– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die blaue Stunde“ aus Ingeborg Bachmann: Werke. Band I: Gedichte. –
INGEBORG BACHMANN
Die blaue Stunde
Der alte Mann sagt: mein Engel, wie du willst,
wenn du nur den offenen Abend stillst
und an meinem Arm eine Weile gehst,
den Wahrspruch verschworener Linden verstehst,
die Lampen, gedunsen, betreten im Blau,
letzte Gesichter! nur deins glänzt genau.
Tot die Bücher, entspannt die Pole der Welt,
was die dunkle Flut noch zusammenhält,
die Spange in deinem Haar, scheidet aus.
Ohne Aufenthalt Windzug in meinem Haus,
Mondpfiff – dann auf freier Strecke der Sprung,
die Liebe, geschleift von Erinnerung.
Der junge Mann fragt: und wirst du auch immer?
Schwör’s bei den Schatten in meinem Zimmer,
und ist der Lindenspruch dunkel und wahr,
sag ihn her mit Blüten und öffne dein Haar
und den Puls der Nacht, die verströmen will!
Dann ein Mondsignal, und der Wind steht still.
Gesellig die Lampen im blauen Licht,
bis der Raum mit der vagen Stunde bricht,
unter sanften Bissen dein Mund einkehrt
bei meinem Mund, bis dich Schmerz belehrt:
lebendig das Wort, das die Welt gewinnt,
ausspielt und verliert, und Liebe beginnt.
Das Mädchen schweigt, bis die Spindel sich dreht.
Sterntaler fällt. Die Zeit in den Rosen vergeht: –
Ihr Herren, gebt mir das Schwert in die Hand,
und Jeanne d’Arc rettet das Vaterland.
Leute, wir bringen das Schiff durchs Eis,
ich halte den Kurs, den keiner mehr weiß.
Kauft Anemonen! drei Wünsche das Bund
die schließen vorm Hauch eines Wunsches den Mund.
Vom hohen Trapez im Zirkuszelt
spring ich durch den Feuerreifen der Welt,
ich gebe mich in die Hand meines Herrn,
und er schickt mir gnädig den Abendstern.
Die blaue Stunde ist eine physikalische Erscheinung der Atmosphäre. Sie wird durch die Streuung des Sonnenlichts an den Molekülen der Luft verursacht und beruht auf den unterschiedlichen Temperaturen von Sonne und Firmament. Es ist die Zeit zwischen Sonnenuntergang und heraufziehender Nacht. Laut Lexikon dauert sie in Mitteleuropa dreißig bis fünfzig Minuten. Die Kurzstunde gehört den Melancholikern, den Träumenden und Liebenden.
Das Poem, 1955 erstmals publiziert, besticht durch Ton, Pathos, intellektuellen Glanz. Es versagt sich das Spiel mit ausgefallenen Bildern, gesuchten Vergleichen, es gibt kein raffiniertes Versschema, kein musikalisches Spiel mit Reimen oder Vokalklängen. Seine Poesie, auch seine konstruktive Festigkeit, bezieht es aus dem Zusammenspiel weniger Wörter, die mit Bedeutung, mit Assoziationen auf geladen sind. Die philosophisch gebildete Dichterin war ins Denken, in Begriffe, in Wörter verliebt. „Ihr Worte, auf, mir nach!“, beginnt ein Gedicht aus diesen Jahren. Die Bildwörter, die sie hier benutzt, heißen Linde, Lampe, Wind und Mond. Sie verweisen auf Licht und Dunkel, auf Bewegung, auf Liebe. Das Echo, das sie einander zurufen, die Veränderungen, denen sie unterworfen werden, machen die Kunst des Gedichtes aus.
Es zeigt eine bekannte Situation. Zwei Männer interessieren sich für dieselbe Frau. Die drei reden, träumen aneinander vorbei. Der alte Mann der ersten Strophe hat das Leben hinter sich: die Bücher tot, das Haus kein heimeliger Ort, zwischen den Polen des Lebens fließt kein Strom mehr, und die Liebe ist wie das Mauerwerk einer Festung durch Erinnerung zerstört. Letzte Gesichter sind ihm entschwunden. Für einen Abend sehnt er sich nach Nähe. Doch Wörter, die sonst Liebesseligkeit, Geborgenheit signalisieren, sind mit Kälte aufgeladen. Die Dunkelheit der Nacht, gar des Todes scheint nahe, wiewohl die „dunkle Flut“ vordergründig das Haar der Frau meint. Die Linden, in deren Schatten, wie die Lieder wissen, man der Liebe pflegt, süße Träume träumt, haben sich wider den Mann verschworen. Die Lampen wirken krank, der Mond, der alte Hausfreund der Liebenden, hat den Anschein eines technischen Gebildes, er pfeift wie eine Lokomotive. Wird der Alte aus diesem Traum abspringen, in die Liebe, in den Tod?
Die zweite Strophe gehört einem draufgängerischen jungen Mann, der Befehle erteilt. Die Frau soll sich seinem Werben öffnen, Ewigkeitsschwüre, Zaubersprüche aufsagen. Die Leitwörter sind ins Freundliche gewendet. Der Wind steht still, die Stunde der Liebe scheint gekommen. Der Jüngling malt sich aus, wie sie ablaufen soll, mit Blüten, offenem Haar, verhängter Lampe. Sein Traum: dass die intime Begegnung, die jenseits der Worte liegt, die kurz bemessene Zeit der blauen Stunde überdauern wird. Dann in der dritten Strophe eine Intensivierung des emotionalen Klimas. Neue Wörter erstrahlen, Feuer und Eis, Rosen und Sterne. In der Anemone, dem Buschwindröschen, klingen verhalten Mond und Wind (griechisch anemos) nach. Die Frau, auf die sich das Wünschen und Begehren der Männer richtet, setzt ihrem Reden und Fragen Schweigen entgegen. Im sinkenden Tag, wenn sich der Himmel rot färbt, begegnet sie den alltäglichen, den konventionellen Zumutungen der Herren mit mildem Spott. Sie entzieht sich ihnen durch ein fulminantes Rollenspiel. Während die Männer von ihrem Arm, ihrem Mund träumen – banal gesprochen, sie als Altenpflegerin oder Liebedienerin sehen –, erscheint sie als Sterntaler- und Blumenmädchen, als kämpferische Heroine, Frau am Steuer, Zirkusprinzessin.
Sie bittet nicht, sie fragt nicht, sie will alles: den Himmel. Triumphierend nimmt sie die Erfüllung ihrer Wünsche vorweg. Ihr Geliebter ist wie ein Gott allmächtig und gnädig. So kann sie ohne feministische Hemmungen von ihm sprechen als ihrem „Herrn“. Er schickt der, die zu ihm aufblickt, den Abendstern, den die Astronomen Venus nennen – das Symbol der großen, der immerwährenden ewigen Liebe. Zugleich ist er der reale Himmelskörper, der die blaue Stunde beendet.
Ein Liebesgedicht, das zur Bewunderung einlädt. Und doch geht von ihm ein kalter Luftzug aus. Es zeigt ein Gedankenexperiment, das nicht von ungefähr in der Abendkühle abläuft.
Renate Schostack, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
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