Reinhold Grimm: Zu Walter Helmuth Fritz’ Gedicht „Aber dann?“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walter Helmuth Fritz’ Gedicht „Aber dann?“ aus Walter Helmuth Fritz: Werkzeuge der Freiheit. –

 

 

 

 

WALTER HELMUT FRITZ

Aber dann?

Das Gedicht steht
in dem Buch?
Schlag auf, lies.
Gut, es hält
einen Augenblick still.
Aber dann?
Siehst du nicht,
wie es sich rührt,
die Seite verläßt,
schwebt, fliegt
und allmählich
unsichtbar wird,
ehe es sich
in dir niederläßt?

 

Der schwingende Satzbogen

Zweierlei ist es, was mir dies Parlandogedicht auf Anhieb wert und nachdenkenswert gemacht hat: zum einen der poetologische Gehalt, den Walter Helmut Fritz hier vermittelt, und zum andern das poetische Bild, in das er ihn kleidet, das sich allmählich vor uns entfaltet und das die Aussage trägt, ja, selber schon ist.
Gewiß, Aussage und Gehalt und im Grunde sogar das sie krönende Bild sind einfach – zu schlicht und einfach fast meint man zunächst. Denn daß sich Verse auf Druckseiten finden, also in Büchern oder auch Zeitschriften, weiß doch ein jeder; es ist das Selbstverständlichste von der Welt. Wozu es eigens noch aussprechen, und vollends wieder in Versen?
Aber Fritz – man achte auf den Zeilensprung – fragt zurück. Kaum merklich die Stimme hebend, wiederholt er:

Das Gedicht steht
in dem Buch?

Wirklich? Und freundlich zuredend, gleichsam besänftigend, empfiehlt der Dichter dem Leser: Schlag doch das Buch einmal auf, lies. (Nimm dir ruhig Zeit, soll das heißen; lies langsam, genau.)
Gut, räumt Fritz bereitwillig ein, das Gedicht verweilt auf der Seite, ist auf ihr festgebannt, hält dort still. Oder so scheint es zumindest einen Augenblick lang. Aber dann? Was begibt sich danach? Was geschieht, fragt der Dichter den Leser, wenn die Zeilen und deren Anordnung wahrgenommen, die Verse zu Ende gelesen sind? Und nun folgt als Antwort jenes schöne, bewegliche, sorgfältig durchgestaltete Bild, das den Vorgang der Aufnahme oder eben der eigentlichen Verwirklichung des Gedichts nicht etwa bloß schildert, sondern förmlich verkörpert und den gesamten zweiten Textteil in Form eines einzigen großen schwingenden Satzbogens überspannt.
Poetica in nuce. Gedichte stehen nämlich nirgendwo fertig da; Gedichte ent-stehen erst jeweils, und jedesmal neu, im lauten, leisen oder meist stummen Vollzug echten Lesens und damit Aneignens, das immer zugleich und zuvörderst ein Nachschaffen ist. Natürlich läuft derlei auf einen sogenannten Gemeinplatz hinaus: auf nicht mehr, doch auch auf nicht weniger als eine wirkungsästhetische und rezeptionstheoretische (oder letztlich und lediglich psychologische) Binsenwahrheit; und natürlich ist Walter Helmut Fritz sich darüber vollauf im klaren. Gerade solche gängigen Vorstellungen aber, solche allzu vertrauten, fraglos hingenommenen Wahrheiten, so will er uns bedeuten, kann man ja nicht oft genug aussprechen. Freilich, was die Literaturwissenschaftler in gelehrten Abhandlungen mühsam zu ertasten suchen und umständlich darlegen, ergreift und vollendet der Dichter gelassen in seinem in sich geschlossenen Bild.
Ist jedoch dies Bild, mit dem der schöpferische Nachvollzug des aus starren Lettern zusammengesetzten Gedichts als wirbelndes Auffliegen, Kreisen und Schweben und schließlich den Augen Entschwinden eines Vogelschwarmes geschaut und verwirklicht wird, tatsächlich dermaßen in sich geschlossen? Das nämlich, was es unwillkürlich – und vor allem zuletzt, wenn der Vogel –, lies Letternschwarm unsichtbar wiederkehrt und aufs neue sich… niederläßt – im empfänglichen Leser wachruft, ist ein bei aller Verschiedenheit im Kern völlig gleiches und ebenso schönes poetisches Bild aus älterer Dichtung. „Denn am Ende des Lebens“, schrieb einst Goethe, „gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, früher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfel der Vergangenheit glänzend niederlassen.“ Ob dem Verfasser von Aber dann? davon etwas bewußt oder halb bewußt gewesen ist, vermag ich nicht zu sagen. Erlaubt und berechtigt ist solch „ahnendes Zitieren“ (Volker Braun) in jedem Fall, und zwar beim Leser nicht minder als beim Dichter. Leben Verse nicht ohnehin stets aus der Erinnerung und im Gedenken an den Tod?
Auch Einsichten dieser Art sind ja inzwischen schon poetologisches Allgemeingut geworden; derlei wird heute seinerseits, unter Rubriken wie „Intertextualität, oder „Zitation“, des langen und breiten abgehandelt. Das Gedicht von Walter Helmut Fritz hingegen benötigt zu alledem ganze vierzehn Zeilen: Poetica in nuce. Nicht nur in einer, sondern sogar in mehrfacher Hinsicht.

Reinhold Grimmaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00