WINDSTRICH DER ZUVERSICHT
Sternengunst ist es, uns zum Gespräch zu laden, uns zu zeigen: wir sind nicht allein, und daß die Morgenröte ein Dach hat und mein Feuer deine beiden Hände.
sei all den Ernüchterten gewidmet, die schweigen und doch nicht, irgendeines Rückschlags wegen, untätig geworden sind. Sie sind die Brücken. Standhaft vor der rasenden Meute der Betrüger, über der Leere und der gemeinsamen Erde nah, sehn sie den letzten, melden sie den ersten Strahl. etwas, das herrschte, wich, verging, – erschiene es wieder, es müßte dem Leben dienen: unserem Leben der Ernten und Wüsten und worin dieses, in seinem grenzenlosen Haben, am deutlichsten wird.
Man kann nicht verrückt werden in einer Zeit, die toll ist und rast, obwohl man verbrannt werden kann, lebendigen Leibes, von einem Feuer, dessengleichen man ist.
René Char
Seit René Char in Deutschland einige strenggläubige Verehrer besitzt, wächst die Gefolgschaft seiner hiesigen Leser an. Johannes Hübner, der 1921 in Berlin geboren wurde, hat in seinen beiden Gedichtbänden Fährte und Lichtung (1959) und Herren der Gezeiten (1960) den Meister nicht verleugnet, Lothar Klünner, der dem Jahrgang 1922 angehört, seine Verse Wagnis und Passion (1960) in der Schule Chars geschrieben. Sie beide haben zusammen mit Jean-Pierre Wilhelm die Hauptwerke des Dichters unter dem Titel René Char, Dichtungen übersetzt und in Gegenüberstellung der französischen Vorlage im S. Fischer Verlag 1959 würdig herausgegeben. Mitbeteiligt war Paul Celan. Auch Johannes Poethen, der sechs Jahre jünger ist als Klünner, hat seine dichterische Arbeit von den Feuern René Chars läutern lassen.
René Char wurde 1907 in L’Isle-sur-Sorgne geboren. Er war zeitweise Weggenosse der surrealistischen Bewegung und Chef einer Widerstandsgruppe im Maquis seiner provenzalischen Heimat. Er verschmolz seine geistigen Entwürfe dem tätigen Auftrag des Bauernlandes, das Ethos seiner Kunst. Der Deckname Hypnos, den er in der Resistance führte, wird in den Feuillets d’Hypnos, die aus über zweihundert aphoristischen Stücken bestehen, zum mythischen Anruf. Sie sind dem Freunde Albert Camus gewidmet. Camus hält Char für den grössten lebenden Dichter Frankreichs: Fureur et Mystère (1948) stellt er an die Seite der „Illuminations“ und „Alcools“.
René Char beruft sich auf die verschattete Zuversicht der Vorsokratiker. Er will auf der Höhe unserer Zusammenbrüche jene „Weisheit mit Augen voll Tränen“ erneuern. Er schliesst an Heraklit an, ohne in jener Welt zu verweilen. Sein Poème pulvérisé (1947) begibt sich der antiken Dialektik, die Heraklit über Zoroaster entfaltete. Dic Atomisierung hat mit jener Welt nichts gemein. Doch sind die Wortschwärme Chars von jener unmittelbaren Frische, die den Fragmenten Heraklits eignet, und sie werden ihm ähnlich geschenkt: als späte Frühzeit eines fiebernden Intellekts. Die dichterischen Materialien haben sich emanzipiert, und sie konstituieren in ihrem Stellenwert einen Gegenkosmos. So bekommt Heraklit, der ausdrücklich erklärt, der Mensch sei ursprünglich vernunftlos und nur durch die Welt dem Logos verflochten, einen neuen Sinn und das Ethos „grösserer Tod empfängt grösseren Lohn“ erhöhten Rang. Der Aphorismus Heraklits klingt in der Mittelmeeratmosphäre Chars fort:
Der Mensch zündet, sich selber in der Nacht ein Licht an, wenn er gestorben ist und doch lebt. Im Schlaf berührt er den Toten, wenn sein Augenlicht erloschen ist, im Wachen berührt er den Schlafenden.
L’oiseau bêche la terre
Le serpent sème,
La mort améliorée
Applaudit la récolte.
Etincelle nomade qui meurt dans son incendie. Heraklit:
Denn alles wird das Feuer, das herankommt, richten und erfassen.
Der Verlag der Arche Zürich legt in der Uebersetzung Greta Wolfer-Raus und Franz Wurms Gedichte René Chars und Schriften zur bildenden Kunst vor. Ausgestattet wie immer: mit Photos und Faksimiles. Die Gedichte stammen aus Arrière-histoire du poème pulvérisé (1953) und sind mit der Ausnahme „Le bois de l’Epte nicht in den Dichtungen enthalten. Der kleine Band ergänzt also das Verlagswerk S. Fischers. Er ist den Ernüchterten gewidmet, die nicht untätig geworden sind. In ihm findet sich das grossartige Stück „Jeanne qu’on brûla verte“:
Pas de seins. La poitrine les a vaincus.
Wieder ziehn diese Verse die ärmlich gekleideten Vögel den fernen Zielen vor; wieder ist der Eifer Ausbruch der Zeit. Die Dichtung hat ausrenkende Kraft. Dem früheren Herz bleibt das Anrecht auf Heimkehr. Es lebt auf dem hermetischen Strich, der das Licht vom Schatten trennt. Wir aber sind vorausgeworfen. Unsere Wachsamkeit darf sich nicht gewöhnen, denn die Poesie lebt, von einer Schlaflosigkeit ohne Ende.
In den Schriften zur bildenden Kunst finden sich mit der Prägekraft von Gedichten jene Würdigungen, die Pierre Charbonnier, Jean Villeri, Balthus, Grillet, unermüdlich Georges Braque, Louis Fernandez, Nicolas de Staël, Victor Brauner, Wifredo Lam, Alberto Giacometti, Jean Hugo, Vieira da Silva und dem besorgten Eupalinos Ghika gelten. Die Bilder: der Gealterte herb und geklärt.
– Zu René Char. –
„In Algier sah ich ihn noch einmal von weitem, und ich glaube, er trug damals am linken Arm das berühmte Abzeichen des Maquis (…): ein gelber Fuchs auf grünem Grund. Für ihn waren Klugheit, Instinkt und Listenreichtum des Fuchses genau die Eigenschaften des guten ,Maquisards‘, der unmittelbar nach der Erfüllung seines Auftrags wieder im geheimnisvollen Dunkel des Waldes (von daher die grüne Hintergrundfarbe) verschwinden mußte.“ Es ist der Dichter René Char, dessen Persönlichkeit hier mit dem Wappenbild der Résistance-Kämpfer zusammengebracht wird: unter dem Decknamen „Capitaine Alexandre“ war er zur Zeit der Okkupation Südfrankreichs der Kopf einer Abteilung von Untergrundkämpfern; im Juli 1944 wurde er nach Algerien abkommandiert, um dort alliierte Einheiten auf den Kampf gegen die Besatzungstruppen vorzubereiten. Die zitierte Beschreibung wiederum stammt von einem Colonel der französischen Marine, und sie findet sich im Anhang des mehr als tausend Seiten umfassenden Pléiade-Ausgabe von Chars dichterischem Werk.
Man könnte den Textausschnitt samt der Literaturangabe freilich vernachlässigen, wären hier nicht bereits interessante Indizien zu entdecken, die ermessen lassen, welche Bedeutung René Char in der literarischen Öffentlichkeit Frankreichs zugewiesen wird. Einzigartig ist nämlich die Tatsache, daß ein Autor – noch dazu ein Lyriker – bereits zu Lebzeiten durch die Aufnahme in die ehrwürdige Klassikeredition der Pléiade geehrt und damit in das Sternbild der Größen der französischen Literatur aufgenommen wird. Bemerkenswert aber auch, daß in dieser sorgfältig für den wissenschaftlichen Gebrauch ausgearbeiteten Ausgabe den Zeugnissen von Personen Platz eingeräumt wird, die von mehr oder weniger privaten Begegnungen mit René Char erzählen. Aus irgendeiner verborgenen Dynamik heraus drängt sich immer wieder die Lebensgeschichte dieses Lyrikers vor das Werk, wobei die Dichterexistenz bisweilen in legendäre Dimensionen gerückt wird. Der französische Colonel beschreibt den „Capitaine Alexandre“ der Résistance zunächst als bescheidenen Menschen, der die Soldaten auf kluges und zielgerichtetes Handeln vorbereitet, der sich durch sein freundschaftliches Verständnis und seine Ausstrahlung allerdings auch schlagartig die Achtung der gesamten Heereseinheit erwirbt. So ist in jenem oben beschriebenen Blick „von weitem“ dann nicht nur die Zufallsbedingung der letzten Begegnung wiedergegeben, sondern es ist gleichzeitig auch der respektvolle Abstand zu einer Autoritätsperson festgehalten, der fast etwas Charismatisches anhaftet. In väterlicher Besonnenheit hatte der „Capitaine Alexandre“ sein Wissen und seine Erfahrungen an die Soldaten weitergegeben, bevor er plötzlich wieder verschwand: gelber Fuchs auf grünem Grund.
In der Aura der Dichterpersönlichkeit also verwandelt sich alles in Bilder, und auch wissenschaftliche Texte über René Chars Dichtung geraten in diesen mythischen Bann. Eine solche „Etude critique“ beginnt folgendermaßen: „Unter den Zweigen eines Kastanienbaums von Ménilmontant sprechen ein Philosoph und ein Dichter über das, was sie wissen und über das, was sie sind. Martin Heidegger und René Char erlernen die Sprache ihres Dialogs. Paris ist in den Ferien. Wir schreiben das Jahr 1955.“ – Auch hier der verklärende, der ehrfürchtige Blick, unter dem das Atmosphärische sich zum Bild verdichtet, welches bereits ansatzweise in der Gegenüberstellung von „Wissen“ und „Sein“ allegorische Tiefe gewinnt. Dieses Spannungsverhältnis, leicht umformuliert zum Gegensatz zwischen „pensée“ und „poésie“, zwischen „Gedanke“ und „Gedicht“, wird der folgende Aufsatz dann diskutieren, er wird die bildhaft exponierte Konstellation beinahe spielerisch fortspinnen, bis in der Überblendung die lebendige Synthese von Philosophie und Dichtung gelingt. Allerdings wird dabei das dialogische Moment zwischen den beiden Persönlichkeiten in diese selbst zurückgenommen und ihre Gegenüberstellung wird in ein Spiegelverhältnis verwandelt: der dichterische Philosoph Heidegger und der philosophierende Dichter Char werden als zutiefst wesensidentisch präsentiert.
Tatsächlich stellt sich die 1955 beginnende Freundschaft zwischen Heidegger und Char als Wahlverwandtschaft heraus. So treffen sie sich etwa in der unabhängig voneinander entwickelten Begeisterung für Heraklit, jenen vorsokratischen Denker, in dessen dunklen Fragmenten Tiefsinn und poetische Bildkraft noch eine ursprüngliche Einheit zu bilden scheinen. Die wenigen überlieferten Aphorismen und Gedankenbruchstücke Heraklits bewahren in ihrer rätselhaften Archaik die Idee einer reinen, erd- und lebensnahen Metaphysik. Es blieb dem Stadtmenschen Sokrates vorbehalten, diese existentielle Einheit von „Lyrik“ und „Philosophie“ aufzusprengen, den Blick von den Naturgegenständen weg auf den Menschen zu lenken, der Bilderwelt altgriechischer Mythen ihren Realitätsbezug zu bestreiten und in der dialogischen Auseinandersetzung die Grundlagen wissenschaftlichen Denkens zu entwickeln. – Kein Wunder also, daß sich Heidegger und Char unter einem weit ausladenden Kastanienbaum treffen müssen, und kein Wunder, daß ganz Paris in die Ferien gefahren ist… So, wie der deutsche Philosoph immer wieder in der Sphäre seines heimatlichen Schwarzwaldes dargestellt wird, wie er dem Zug der Wolken nachsinnt oder die „Kleinbauern im marktfernen Hinterland“ (Henrich) zu verstehen und ihre Existenzform nachzuvollziehen versucht, so wird auch René Char wiederholt ins Bild gerückt, wie er die Wiesen seiner Provenceheimat durchstreift, wie er Kinder um sich schart, um an deren spontanem und sinnlichem Naturerleben zu partizipieren, wie er Kieselsteine sammelt und in schlaflosen Nächten bei Kerzenschein Gedichte in getrocknete Birkenrinde ritzt.
Es drängt uns, dieses verdächtig unzeitgemäße Schlaglicht auf die Poetenexistenz mit einem nüchternen Gegenbild zu konfrontieren. Man muß lange nach einem solchen suchen. Fündig wird man – natürlich – im Dunstkreis von Chars Stadtaufenthalten:
Gestern habe ich mit Char in der Rue Bequerel gearbeitet (– die Wohnung war kein bißchen schmutzig. Char reinigt sie täglich mit dem Staubsauger, staubt ab!)
So schreibt der Lyriker Paul Eluard im November 1932 an seine (bereits bei Salvador Dali lebende) Frau Gala. Anfang der dreißiger Jahre wohnen die Freunde Eluard und Char vorübergehend in Paris zusammen, teilen miteinander Depressionen und Euphorie. Beide sind treibende Kräfte der surrealistischen Bewegung. Ende 1934 beginnt René Char sich jedoch schon wieder von dieser Avantgardegruppierung zu lösen, und der biographische Abriß in seiner Werkausgabe signalisiert in diesem Zusammenhang bildhaft einen Rückzug in die südfranzösische Heimat:
René Char verbringt ganze Tage auf den dichtbewaldeten Inselchen der Sorgue, den Bibern näher als den wenigen dort auftauchenden Menschen.
Char der Surrealist, Char der Résistancekämpfer, Char der Dichter-Philosoph: Wer ist dieser Zeitgenosse, der in Interviews so bilderselig virtuos und dabei tiefsinnig weise seine Lebenserfahrungen und sein künstlerisches Schaffen verknüpft, der sein Schreiben in einem ethischen Anspruch fundiert, der Ursprünglichkeit und zukunftsorientiertes Engagement zu vermitteln versucht? – Vielleicht müßte man jedoch eher fragen, woran es liegt, daß ein so ambitionierter Wahrheitsanspruch zu einer poetischen Verklärung der Dichterexistenz im dokumentarischen Material führt – als ob solche lyrische Wortgewalt unter den Bedingungen der Moderne durch ein außergewöhnliches Leben abgesichert, gerechtfertigt werden müßte…
Betrachten wir – endlich – einen Text René Chars etwas genauer. „Jeune cheval à la crinière vaporeuse“, geschrieben 1952, wird von Jean-Pierre Wilhelm folgendermaßen übersetzt:
Schön bist du, Frühling, Pferd,
Wie du den Himmel mit deiner Mähne besäst,
Das Röhricht mit Schaum bedeckst!
Alle Liebe liegt in deinem Bug:
Von der weißen Dame Afrikas
Zur Magdalena mit dem Spiegel,
Das Idol, das kämpft, die Anmut, die meditiert.
Eine Hymne an den Frühling: am Himmel dahinjagende Wolkenfetzen, blühendes Schilfgras, Erwachen der wilden, der zärtlichen Liebe – gebannt im Bild eines jungen, kraftvollen Pferdes? Oder der Frühling doch eher Metapher der Jugend und der Text, wie der Titel suggeriert, Beschreibung eines „jungen Pferdes mit dampfender Mähne“: eine flüchtige Bewegungsstudie, mitreißende Dynamik, deren Schönheit zwischen Furor und Grazie auf ein inneres Widerspiel von ungezügelter sexueller und verhalten erotischer Energie zurückgeführt wird? – Der Text spricht eingangs beide, Frühling und Pferd, gleichberechtigt als ein „du“ an. In dieser Art Kippfigur dient also nicht ein Bildbereich zur metaphorischen Illustration des jeweils anderen, vielmehr stellt sich die magische Schönheit der Zeilen erst her, wo die Imagination des Lesers die Überblendung aushält, die simultane Präsenz beider Möglichkeiten zuläßt.
Nun interferiert allerdings noch ein weiteres Bild: der Text ist eines von vier Gedichten eines Zyklus’ mit dem Titel „Lascaux“, und das heißt, es handelt sich um lyrische Kommentare zu den berühmten Höhlenzeichnungen aus der Steinzeit. Diese Thematik ist also unserem Text übergeordnet – nicht jedoch in dem Sinn, daß dessen Elemente nun als Beschreibung der prähistorischen Zeichnung zu identifizieren wären (allein das Wort „Pferd“ hat einen unmittelbaren Bezug zu der bildlichen Darstellung), sondern es setzt ein Dialog zwischen dem Bildkomplex der Naturszenerie und dem anzitierten zeitenfernen Kulturdokument ein, in dessen Verlauf der Text mehrfach lesbar wird.
Für die Entstehung sprachlicher Bilder lassen sich idealtypisch zwei Möglichkeiten formulieren: man führt sie entweder auf einen spontanen, assoziativen Reflex des Sprechenden zurück, oder man begreift sie als sinnlich prägnante Ausdruckskorrelate eines vorher gegebenen, aber unausgesprochen bleibenden abstrakten Sinns. Nehmen wir einmal an, daß die beiden Alternativen klar auseinanderzuhalten sind. Die erste Lesart, die sich für unseren Text dann ergäbe, wäre die, daß man ihn sich vorzustellen hätte als das unmittelbar festgehaltene Nachbild, welches die ästhetische Ausstrahlung der Höhlenzeichnung in der Imagination des betrachtenden Gedichtsprechers hervorruft. Beschrieben wird also nicht, was in der Zeichnung im einzelnen zu sehen ist, sondern welche Assoziationen sie auslöst: Bilder des Frühlings, der Kraft, der Liebe, der Wildheit und der Anmut. Diese Bilder verknüpfen dann Erfahrungsdaten des Betrachters (etwa: in sein Unterbewußtes eingegangene Naturwahrnehmungen) mit der Substanz der Höhlenzeichnung; diese wird poetisch aktualisiert, der historische Abstand zu ihr verschwindet.
Die zweite Möglichkeit, die Bilder des Gedichts auf die Zeichnung zu beziehen, kehrt im Unterschied dazu die Problematik des historischen Abstands ausdrücklich hervor: der Text wird zur Meditation über die Geschichte der Menschheit. Das Frühlingsbild ist dann als Metapher der Ursprungsnähe zu deuten, und so, wie das Pferd bildlich mit der umgebenden Landschaft verschmilzt – die „dampfende“ Mähne löst sich in den Himmel auf; der das Schilfgras bedeckende Schaum ist (der französische Originaltext macht das deutlicher) Metapher eines Befruchtungsvorgangs – so verweist die Höhlenzeichnung für den interpretierenden Dichter quasi dokumentarisch auf eine urgeschichtliche Natureinheitserfahrung. Setzt man diese Lesart des Gedichtes fort, dann erweist sich der zweite Teil über die Liebe als besonders schwierig und anspielungsreich: er steht nicht mehr im Zeichen der Verschmelzung (Frühling = Pferd), sondern setzt mit den beiden weiblichen Allegorien einen Dualismus, der die im Ursprung angenommene harmonische Einheit von innen her in Frage stellt. Die „weiße Dame“ erinnert an jene „Weiße Göttin“, die der Historiker Robert von Ranke-Graves als zentrale Figur der anfänglich matriarchalisch ausgerichteten Myhtenwelt des Mittelmeerraums rekonstruiert, eine Unterwerfung fordernde und von „orgiastischen Kultpriesterinnen“ umgebene Gottheit. Die „Magdalena mit dem Spiegel“ dagegen ist die büßende Heilige, die sich während der frühen Christenverfolgungen in eine Höhle in Südfrankreich zurückgezogen haben soll, und der ein inniges Verhältnis zu Jesus Christus nachgesagt wird. Damit stehen nun nicht nur begehrende und sich selbst verzehrende Liebe einander gegenüber, sondern auch Heidentum und Christentum, und mit diesen gegensätzliche Verfahren religiöser Praxis: Magie und meditatives Eingedenken. Während die Magie bedrohliche äußere Gewalten zu bändigen versucht, ist, wie der Spiegel andeutet, das Ich des meditativen Eingedenkens auf sich selbst zurückgeworfen.
Auch zwei entgegengesetzte bildliche Repräsentationsformen hier: das „Idol“ als Götter- oder Götzenbild mit magischer Ausstrahlung auf der einen Seite, auf der anderen die „Anmut“ des in die bürgerliche Kunst eingegangenen Magdalena-Motivs. (Char evoziert hier freilich ein ganz konkretes Werk: die vor einem Spiegel und einer Kerze sitzende „Büßende Magdalena“ seines Lieblingsmalers Georges de la Tour.) Die Pferdedarstellung in der Höhle von Lascaux vereint in sich – so unser Text – Prinzipien: sie ist kultisches Zauberbild, aber auch frühestes Zeugnis eines ästhetisch Schönen.
Gleichzeitig werden wir an dieser Stelle an die bei den Funktionen des Sprachbildes – die magisch-phantastische und die kontemplativ-grüblerische – erinnert, die in Chars Gedicht zusammengeführt werden. Auch dessen metrische Gestalt führt auf diesen Dualismus hin. Das französische Original nämlich besteht aus sieben Achtsilblern (der älteste französische Vers und seit der Renaissance der typische Vers der Ode) und endet mit einem lupenreinen Alexandriner, dessen Halbverse inhaltlich eben jenes Spannungsverhältnis reflektieren; unser Text beginnt in hymnisch begeisterter Zuwendung und schließt mit einem abstrahierenden Denkbild. In bezug auf die Höhlenzeichnung leistet das Gedicht damit zweierlei: es ist lyrische Aktualisierung und Annäherung an ihre historische Substanz. Im Dialog mit dem Steinzeitdokument entwickeln sich dabei zentrale Strukturlinien von Chars Dichtung, die sich zu erkennen gibt als prekärer Balanceakt zwischen vieldeutigem Sprachzauber und grüblerischer Reflexion von bisweilen aphoristischer Dichte und Prägnanz.
Wie aber gewinnt solche Lyrik Aktualitätswert? Zu einer provisorischen Beantwortung dieser Frage sind Kontexterweiterungen fällig, die auch die historische Situation der Textentstehung mit einbeziehen. Zunächst: der Zyklus „Lascaux“ ist Teil der Gedichtsammlung Die Felswand und die Wiese. Auf die vier „Lascaux“-Gedichte antworten in diesem Band vier Tiergedichte, die den prähistorischen Zeichnungen „aktuelle“ Naturbeobachtungen gegenüberstellen. Diese beiden Kompositionsblöcke werden durch ein Prosagedicht verknüpft, welches historischen Wandel und die Veränderung menschlichen Naturumgangs reflektiert:
(…) Wir Sorglosen preisen und bestreiten gerade die Natur und die Menschen. Indessen tritt, Terror uns überm Haupte, die Sonne ins Zeichen ihrer Feinde. (…)
Jenseits dieser Mittelachse antwortet unserem Pferde-Gedicht der Text „Die Lerche“. Nach der Beschreibung von deren sonnennahem Gesang wird in diesem Gedicht abschließend kurz auf die Technik hingewiesen, mit der früher auf Lerchen Jagd gemacht wurde: ein „Lerchenspiegel“, der das Sonnenlicht bündelte, wurde auf sie gerichtet. Über den Symbolgehalt dieses Bildes könnte man nun eine ganze Reihe von Spekulationen anstellen, doch wollen wir es hier dabei bewenden lassen, daß im Gegensatz zu dem Pferde-Gedicht, in welchem nach den Ursprüngen der Kunst gefragt wird, in diesem Text eine Vision vom Ende der Kunst aufscheint. Vielleicht ermöglicht uns ein flüchtiger Blick auf die Zeitgeschichte eine prägnantere Formulierung der Problemstellung. 1952 war ein markantes Jahr des atomaren Rüstungswettlaufs: das Jahr der Entwicklung und Erprobung der Wasserstoffbombe. In den Höhlenzeichnungen nahm der menschliche Versuch, bedrohliche Naturkräfte magisch zu bannen, die Gestalt künstlerischer Aktivität an. Welche Eingriffsmöglichkeiten hat nun die Kunst in einem Stadium menschlicher Naturbeherrschung, in dem die Mittel erreicht sind, alles Kreatürliche blitzgewaltig von einem Augenblick zum anderen in einen schwarzen Strich an der Wand zu verwandeln?
*
Nicht nur die Beschäftigung mit Chars Biographie, sondern vor allem die Auseinandersetzung mit seinen poetischen Texten führt in ein Dickicht von Bildern. Gerade die Gedichte selbst machen jedoch klar, daß es Char nicht auf die Verklärung von Wirklichkeit ankommt, sondern auf den Gedanken, der zwischen den Reibeflächen der Bilder entspringt. Dieser Moment ist freilich ebenso unberechenbar, wie der Dialog der Bilder unabschließbar ist. Da ihm für ein angemessenes Handeln die Besinnung auf ursprüngliche Werte und auf allgemeine Bedingungen des Verhältnisses von Mensch und Natur unabdingbar erscheint, macht sich René Char auf die Suche nach einer Wahrheit, die sich ihm stets entzieht. Doch auch dort, wo die Texte klarsichtig dieses Dilemma reflektieren, verweigern sie sich jener verhängnisvollen Konsequenz: der des endgültigen Rückzugs in die Kontemplation.
René Char starb am 17. Februar 1988 in Paris.
Johannes Hauck, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 2, April 1988
Schwerlich kann man Chars Poesie als dunkel bezeichnen, wie groß auch bei der ersten Lektüre dieses oder jenes Bandes die Überraschung des Lesers sein mag über „Aufleuchten und Explosion“ dieser Poesie, wie ein Kritiker schrieb. Denn die Bilder und Empfindungen sind die greifbarsten Bürgen seiner „leidenschaftlichen Sätze“ und der inneren Spannung seiner Sprache. Immer ist etwas Konkretes den Worten ganz nahe. Ich will sagen, daß diese Poesie, die nach Gabriel Bounoure aus Wind und aus Stein ist, nie den spezifischen Abstand zur Realität verliert, daß sie ununterbrochen mit ihr in Tuchfühlung bleibt. Wo ihre Dichte am größten ist, ihre Konzentration den äußersten Punkt erreicht, bewahrt sie noch ihre festen Beziehungen zu Wasser, Gras, Blättern und Wegen. Sie versetzt den Menschen wahrhaft in den Mittelpunkt all seiner Fragen, in seinen wahren Raum. „Königreich der Weite – das ist Chars Welt“, schreibt Bounoure. „Keine Poesie ist weniger stickig.“ Eine selbstsichere Erde, die man wiedererkennt, immer von zwingender Gegenwärtigkeit.
In meiner Heimat zieht man die zarten Zeichen des Frühlings und die ärmlich gekleideten Vögel den fernen Zielen vor.
Das Konkrete macht sich im Werke Chars auf eine höchst eigentümliche, man möchte fast sagen vertrauliche Weise geltend. Ich denke an jene Gestalten, Bauern, Maurer, Fischer, die man in den Landschaften von Fureur et mystère („Zorn und Geheimnis“), von Les Matinaux („Wanderer in den Morgen“), von Poèmes des deux années („Gedichte zweier Jahre“) auftauchen sieht, und auch an die Schatten der Frauen, die diese Werke streifen:
An den Hügelhängen des Dorfes lagern Felder voller Mimosen. Zur Zeit, in der man sie pflückt, kann es geschehen, daß man, weit ab von ihnen, die unendlich duftende Begegnung mit einem Mädchen hat, dessen Arme sich den Tag über mit den zerbrechlichen Zweigen beschäftigt haben. Einer Lampe gleich, deren Strahlenkranz wie ein Wohlgeruch ist, entfernt sie sich, den Rücken zur sinkenden Sonne gekehrt.
Es wäre ein Frevel, das Wort an sie zu richten.
Dem Bastschuh, der das Gras niedertritt, laßt ihm den Weg frei. Vielleicht habt ihr dann das Glück, auf ihren Lippen die Chimäre der Nachtfeuchte zu entdecken?
Wer sind diese Wesen, die der Dichter in den Dörfern, auf den Hügeln oder längs des spiegelnden Flusses trifft? Leute vom Lande, Kameraden aus dem Maquis, Bekannte aus seiner Kindheit, an die sich der Dichter erinnert. Einerlei. Im Nu werden diese Unbekannten unsere Freunde, so einnehmend macht er sie, in so viel menschliche Wärme, zarte Neigung und Achtung hüllt er sie ein.
Wie oft glaubt man auf den Straßen um L’Isle-sur-Sorgue einen jener Vagabunden einhergehn zu sehen, der „heiter und frei“ aus der Vergangenheit kommt, Toquebiol, Jaume, Palun, Fage, die im Vorbeigehn „mit den Eingesessenen Verse wechselten“ und ihren Bettelsack an ihrer Türe absetzten, um sich Brot und rohe Zwiebeln geben zu lassen. Sind sie wirklich für immer verschwunden – wie es doch scheint −, jene „Transparents“, die sich an den Anfahrten der Bauernhöfe, auf den trägen Räderspuren der Landstraßen zeigten?
Statt unser: geladne Gewehre,
Mit dem Hundegebell ist es aus.
Hervor nun, Gestalten der Leere,
Weit, weit ziehen wir hinaus.
Während der Abend dunkelt, zeichnet Chars hohe Gestalt sich ab neben einer Ulme, an einer Mauer von geschichteten Steinen. Man denkt dabei an seinen Freund Louis Curel von der Sorgue, jenes großartige Symbol der befreiten Erde:
Es gibt einen Mann, nun aufrecht, einen Mann in einem Roggenfeld, einem Feld gleich einem zusammengeschossenen Chor, einem geretteten Feld.
Nun ist die Nacht hereingebrochen über das weiße Haus mit dem hölzernen Tor. Den ganzen Tag über haben Weinstock, Wasser, Sonne und Pflug das einfache und inständige Dasein der Menschen deutlich gemacht. Das menschliche Leben hat sich gefestigt und ausgeweitet bei jeder Begegnung, wo immer Wege sich kreuzen.
Der Dichter kann der Nacht sein Fenster öffnen, dem starken, wilden Duft, der von den Bergen von Vaucluse herüberkommt.
Felder, ihr spiegelt euch in meinen vier Ernten.
Ich dröhne, ihr kreist.
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Freunde, die „fast oder gänzlich ohne Beziehung zur Literatur“ waren, baten Char, für sie Le Soleil des Eaux („Sonne der Gewässer“) zu schreiben und regten ihn damit zu einem eigentümlich fesselnden Werke an, das auf halbem Weg zwischen Weisen und Poesie entstand, zwischen Poesie und Moral.
Von Literatur sind hier höchstens Spuren zu finden. Man spricht die Sprache der Trägheit und der Tat, die Sprache des täglichen Brotes, die Sprache, die sich keinen Wert beimißt.
Hier geht es dem Schriftsteller darum, das was gewöhnlich nur für einen Ansatzpunkt der Poesie gilt, in einer Art Kurzschrift – so wenig literarisch wie irgend möglich – wiederzugeben, und zwar in Form des dramatischen Dialogs. Jene Urpoesie, die naturnahen Wesen eignet, gestattet Char, ohne die Technik der gehobenen Sprache, das heißt ohne ihre gewohnten Mittel, höchsten poetischen Reiz. Doch schließlich will dies „Schauspiel aus dem Leben der Fischer“ vor allem den Menschen Raum geben, ihrem Gefühl wie ihrem Eigennutz, ihrer Großzügigkeit wie ihrer Gemeinheit.
Auf engem Raum ringen hier das ewig Gute und das ewig Böse in der winzigen Gestalt von Forelle und Aal. Deren Farben tragen die Fischer.
Char läßt hier das Leben sprechen, das seine Basis hat in „den Geheimnissen der Landschaft sowohl wie der Notwendigkeit, der unausweichlichen Pflicht zur Revolte, die, ob siegreich oder nicht, niemals vergeblich ist“.
Ich räume ein, daß die erste Lektüre von Soleil des Eaux unbefriedigend sein kann, wenn man sich an die dramatische Form hält und eine dramatische Handlung erwartet. Hier geht es in Wahrheit um mehr als um bloßes Theater. Das Licht dieses Buches liegt weder in den Dialogen noch in den Personen, jedoch immer über ihnen, ohne je greifbar zu sein. Es ist allgegenwärtig. Es erhellt die moralische Perspektive, die seit Feuillets d’Hypnos in Chars Werk immer breiter geworden ist.
Diese Perspektive, abgesteckt bis heute von „A la santé du serpent“ (in Le poème pulvérisé), „Rougeur des Matinaux“ (in Les Matinaux), „A une sérénité crispée“ („Einer schroffen Gelassenheit“), „Le Rempart de brindilles“ (in Poemes des deux années), „Les Compagnons dans le jardin“ und letzthin von „Les Dentelles de Montmirail“, darf keinesfalls von der eigentlichen Poesie gesondert werden. Moralische Sentenzen und poetische Aphorismen folgen und entsprechen einander häufig in Chars Bänden.
Überhaupt muß man den Begriff der Moral, auf das Werk René Chars bezogen, mit Vorsicht benutzen. Zumindest ist jetzt eine Erklärung am Platze. Wir bedienen uns dieses Wortes im Verlauf dieser Studie nur der Einfachheit halber, denn es hat für den Dichter eine Bedeutung, die keineswegs der normalen Bedeutung entspricht. Die Ethik Chars ist nicht von der gleichen Art wie die der Ideologien oder der Religionen. Sie ist ohne Verbindlichkeit, Gesetzeskraft und Belohnung.
Sie ist nichts als eine Art zu reagieren, aber bewußt und gewollt, inmitten der Unsicherheit, in der der Mensch sich befindet, im Widerspruch zum äußerlichen Erfolg und zur Behaglichkeit, in der er lebt. Sie ist eine ununterbrochene Auflehnung, die Art und Weise des Dichters, in den Lauf der Welt einzugreifen und an ihm teilzuhaben. Er ist nicht mehr der Wächter auf der Zinne, sondern sein Gegenteil. In gewissem Sinne nimmt ihm diese Auflehnung, da sie ihn der Zeit anheimgibt, jegliches Vorrecht.
Die poetische Moral René Chars gibt dem Leben Vollmacht und Kühnheit, Weisheit und Maßlosigkeit zurück. Obwohl es unmöglich ist, sie in eine Formel zu fassen, ist sie recht eigentlich ein natürliches Verhalten, das zur Harmonie führt und sie um jeden Preis aufrechterhalten will.
Sie hat es weder auf Souveränität noch auf Autorität abgesehen. Sie begnügt sich damit, die lebendigen Werke des Menschen in ihren Schutz zu nehmen. Sie ist Lebenskunst.
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Die vorausgeschickten Betrachtungen über die Poesie sind nicht unnütz für den, der diese Ethik ins Auge fassen will, denn Poesie und Moral erklären sich gegenseitig im Werk René Chars, werden zur Einheit. Von dem Augenblick an, da die Ethik eine einschneidende Bedeutung im Denken des Dichters gewann, kann man erst ihre wechselseitige Durchdringung, dann ihren jeweiligen Anteil sogar zeitlich verfolgen. So ist „Partage formel“ zwar eine reine Poetik, in der jedoch die „natürliche Verhaltensweise“ unaufhaltsam in Erscheinung tritt, während in „A une sérénité crispée“ die Moral vor der Poesie den Vortritt hat (Reflexionen über die Poesie sind hier ziemlich selten). Selbst in der Art und Weise, das Ethische auszudrücken, findet eine gewisse formale Entwicklung statt: vom Reichtum und dem hermetischen Schmuck in „Partage formel“ zu der kargen Herbheit in „A une sérénité crispée“ oder „Les Dentelles de Montmirail“. Zudem kann man feststellen, daß Char, je weiter sein Werk sich entwickelt, den poetischen Ton und den ethischen Ton aufeinander folgen läßt, ja oftmals vermischt.
Andererseits hat Chars poetische Form einen gewissen Einfluß auf seine moralische Ausdrucksweise. Die Kristallisierung der Sinneseindrücke, der ungewöhnliche Gebrauch der Worte, ihre natürlichen und zugleich neuen Eigentümlichkeiten, die Freiheit und die Wahrhaftigkeit, mit der sie zusammengestellt sind, die Dichte, Kraft und Sparsamkeit der Sprache geben dem Leser zu jeder Zeit das Gefühl, daß hinter den Worten Chars Eroberungen von vorbestimmter Notwendigkeit stehn.
Nach Greta Rau ist „das Bild für Char das höchste poetische Ausdrucksmittel, die Form, die sich seinen Ansprüchen am besten bequemt, in der seine poetische Möglichkeit liegt: die Widersprüche aufzuheben, ihre Identität zu beweisen, in einer vergänglichen Partikel der ,Emotions-Materie‘ das Ganze der Welt zu umfangen“. In diesem im besten Sinne des Wortes blendenden Spiel der poetischen Bilder vermag die Ethik am ehesten, den Blitz auszulösen, die jähe Konjunktion von Widerstreben und Lockung. „In diesen Bildern“, sagt Maurice Blanchot, „vereinigen sich das unverletzliche Wesen der festen Dinge und das rieselnde Werden, die Dichte der Gegenwart und das Schimmern des Fernseins.“
Oftmals von neuem sinnt man den ungewöhnlichen Denkgesetzen nach, unter denen sich das so komplexe und zugleich so verbrauchte Sprachmaterial derart umbilden kann, so ungezwungen, man möchte fast sagen so schlicht. Diese Art, sich auszudrücken, auf Präzision abzuzielen, mit einem Mindestmaß an Aufwand ins Schwarze zu treffen, öffnet auf ganz natürliche Weise den Übergang vom poetischen Satz zur moralischen Sentenz.
René Chars Moral ist nicht metaphysisch:
Du sollst aus der Seele, die es nicht gibt, einen Menschen machen, der sie übertrifft.
Trotzdem wäre es falsch zu meinen, der Dichter sei frei von aller transzendenten Beunruhigung. Auf die Frage: „Warum glauben Sie nicht an Gott?“ versagt sich zwar seine Antwort jede Hypothese über einen Gott, den die Menschen erfunden haben, er hält es aber doch für wichtig hinzuzufügen:
Ich schiebe nicht mit leichtfertiger Handbewegung das bestürzende Wunder beiseite, das in der Möglichkeit zu leben beschlossen ist, in der Fähigkeit zu handeln, zu lieben, ans Ziel zu gelangen oder inmitten einer Schaumgarbe unterzugehen, kurz, ein paar Jahre lang dieser sterbliche Mensch zu sein, der mit dem Geist der Befreiung begabt ist oder der Kreuzigung. Gewiß ist es mehr wert, sich seine Unsicherheit und Unruhe zu erhalten, als sich selbst überzeugen und beruhigen zu wollen, indem man andre verfolgt.
In Le Rempart de brindilles stehn ein paar Sätze, in denen der Dichter, sich stillschweigend auf die Gesetze des Werdens und den Kosmos berufend, uns nicht ohne Skrupel und Zweifel gleichsam eine Perspektive auf das Heilige öffnet, dessen Geheimnis nicht mit dem Göttlichen verwechselt werden darf:
Ich glaube an Ihn: er ist nicht.
Ich verlasse mich nicht auf ihn: ist Er?
Ursprung jedes Fortschritts, jeder Loslösung. Offene und eisige Nacht!
Ach! Ende der Kette der Widerrufungen.
(Ist das Suchen nach einem großen Wesen nur ein Fingerdruck der gefesselten Gegenwart auf die freie Zukunft? Die unberührten kommenden Tage sind unermeßlich. Und Dort ist göttlich, wo der Ruck unserer Kette nicht widerhallt).
In jeder Situation läßt der Dichter gelten, daß der Mensch, wie immer es um ihn wirble, eine sicher beschützte Region in sich hegt, notwendige Voraussetzung für die Moral.
Mit seinem Schatten einen Misthaufen streifen – so viel Leiden birgt unser Leib und irre Gedanken unser Herz −, das ist möglich; aber dabei ein Heiliges in sich haben.
Dieser Vorrat an Adel, diese „Quelle“, wird allseits von den Kräften der Unterjochung, Zerstörung und Erniedrigung angegriffen.
Ihr Verbrechen: ein wütender Wille, uns die Götter verachten zu lehren, die in uns sind.
Eines Tages blieb Char, nach einer Weile des Schweigens, an einem Holunder stehn – es war Abend – und sagte zu mir (ich hoffe wortgetreu zu zitieren): „Vor allem dann, wenn es Gott nicht gibt, darf man ihn nicht aus dem Auge verlieren.“
Trotz ihrer hochgespannten Anforderungen bleibt die Ethik Chars immer dem Leben zur Seite. Besser gesagt: wenn sie sich emporschwingt, dann nur weil sie oft mit dem Leben eins wird, das „sein Segel weder streichen kann noch will“.
Wir bleiben, Zweifeln und Verboten zum Trotz, gefesselt an jene von Freude und Tränen verfranste ILLUSION, die in Wahrheit von so viel Selbstsucht und Liebe bemäntelt wird. Unaufhörlich zerfallend und wiederbelebt, bei all den Verheißungen, die wir uns zuflüstern und zuschreien, hat nichts bisher ihr Überlegensein beugen können. Sie bleibt vor unsern forschenden Blicken wie eine Sphinx, die uns bald zum ersten Mal zulächeln, bald nutzlos erscheinen wollte. Wer weiß? Da sie doch die Spanne zwischen dem kurzen Glück unsrer Eltern und unserm fernen Staube weit überdauert; da sie doch als Filigranschrift im Tageslicht lesbar ist und zugleich in unseren Augen.
Das Leben, das so an Größe gewonnen hat, bleibt dennoch stets unauflösbare Frage, die in der Mitte des Immerwährenden wohnt, im Menschen und außerhalb des Menschen zugleich. Es ist das unaufhörlich gestellte und niemals gelöste Rätsel.
Dem Anschein nach bin ich zugleich in meiner Seele und außerhalb meiner Seele, weitab von der Glasscheibe und dicht davor, geborstener Steinbrech. Meine Begierde ist unendlich. Ich bin nur vom Leben besessen.
Doch nur von der Poesie empfängt es Sinn, Wertung und inneren Gehalt.
Die einzige Unterschrift unter das Blanko des Lebens wird von der Poesie gesetzt. Und immer zwischen unserem Herzen, das eben zerbarst, und dem Wasserfall, der hervorbrach.
Gabriel Bounoure schrieb eine Studie über die geistigen Gesetze der Charschen Poesie. Danach ginge es ihr darum, „indem sie von gleichgültigen Elementen ausgeht, die tiefe Vitalität wiederzufinden, die dem Unbewußten und den Dingen gemeinsam ist“. Doch man muß weiter zitieren:
Grenzenlos feinfühlig geht der Dichter über die zufälligen Bedeutungen hinaus, um vorzustoßen bis zu den innersten Gegensätzen in allem, was existiert, und sie zu ersetzen durch eine günstige Spannung, ein glückliches Streben, einen Zustand der Gnade. Dadurch sieht der Dichter die fühllos gewordenen Dinge aus der Tiefe ihrer unerhellbaren Äquivalenz hervorgehn als seinesgleichen. Nun ist das Gedicht eine reale Offenbarung, in der das Elementare und das Menschliche sich nicht mehr unterscheiden.
Von diesem Punkte der Analyse aus erscheint die Poesie als natürliche Brücke zwischen dem „über alle Betäubung hinauswollenden“ Leben und den moralischen Werten des zersplitterten Menschen.
Erde, stets in Bewegung, schrecklich und auserlesen, und Bedingtheit des Menschen, heterogen, berühren und bestimmen sich wechselseitig. Der begeisterten Summe ihrer schimmernden Seide entstammt die Poesie.
Für Char ist sie das Urvermögen, die vornehmste Zuflucht, der Hebel jeder Entwicklung.
„Es scheint, daß die Poesie“, hat er erklärt, „kraft der Wege, die sie zurückgelegt, der Prüfungen, die sie erduldet hat, um den Namen der Poesie zu verdienen, den Rastort bildet, der dem gequälten und demoralisierten Menschen erlaubt, neue Kräfte und frische Antriebe zu erhalten, um mit erneuerter Schwungkraft der Beute oder dem Schatten nachzujagen.“
Unausweichlich sind Leben und Poesie berufen, eins zu werden, wovon der Dichter sich eine Aufwertung des Menschen verspricht: „Dichtung, künftiges Leben im Innern des wieder gewürdigten Menschen“, so daß der Mensch mit den Waffen der Freiheit auf die vereinten Kräfte der Finsternis und der Vernichtung zum Angriff übergehn kann:
Die Poesie, die nackt geht auf ihren Schilfrohrfüßen, auf ihren Kieselfüßen, läßt sich nirgendwo einschränken.
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Das „unsägliche Leben“, das der Dichter weder durch Grenzen noch Verpflichtungen festlegen will, muß all seine Tore offen halten, um die Vollmachten des Menschen zu rechtfertigen. Char assoziiert diese natürliche, gewissermaßen instinktive Haltung mit dem Bild der aufgehenden Sonne.
Der Geist ist heiter, wenn die Sonne aufgeht, trotz des grausamen Tages und der Erinnerung an die Nacht. Das geronnene Blut nimmt die Farbe des Morgenrots an.
Angesichts der unglücklichen Welt, die „in die Hände der Schieber und Narren gefallen ist, die sie in ihrem Lauf gewaltsam beschleunigen wollen“, denkt er an einen raschen, unverzüglichen Kampf:
Jenes Verhängnis, komme, was wolle, mit Hilfe seiner eignen Magie bekämpfen, den Schwung der großen Straße oder das, was man dafür hält, ausweiten zu unersättlichen Wanderungen – das ist die Aufgabe der Wanderer in den Morgen.
Und dies ist der Rat des Dichters:
Wenn man zum Wecken bestellt ist, beginnt man damit, sich im Flusse zu waschen. Das erste Entzücken sowohl wie der erste Schauer sind für keinen anderen da.
Sauberkeit ist das erste Gebot. Es geht um die „Auflehnung des Menschen gegen alles, was ihn heute entstellt“, wie das André Rousseaux gesagt hat. Hier darf nichts verschwiegen werden, und weder gewundene Wege noch Winkelzüge sind statthaft, nicht einmal Erleichterungen:
Ahme so wenig wie möglich die Menschen nach in ihrer rätselhaften Krankheit, Knoten zu machen.
Das Engagement ist eine Wirklichkeit des Alltags.
Ein halbes Willkommen kennt man in meinem Land nicht.
So gehört die Hoffnung nur den Wanderern in den Morgen, die fröhlich im Frührot sind, stolz und voller Vertrauen auf den kommenden Tag:
Frühaufsteher, die ihr gleiten laßt aus euerm Munde den Knebel einer sinnberaubten – doch wohlinformierten – Inquisition und einer erschlafften Empfindsamkeit, typisch für unsre Epoche, die ihr alles Gelände besetzen werdet zugunsten der poetischen Wahrheit allein, die ihrerseits beständig mit dem Betruge kämpft und unaufhörlich revolutionär ist – für EUCH.
Für alle, die ihre Hoffnung auf das Leben setzen, hat René Char in „Partage formel“ eine anspruchsvolle Definition für das Leben gegeben:
LEBEN… erobert außergewöhnliche Kräfte, von denen wir uns bis zur Verschwendung durchdrungen fühlen, doch nur einen Bruchteil zum Ausdruck bringen, denn es fehlt uns an Aufrichtigkeit, an erbarmungslosem Unterscheiden und an Beharren.
Ohne Zögern siedelt Chars Ethik sich an in dem bitteren Tag der Verzweiflung, der der unsere ist:
Die bisher immer wieder erlöste Welt, wird sie diesmal zu Tode kommen, vor oder gegen uns?
Schmerzvoller als irgendein andrer erleidet der Dichter diese Zeit, wo ein schwarzer Wind über unsere Bäume hinstreicht und durch die Straßen unserer Städte.
Wir rühren an die Zeit der tiefsten Verzweiflung und der Hoffnung um nichts, an die unbeschreibliche Zeit.
Voll Klarsicht betrachtet er das beschleunigte Fortschreiten unsrer Epoche und lebt täglich im Gefühl ihres Niedergangs. Ein Niedergang, der weder aufzuhalten noch zu lenken ist.
Tief im Kern des Atoms, dieses zur absoluten Herrschaft berufnen Dauphins, entdecke ich verheißene Tyranneien, die nicht minder pervers sind als jene, die schon mehrfach die Welt verheerten, Kirchen, deren Barmherzigkeit nur eine Muschel, nur eine Alge auf den meergepeitschten Sandbänken ist. Menschen sehe ich, deren äußerste Not nicht einmal mehr gelindert wird von der versöhnlichen Nacht, und Genien, die dem Unglück und der Ungerechtigkeit trotzen.
Was unsere Auflehnung, unseren Abscheu weckte, ist wieder da, wohlverteilt, ungeschwächt und beflissen, zum Angriff, zum Tode bereit. Zu entdecken bleibt nur die Form der Erwiderung sowie die lichten Impulse, die sie in Farben der Leidenschaft hüllen.
Diese Zeilen schrieb Char 1948. Im Jahre 1959, zur Zeit des beginnenden Raumfahrer-Taumels, als die schwarze Leere zum erstenmal ihre totalitäre Gefahr sehen ließ, schrieb er den Text für ein kleines blaues Plakat, das dann seine Freunde in L’Isle-sur-Sorgue an Häusern und Bäumen anschlugen. Mit herrlicher Unbefangenheit rief Char sich selber und uns die geschichtliche Stunde zu:
Der Raummensch, dessen Geburtstag ist, wird eine milliardemal schwächer an Leuchtkraft sein und eine milliardemal weniger an Verborgenem offenbaren als der ungeglättete, erlegte Mensch von Lascaux, mit dem harten Glied, befreit von der Schlacke des Todes.
In der Verwirrung von heute weiß René Char: es ist diese „Gegenwart, die uns verdammt, zu leben zwischen Verheißung und Vergangenheit; denn sie ist Sintflut.“ Die einzige Hoffnung ist jene maßlose Lebenskraft, an die der Dichter glaubt. Ein überholen des Mißgeschicks mitten im Mißgeschick selbst. „Pessimisten erzieht die Zukunft“, schreibt er in Les compagnons dans le jardin. Menschen, die der Entsagung das große Ja des Pessimismus entgegenzusetzen wissen.
Pessimisten erzieht die Zukunft. Sie sehen, was sie befürchten, bei Lebzeiten Wirklichkeit werden. Trotzdem ringelt die Traube sich, die nach der Ernte kam, über dem Fuß ihres Weinstocks; und die Kinder der Jahreszeiten, die sich nicht, wie es Brauch ist, gesellen, stampfen so schnell wie möglich den Sand fest am Rande der Woge. Auch das bemerken die Pessimisten.
Hätte René Char in der Zeit der Romantik gelebt, so wäre er, wie er gern zugesteht, ein romantischer Dichter gewesen. Doch unsre verheerte Epoche, die vielleicht vor unseren Augen ihren Untergang schon begann, hat ihn zur Klarsicht gezwungen. Tritt der Mensch der entscheidenden Gefahr gegenüber, so trotzt ihr der Dichter an der Seite des Menschen. Im Herzen der Gegenwart, wo alle Probleme rasend durcheinanderwirbeln, pflanzt Char das Heilszeichen auf: die neue Gesundheit, die den Menschen zuteil werden wird, wenn die Beziehungen zwischen Leben und Zeit sich verändern.
Geliebtes Leben, sieh, wie der machtvolle Zeitgott noch einmal sich über dich beugt, sein Fieber befriedigt und, verschwenderisch an Begier, die Klinge zieht.
René Char versucht, den Zwang, der uns alle einschnürt, zu lockern. Denn immer gebieterischer wird die dringende Not. Am Rande des finsteren Kraters befiehlt die Stimme des Dichters:
Wir sind heute dem Unheil näher als selbst die Sturmglocke, so daß es hohe Zeit ist, uns eine Gesundheit des Unglücks zu schaffen. Sollte ihr gleich etwas anhaften von der Arroganz des Wunders.
(…)
Pierre Guerre, aus Pierre Guerre (Hrsg.): René Char – Porträt & Poesie, Luchterhand Verlag, 1968
Von Schilfrohr gesäumte Strassen, Zypressenreihen, Lavendelfelder – René Chars Landschaft. In ihr, in ferner Nähe, deren Sprache ihn erreicht, geht er noch umher. In ihr entstand sein Werk mit seiner Schönheit, Heftigkeit und Phrasenlosigkeit, seiner „Weisheit mit Augen voll Tränen“, seinem Mut. In ihr denkt er an seine Kindheit: in der Erinnerung sehe er sich hingeneigt über die Pflanzen im verwilderten Garten seines Vaters, wie er die Säfte beobachte und mit den Augen Formen und Farben küsse. Später wird er seinen Satz finden: „Bewohnen wir einen Blitz, so ist er das Herz der Ewigkeit.“
Jürgen Theobaldy
Horst Wernicke: Zorn und Geheimnis
Die Furche, 31.5.2007
Horst Wernicke: „Einen Blitz bewohnen“
Neue Zürcher Zeitung, 14.6.2007
René Char: Prometheus und Steinbrech zugleich gelesen von Bruno Ganz.
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