Vers in seinem Kerngehalt das genaue Gegenteil seines Brechtschen Bezugstextes dar. Daher mündet „Tagtraum“ auch, statt in einer emphatischen Pointe zu gipfeln, folgerichtig in eine Gebärde der Unsicherheit und des Zauderns:
Ich muß auf eine Seite, muß es.
Aber ich ahne nur meine Worte.
Zwar nicht ausdrücklich, doch dafür desto nachdrücklicher stellt Volker Braun hier den vermeintlich so schwerwiegenden, in Wirklichkeit aber recht leichtgewichtigen Brechtschen Sezuan-Epilog ebenso ernsthaft in Frage wie zuvor jene merkwürdige Ungeduld aus dem Brechtschen „Radwechsel“.
Brauns Neigung, die Zeugnisse seiner Gewährsleute zu widerlegen oder zumindest anzuzweifeln, ist indes weder auf Brechtsche Texte noch auf die Eingangs- oder Schlußstrophe seines Gedichts beschränkt. Gerade dessen Mittelstück kennzeichnet, ja krönt vielmehr ein totaler Umschwung, eine völlige und zudem ganz offene Umkehrung. Der Vers mit Brauns wörtlichem Hölderlin-Zitat, das zugleich ein Selbstzitat Brauns ist, lautet vollständig: „Die Völker schwiegen, schlummerten nun nicht mehr […].“ Das mit dieser Umkehrung hier unlösbar verknüpfte Verfahren des sich selber Zitierens ist jedoch nicht allein an Textmaterial aus älteren (klassischen oder inzwischen kanonischen) Autoren gebunden und beschränkt sich auch nicht etwa auf textliche Abwandlungen, Entgegensetzungen oder Zurückweisungen; dasselbe Kunstmittel kann im Braunschen Kontext ebensogut rein erklärenden Zwecken dienen. Ein Musterbeispiel dafür bietet bereits die Zeile unmittelbar nach dem so gründlich ergänzten Hölderlin-Zitat. Sie klingt zwar zunächst geheimnisvoll: „Die Seltenzeit erblühte oktoberlich […].“ Doch wir brauchen, um ihren verborgenen Sinn zu entschlüsseln, lediglich einige Seiten in Langsamer knirschender Morgen umzublättern – nämlich bis wir zu dem unmittelbar vor „Tagtraum“ gedruckten Text gelangen, dem aus Versen mit anschließendem Prosastück bestehenden „Material VIII: Der Eisenwagen“. Schon dessen Auftakt ist eindeutig genug:
Frühjahre der Völker. Seltenzeit
Wenn sie ausgehn, aus ihrem Schlummer
Ins Freie. Das Eis
Der Strukturen bricht, und es hebt den Nacken neugierig
Der Unterdrückte.
Angesichts solcher Belege dürfte es, meine ich, außer Frage stehen, daß der Ausdruck „Seltenzeit“, der zunächst so geheimnisvoll wirkt, und das im Kontext ähnlich geheimnisvoll wirkende (weil als „oktoberlich“ bezeichnete) Erblühen sich in „Tagtraum“ auf paradoxe Weise miteinander verbinden, um die Vorstellung von Zeiten und ganzen Epochen des Umsturzes und der Revolution zu wecken, so wie das einfachere und auch einleuchtendere Nebeneinander von „Frühjahre der Völker“ und „Seltenzeit“ aus „Der Eisenwagen“ selbst, in Verbindung mit den Bildern und Beschreibungen, die darauf folgen, jene epochalen Umwälzungen nicht mehr bloß dunkel andeutet, sondern rundheraus beim Namen nennt.
Daß Brauns Ansichten von den Völkern und deren Schlummer hölderlinische sind, liegt auf der Hand. Aber damit noch nicht genug. Bei näherem Zusehen geraten nämlich die mannigfachen Wechselbeziehungen zwischen seinen beiden Gedichten und insbesondere zwischen den zwei benachbarten (und bezeichnenderweise durch keinerlei Interpunktion getrennten) Verszeilen aus „Tagtraum“ urplötzlich in Bewegung, um zusätzliche und ebenso ausgedehnte wie ihrerseits an Beziehungen reiche Dimensionen zu eröffnen. Diese Zusammenhänge, die vor allem Hölderlins umfänglichstes und mit jenem Gedichtfragment von 1797/98 ungefähr gleichzeitiges Werk betreffen, sind einerseits epischer, lyrischer und philosophischer Art, andererseits aber zutiefst historischer wie hochgradig politischer Natur. Es geht, mit einem Wort, um nichts Geringeres als den zweibändigen Hölderlinschen Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland, der 1797 bzw. 1799 herauskam. Dessen eigentlichen Erzählstrang bildet der mißlungene Aufstand, den die Griechen 1770 gegen die Tyrannei ihrer türkischen Herren unternahmen – oder, genauer gesagt, ebendieser Aufstand soll im Bilde veranschaulichen, welche Folgen die Französische Revolution in deutschen Landen zeitigte oder hätte zeitigen können: Hyperions Geschichte spiegelt die Hoffnungen, Bemühungen und zuletzt das Scheitern von Hölderlins eigener Generation, ja das seiner engsten Freunde und seiner selbst. Kurzum, der unglückliche Versuch, die alte Herrschaftsordnung in Schwaben umzustürzen und an ihrer Statt im Anschluß an die Ereignisse in Frankreich eine Republik zu errichten, wurde von Hölderlin auf seinen Roman und dessen Helden projiziert. Hyperion oder der Eremit in Griechenland stellt zwar nicht ausschließlich, aber doch in beträchtlichem Ausmaß ebensosehr eine fiktionale (geistige) Autobiographie seines Verfassers wie eine figurative (philosophische) Revolutionsgeschichte von dessen Zeit dar. Niemand anders als beider Protagonist – dieses kaum verhüllte und mit unverhohlen subversivem Ideengut und aufrührerischem Tun beschäftigte alter ego des Dichters – hatte bereits die gleiche bildhafte Formel verkündet, die Hölderlins Jünger im 20. Jahrhundert auf ebendieselbe „Seltenzeit“ der Revolution anwenden sollte: „Frühling der Völker.“ Gewiß, Braun zieht, wie ersichtlich, die Formulierung „Frühjahre der Völker“ vor; doch was in jeder dieser Prägungen und der sie enthaltenden Dichtungen den Ausschlag gibt, ist ganz offensichtlich die Grundvorstellung, die sie teilen, wie auch die ihnen gemeinsame, so beredte und beziehungsreiche Bildlichkeit, weniger irgendwelche buchstäblichen Textentsprechungen – obschon es selbst an solchen keineswegs mangelt, im Gegenteil. Sogar die Schreibweise „irrdisch“, die sich als so überaus rar in Hölderlins Schriften erwiesen hat und die dennoch in Brauns Gedicht so große Bedeutsamkeit gewinnt, erscheint mehrmals im Hyperion-Roman; gar nicht zu reden von der Fülle und Vielfalt anderer Worte und Wendungen, Bilder und Motive, die in Brauns „Tagtraum“ und noch darüber hinaus bei ihm wiederkehren. Sie umfassen nicht nur seinen Hölderlin-Hegelschen Lorbeer des bloßen Wollens („Dir ist dein Lorbeer nicht gereift […]“), sondern auch seine Empfindungen der Sehnsucht nach lindernder Kühle („Ich dürste […] nach Kühlung […]“) oder des stillen Ruhens im Gras („und […] wenn ich im Grase ruht’ […]“). Sowohl der glorreiche Frühling der Völker als auch dessen Welken und Wiedervergehen bestimmen, von 1789 an, Hölderlins Denken und Dichten wie sein Leben überhaupt auf weite Strecken – bis er dann, bereits halb gebrochen, im Jahre 1806 von den herrschenden Mächten vollends zugrunde gerichtet wurde. Höchst zutreffend hat Pierre Bertaux deshalb einerseits Hölderlins „ganzes Werk“ als eine „durchgehende Metapher der Revolution“ und andererseits Hölderlins Schaffen seit 1792 als „das lange Nachhallen des Frühlings der französischen Revolution“ definiert. Was den Hyperion-Roman im besonderen angeht, so nannte ihn schon Ernst Bloch, und nicht minder zutreffend, „dies beschwörende Requiem auf den entschwundenen Citoyen“.
Kommen wir zum (vorläufigen) Schluß. Die sechs alkäischen Strophen, die Volker Braun sozusagen in letzter Minute in die ostdeutsche Ausgabe seines Lyrikbandes eingefügt hat, sind übervoll von panrevolutionärem Widerhall, dem vielfachen Echo von Aufruhr und Rebellion, von Aufständen, Volkserhebungen und gesellschaftlich-geschichtlichen Umwälzungen mit all ihren Widersprüchen; ja, in gewissem Sinne bilden Brauns „Tagtraum“-Verse eine durchgehende oder übergreifende Hölderlinsche Metapher – nunmehr freilich des innersten Wesens jeglicher Revolution, jeglicher zugleich „oktoberlich“ erblühenden und „unterm heißen Hundsstern“ (wie es bei Braun außerdem heißt) wieder welkenden und entschwindenden „Seltenzeit“ der „Frühjahre der Völker“. Ich betone diese jahreszeitlichen Unstimmigkeiten deswegen so sehr, weil sie nämlich – das ist mittlerweile wohl deutlich geworden – rein äußerliche und im Grunde bloß scheinbare sind. Ihr gemeinsamer Nenner wie der des gesamten Gedichts ist die Revolution oder Revolutionsgeschichte schlechthin in ihrer Größe wie in ihrer zerreißenden Widersprüchlichkeit. Denn daß zum einen das Wort „oktoberlich“ auf die Russische oder eben Oktoberrevolution verweist, dürfte so unverkennbar sein wie jener mittelbare, durch das in Brauns „Guevara“-Versen erst recht zentrale Hölderlin-Zitat von den erwachenden Völkern bewirkte und durch die „Tagtraum“-Zeile von der „Zukunft“ als „Mulattin“ ergänzte Hinweis auf die Befreiungskämpfe der sogenannten Dritten Welt; und entsprechend steht es zum ändern, so scheint mir, mit dem ebenfalls mittelbar, doch darum nicht minder untrennbar mit „Tagtraum“ verknüpften „Eisenwagen“-Text, dessen Konkretisierung des Revolutionsgeschehens schon im Titel auf Lenins berühmtes Bild von den „Lokomotiven der Geschichte“ deutet. Daß dieser „Eisenwagen“ unterderhand – will sagen, auf dem Umweg über Arthur Rimbauds „Bateau ivre“ – sogar die Pariser Commune von 1871 zu evozieren vermag, zählt allerdings, wie ich gerne einräume, zu den ausgesprochen kryptischen Zusammenhängen, in die Brauns Gedicht auf so vielfältige und erstaunliche Weise verflochten ist.
Ähnliches gilt auf seine Art auch für den in „Tagtraum“ so gegensätzlich wie auf den ersten Blick gar nicht unerwartet beschworenen „heißen Hundsstern“, also das Gestirn des Hochsommers und seiner Glut vornehmlich im August. Der Hundsstern oder „dörrende Sirius“ (Alkaios) und der Monat August bestätigen nämlich einerseits noch einmal das tiefe und oftmals untergründige, teils anspielende und teils (ahnend) zitierende Verwurzeltsein Brauns und seiner alkäischen Strophen in Leben, Welt und Schaffen Friedrich Hölderlins; andererseits jedoch eröffnen sie abermals – und nicht zuletzt durch ihre makabre Koppelung mit den selber tierisch jaulenden „Hundeführern“ aus Brauns fünfter Strophe – weitere und sowohl persönlich wie insbesondere historisch höchst erhellende und dennoch auch schmerzlich umdüsterte Dimensionen. Wenn etwa, wie bereits angedeutet, ausgerechnet der Erfinder der von Hölderlin vielleicht am meisten geschätzten und am liebsten verwendeten klassischen Strophenform ebenfalls vom Hundsstern und dessen dörrender Hitze dichtet, so ist das beileibe weder die einzige noch die beredteste Verbindung zu Braun und dessen so häufig und doppelsinnig vor der Sonnenglut Zuflucht suchendem dichterischen Vorbild. Gerade Alkaios preist in einem seiner Lieder, das nicht zufällig von Hölderlin ins Deutsche übersetzt wurde, die beiden von diesem so bewunderten antiken Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die in Hölderlins Lyrik wie in den verschiedenen Fassungen seines Hyperion-Romans, ja sogar in seinem noch im Tübinger Stift verfaßten Essay „Geschichte der schönen Künste unter den Griechen“ wiederholt und begeistert gerühmt werden. Und wie die mißlungene griechische Erhebung von 1770, so erscheint die erfolgreiche Auflehnung gegen den Despotismus im alten Griechenland bei Friedrich Hölderlin (und damit letztlich, wie vermittelt auch immer, bei Volker Braun) im Zeichen und vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und ihrer widersprüchlichen Folgen.
Freilich, wie dies alles im einzelnen vor sich geht und wie sich dabei der Braunsche „Tagtraum“ zugleich als lastender Alptraum zu enthüllen beginnt, muß einer gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben und kann hier lediglich stichwortartig skizziert werden. Namentlich die Bedeutung oder Funktion des Monats August, in dem Brauns Gedicht nachweislich entstanden ist, erweist sich als eine überaus komplexe: Beziehungen nicht allein zu den Prager Ereignissen vom August 1968, sondern darüber hinaus schon zu denen des 17. Juni 1953 – und zwar, bezeichnend genug, über Brechts Buckower Elegien sowie über sein Arbeitsjournal vom August jenes Jahres – werden bei längerem „Nachsinnen“ (Braun) genauso zwingend und verräterisch einsichtig wie die geheimen Berührungspunkte mit wesentlich späteren Notizen des „Tagtraum“-Dichters, die „21., 22. August 1984“ überschrieben sind und in denen nicht nur von einem „zerreißenden Schwebezustand“ die Rede ist, sondern wo verstärkend und so kryptisch-lakonisch wie freimütig angemerkt wird: „In dem ich zerrissen schwebe, von welchen Hunden.“ Doch, wie gesagt, all dies kann hier nicht mehr des Näheren ausgeführt werden, sowenig wie die unlösbare Verankerung von Brauns Titel in Ernst Blochs philosophischem Hauptwerk von 1959, in dem das Tagträumen eine entscheidende antizipierend-utopische Funktion und Bedeutung besitzt. Brauns unüberhörbare Berufung auf Das Prinzip Hoffnung hält dem immer düsterer und bedrückender werdenden Alptraum in seinem „Tagtraum“ von Anfang an die Waage; auch sie trägt dazu bei, sämtliche Gegensätze und Widersprüche in qualvoll zerrissener, doch ebendarum noch offener Schwebe zu halten.
Mit alldem sei abschließend nochmals festgestellt, daß Brauns literarische und historische Zitationen und Selbstzitationen (in der vollen Mehrdeutigkeit des Wortes) trotz aller scheinbaren Ähnlichkeiten schlechterdings nichts mit jenen beliebigen, willkürlichen und gänzlich unverbindlichen Zitatspielereien und Sprachgaukeleien zu tun haben, die heutzutage, sinnigerweise aus dem einst so revolutionären Frankreich importiert, in Deutschland ebenfalls schon im Schwange sind und mit denen überdies, wie ihre Verüber sich brüsten, ein „ostentativer Verzicht auf jede Sinnproblematik“ einhergeht. Braun ist sich dessen vollauf bewußt; er hat nicht umsonst im Entstehungsjahr seines „Tagtraum“-Gedichts eine Satire auf „Das neueste französische Maskentheater“ (den postmodernen „Mummenschanz“, wie er sich jüngst erst ausdrückte) geschrieben und inzwischen veröffentlicht. Auch in dieser Hinsicht war und ist Volker Braun – damals, als er seine bekenntnishaften Verse formte und so rasch zum Druck gab, wie heute, nachdem sich so vieles geändert und so wenig wirklich gewandelt hat – von jedweder feigen oder gar selbstzufriedenen „Konsolidierung“ denkbar weit entfernt.
Reinhold Grimm, Neue Rundschau, Heft 4, 1990
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