Renate Schostack: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Wilna“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Wilna“ aus Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in 6 Bänden. Band I: Die Gedichte. 

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Wilna

Wilna, du reifer Holunder!
Mit grünen Augen
ist deine Wolfzeit versunken.
Ur und Bär und der Eber,
da sie erschreckte der Hornschrei
Giedimins, sie hielten
erst am Njemen atmend,
im Eichwald über dem Ufer,
äugten hinab. Es hat
Mickiewicz besungen der wilder
leuchtenden Tage Glanz
und das Düster. Doch leicht
einherflog die zärtliche Wilia.

Ach, der Himmel, ein weißes,
wehendes Tuch, geschwungen
schön von den Liedern der Dörfer.
Die Birkentänze
hell in die Felder davon –

Doch es singt Lizdejko
nicht mehr, der Bärtige schläft,
heißt es, im endlos zerspülten
Ufersand, wo aus dem See
Trakai sich hob, die dunkele
Burg, aus Schimmer der Vorwelt.

Seine Gesänge, den schweren
Ufern gleich, waldigen, alten,
die der Wilia entgegen
wandern, ihrem hüpfenden
Gang, und den Winden von Wilna;
rauchigen, die um das Haupt
der herrlichen Tochter gegangen.

Stadt der Könige, immer
singen die Ebenen alle,
alle die weißen, vom Blut
bitter der Söhne,
dir mit des Weißbarts hallender
Stimme, wie Eisgang, mit schmerzlichem
Festgetön deiner Juden,
rotem Sausen der Kiefern zu.

 

Wolfzeit und Festgetön

Das Gedicht beginnt wie mit Gongschlägen. Die lautmalerischen Klänge verraten das Ohr des Musikers, der Bobrowski ursprünglich hatte werden wollen. Dieser Anfang, heroisch und rätselhaft zugleich, ist indessen ganz konkret. Dem Poeten, dessen Landschaftsbilder von Tieren und Pflanzen, vor allem Bäumen, belebt sind, geht es freilich weder um Zoologie noch Botanik. Der Holunder mit seinen dunklen, süßen, herben Beeren ist eine Chiffre, der erste Vers enthält wie ein Konzentrat das, was folgt: das zivilisatorische Gebilde, die Zeit, die Natur. Als Frau redet der Dichter die Stadt an, die herrliche Tochter und Mutter der gefallenen Söhne, wählt deshalb ihren weiblich klingenden deutschen Namen. Das Gedicht beschwört etwas Gewesenes. Der Autor meidet alle Hinweise auf die Stadtgestalt, ihre üppige barocke Pracht läßt er außer acht. Nicht nur, weil er die Stadt Vilnius nicht gesehen hat, sondern weil Details dem, was er anstrebt, im Wege stünden. Sein Wilna ist ein Gefäß der Geschichte.
Dennoch: die Stadt und die Landschaft, in die sie eingebettet ist, sind nicht erfunden. Geographischen Hinweisschildern gleich stehen die Namen der Gewässer in den Versen. Sogar seinen Lieblingsfluß, die ferne Memel, litauisch Njemen, schmuggelt der Flußliebhaber Bobrowski in seine Strophen. Der Dichter ist kein Sonntagsmaler auf den Spuren Chagalls, trotz der Farbadjektive, die ihn, den Verehrer Klopstocks und Hölderlins, auch als Adepten der Expressionisten ausweisen. Der Raum, den er beschwört, wird transparent für die Zeit. Der Dichter ruft das Vergangene herauf, um es zu feiern.
Daß es auch hier um Reales geht, zeigen die Namen: Giedimins oder Gediminas, der Großfürst, der den Grundstein legte zu Litauens spätmittelalterlicher Größe, fand bei der Jagd die Stelle für seine Hauptstadt: Lizdejko, der litauische Sänger, der Weißbart, deutete ihm den Gründungstraum; Mickiewicz, der große polnische Nationaldichter der Romantik, lebte in Litauen, das jahrhundertelang mit der Nachbarnation zusammengeschlossen war; schließlich die Juden, sie bleiben namenlos. Bobrowski verweist damit auf das Völkergemisch von Litauern, Polen, Juden, auf dem die Kultur des Landes einst beruhte. Glanz und Düster kennzeichnet diese Geschichte, Birkentänze und Eisgang. Wolfzeit und Festgetön. Vilnius galt seit dem achtzehnten Jahrhundert als „Jerusalem des Ostens“. Zuzeiten stellten die Juden fast die Hälfte der Einwohner. Zu Beginn der deutschen Besetzung 1941 war mit rund sechzigtausend Menschen noch ein Viertel der Bevölkerung jüdisch. Die meisten wurden von den Nationalsozialisten ermordet, anfangs in den Wäldern vor der Stadt erschossen. Das „rote Sausen der Kiefern“ mag auch darauf deuten. Im ungeheuer verdichteten Schluß, den man mehrfach lesen muß, um die Konstruktion zu verstehen, ballen sich die poetischen Kürzel fast zu einem grammatikalischen Knoten. Die Suggestion der Bilder wird hier zu einem Sog, der in den Abgrund zu stürzen droht. Bobrowski, 1917 in Tilsit geboren, wo seine Familie südlich und nördlich der Memel, also auf dem deutschen und litauischen Ufer lebte, war tief geprägt von dieser Welt, die er mit dem alten Namen Sarmatien belegte. Er plante, einen „Osteuropäischen Divan“ zu schreiben, der dieses Land im Gedächtnis halten sollte. Vor allem aber ging es ihm, dem gläubigen Protestanten, der sich zur Bekennenden Kirche gerechnet hatte, darum, auf die „lange Geschichte von Unglück und Verschuldung“ hinzuweisen, die „seit den Tagen des Deutschen Ordens meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten.“ Niemals erhebt Bobrowski dabei den moralischen Zeigefinger, gar im Sinne des politischen Revisionismus. Alles wird Sprache, Bild. In diesem Gedicht genügt ein einziges Wort, um den Horizont aufzureißen: der Zusatz „schmerzlich“ zum „Festgetön“, das man doch eher mit froh oder laut oder schön charakterisieren möchte.
Das schwermütige Poem, das im Oktober 1955 entstand, feiert Fernes, Verlorenes. Dieser andere Ort ist die Hauptstadt eines Landes, das es nicht mehr gab. Die Sowjetunion hatte es sich 1940 einverleibt; erst fünfzig Jahre später wurde es wieder frei. In der deutschen Literatur aber, in der es kaum Stadtgedichte gibt – mir fällt nur Hölderlins Ode auf Heidelberg ein –, ist diese Elegie ohne Beispiel. Es wäre an der Zeit, ihren Verfasser neu zu entdecken.

Renate Schostackaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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