GESETZ VERPFLICHTET
Der Stern, der seinen unleugbaren Namen krächzte,
In diesem Sommer von Glanz,
Verblieb in der Dachziegel Spiegel.
Das reißende Tier wird gezähmt werden!
Sobald die Nacht, die kalte, mächtige emporsteigt,
In der die Augen bald die Klarheit des Utopischen
aaaaaverlieren,
Albatroswort, geb ich ihm wieder Wildheit.
Übersetzt von Klaus Möckel
Ein Mann geht am Ufer eines Flusses hin, „einsiedlerisch“, wie er es von seinesgleichen im Gedicht gesagt hat, doch im inneren Dialog mit der Welt und den Menschen. Um ihn her die Natur in ihrer Vielfalt: Wiese, Feld, Wasser, Wald, die Berge, die aus der Ferne herüberschimmern, Vögel und Insekten, Sonne und Wind. Der Mann nimmt die Dinge in sich auf und verbindet sie in Gedanken mit den großen Begriffen von Werden und Vergehn, Schatten und Licht. Bilder, freundlich oder schmerzhaft, drängen heran, werden in mühevoller Arbeit aneinander gefügt. Im Widerspiel von Gut und Böse, Unterworfen sein und Auflehnung, Verzweiflung und Hoffen entsteht so René Chars Lyrik. Sie ist für ihn Notwendigkeit, Leben. „Was wäre die Wirklichkeit ohne die Spaltkraft der Poesie.“ Er verdichtet sie bis hin zum prägnanten Satz, zum elementaren Wort. Das blitzhaft aufleuchtet, aber nicht in leerem Glanz erstrahlt, kein Selbstzweck ist. Es schlägt vielmehr Breschen ins Dunkel, hallt lange nach. Es erhellt für Augenblicke Bereiche, die im Verborgenen ruhn.
Die Dichtung Chars ist ohne Zweifel von der Landschaft geprägt, in der er aufwuchs und den größten Teil seines Lebens verbrachte. Von der westlichen Provence, jener Gegend zwischen der Rhône und den Niederen Alpen, die, viele Monate des Jahres unter einer heißen Sonne liegend und von zahlreichen Wasserläufen durchzogen, als außerordentlich fruchtbar gilt. Hier, im Ort L’Isle-sur-Sorgue, wo sein Großvater Gipsarbeiter, sein Vater ein kleiner Geschäftsmann in der gleichen Branche und mehrere Jahre Bürgermeister war, wurde der Autor am 14. Juni 1907 geboren. Les Névons, das von einem Park umgebene Haus, das den Großeltern mütterlicherseits gehörte und wo er seine Kindheit verlebte, wird in den Versen mehrfach beschworen, „Im Park von Les Névons / Von Wiesen rings umraint…“. Erinnerung an die engere Heimat sind aber auch die Luberon-Berge, die „Felder voller Mimosen, die an den Hügelhängen des Dorfes biwakieren“, der Fluß Sorgue und nicht zuletzt die Menschen des Landstrichs: Louis Curel, „die Gefährtin des Korbmachers“.
René Char besuchte die Gemeindeschule im Ort und, nach dem zu frühen Tod des Vaters, ein Gymnasium im nahegelegenen Avignon. Die Familie hatte nun finanzielle Schwierigkeiten, der Junge lebte im Internat, ging später nach Marseille, wo er – offenbar wenig enthusiastisch – an der Handelsschule lernte.
Es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit ihren Wirren und Widersprüchen, dann die der zwanziger Jahre. Char versuchte sich sein Leben zu verdienen, er verkaufte Whisky und Chicorée an Barbesitzer oder kleine Geschäftsleute, arbeitete einige Monate für einen Händler in der Stadt Cavaillon. Doch er schrieb auch Gedichte, las Plutarch, Villon, Racine, die französischen und deutschen Romantiker, Baudelaire. Nach der Veröffentlichung eines ersten Gedichtbandes, den er aber selbst nicht gelten ließ und dessen Exemplare er zum größten Teil vernichtete, erschien 1929 Arsenal (Arsenal), das am Anfang seines wahrhaft umfangreichen Werkes steht. Er schickte ein Exemplar an Eluard und wurde so mit den Surrealisten bekannt. In weiteren Publikationen – 1934 faßte er das bis dahin Entstandene unter dem Titel Le Marteau sans maître (Der herrenlose Hammer) zusammen −, insbesondere in Dehors la nuit est gouvernée (Draußen die Nacht wird regiert, 1938), wird der Einfluß dieser Bewegung sichtbar, an deren Auseinandersetzungen der Poet teilnahm. Unter anderem arbeitete er an surrealistischen Zeitschriften mit, wurde bei einem der von den Literaten heraufbeschworenen „Skandale“ durch einen Messerstich verletzt. Aber Char, mit Eluard befreundet, mit Aragon, Breton, Crevel und anderen bekannt, hat sich, wie Camus es später ausdrückte, „dem Surrealismus mehr geliehen als hingegeben“. Er ging auf der Suche nach der Wahrheit seinen eigenen Weg. Vielleicht verdankt er den zwanziger und dreißiger Jahren die Heftigkeit seiner Bilder, den Durst nach „unsäglichem Leben“, den Willen zum Aufruhr, der in vielen seiner Verse spürbar wird. Er hatte schon damals erkannt, daß „das Unmenschliche sich nicht sklavisch bekehrt zum Ladentisch der entzückten Worte“, stellte sich ihm entgegen, wo immer es möglich war, entschlossen, „der Dummheit ins Antlitz zu schlagen“.
Zu Beginn des zweiten Weltkrieges wurde Chat eingezogen, diente als Artillerist im Elsaß – aus diesen noch ruhigen Monaten stammen spätere Gedichterinnerungen. Nach dem Zusammenbruch der französischen Armee und der Demobilisierung kehrte der Poet dann in die Provence zurück und schloß sich dem Widerstand an. Als Linker denunziert und als entschiedener Feind des Faschismus bekannt, blieb ihm kaum eine andere Möglichkeit. Die Verhaftung drohte. Er hatte inzwischen geheiratet; es gelang ihm, seine Frau an einen sicheren Ort zu bringen. Er selbst wählte den Maquis, wurde auf Grund seiner Umsicht und seines Mutes bald Kommandeur einer Partisaneneinheit. Während der Okkupation hat Char nichts veröffentlicht, aber die Feuillets d’Hypnos (Hypnos, Aufzeichnungen aus dem Maquis, I946) geben Auskunft über jene Zeit. Hypnos war der Deckname des Dichters, seine Notizen, wirklichkeitsnah und poetisch akzentuiert, legen Zeugnis von der Tapferkeit und ungebrochenen Menschlichkeit der Partisanen ab. Durch ihren humanen Geist, ihre schlichte, konkrete und doch phantasievolle Sprache gehören diese Texte zum Eindrucksvollsten in seinem Werk. Sätze wie: „Wo Rauch ist, da ist Anderswerden“, „Das Brot heilen, den Wein auf den Tisch bringen“, „Zum Sprunge gehören, nicht zu seinem Epilog, dem Gelage“, haben Berühmtheit erlangt und werden von den Literaturkritikern oft zitiert. Die Gedichte und Aphorismen aus dem Sammelband Fureur et mystère (Glut und Mysterium, 1948), der neben Hypnos so wichtige Bände wie Seuls demeurent (Es bleiben aber, 1945), Les loyaux adversaires (Die aufrichtigen Gegner), 1946), Le Poème pulvérisé (Das pulverisierte Gedicht, 1947) und La Fontaine narrative (Der erzählende Quell, 1947) enthält, bestätigen diese Haltung und machten den Autor bekannt. Camus setzte sich für ihn ein, der angesehene französische Verlag Gallimard begann seine Bücher zu publizieren. Und obwohl sich bei dem Dichter nun Enttäuschung über die Abnutzung der Resistance-Idee, der Ideale von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit in die Verse mischte: „Du hast gut getan, fortzugehn, Arthur Rimbaud!“, resignierte er nicht, strebte vielmehr nach neuen Anläufen und Dimensionen. Während seiner surrealistischen Phase hatte Char einige Jahre in Paris gelebt, nun richtete er sich wieder in L’Isle-sur-Sorgue ein, nicht ohne auf Aufenthalte in der Hauptstadt und auf Reisen ins Ausland zu verzichten, wenn es der Beruf erforderte. Er war mit vielen Künstlern seines Landes im Gespräch, besonders mit Malern und Dichtern. Die Malerei hat seine Verse immer beeinflußt; mit Corot, Courbet, Georges de La Tour vor allem, von dem er sogar im Maquis eine Farbreproduktion besaß, die des „Gefangenen“, stand er im stetigen inneren Austausch. Er betrachtete diese Maler als Vertreter der gleichen Sache, fand in ihren Bildern „eine Reihe von Blitzen und von langen Schatten, die der Reflexion Zeit lassen… Manchmal“, sagt er, „sind die Visionen ungenau; aber die Überraschung ist solcherart, daß sie die Dunkelheit überleben.“
Das Werk wuchs, Char lotete die Klüfte zwischen Nacht und Tag, der Trauer und den Augenblicken des Glücks aus. Er begriff all das als ein Wechselspiel, das sich ergänzte; schon in früherer Zeit hatte er geschrieben:
Meine Liebe ist traurig…
Denn es liegt im ruhlosen Wesen der Liebe, traurig zu sein.
So auch ist traurig das Licht
Traurig das Glück.
Das Ruhelose aber ist Bewegung und schließt Rebellion ein. In einer markanten Spruchdichtung aus dem Jahre 1947, „Auf das Wohl der Schlange“, heißt es:
Was zur Welt kommt, um nichts in Aufruhr zu bringen, verdient weder Rücksicht noch Geduld.
So wird die Auseinandersetzung zum Gebot, die Poesie schwingt, wie das Leben, zwischen den Polen dessen, was niederdrückt und dessen, was Hoffnung gibt. Der finstere Pol: Falschheit, Menschenverachtung, Versklavung; der helle: Liebe, Freiheit, Aufrichtigkeit. „Ich liebe dich, wiederholt der Wind allem, was er belebt“, lautet eine Verszeile und eine andere:
Die Freiheit kam auf diesem weißen Streifen daher… und die Entsagung mit dem Gesicht eines Feiglings, die Heiligkeit der Lüge, der Alkohol des Henkers – sie alle nahmen ein Ende.
In „Heuernte“, einem von vielen poetischen Texten über die Nacht, die aber nicht etwa das Finstere verkörpert, sondern freundlich und schöpferisch ist, Ort für die „Lampe“ und die Vorbereitung auf neue Geburt, schreibt Char:
Ich grüße den, der in Sicherheit neben mir schreitet… Morgen geht er AUFRECHT unter dem Wind hin.
Die Hervorhebung des Wortes „aufrecht“, aber auch die Erwähnung des Windes – mitunter als Sturm, Orkan wiederkehrend und einer der wichtigsten Begriffe in dieser Poesie – verweisen auf das fortdauernde Brennen, die Streitbarkeit des Dichters. Weitere Titel von Gedichtbänden drängen sich als Zeugnis auf: Les Matinaux (Wanderer in den Morgen, 1950), La Parole en archipel (Das Wort als Archipel, 1962), darin unter anderem La Bibliothèque est en feu (Die Bibliothek steht in Flammen, 1956) und Au-dessus du vent (Hoch überm Wind, 1962).
Auf Grund der Bewegung, der Bewußtheit des Widerspruchs in Chars Poesie haben die Kritiker seine Verwandtschaft mit Heraklit hervorgehoben. Tatsächlich gibt es hier enge Bezüge, denn dieser Dialektiker unter den vorsokratischen Philosophen hatte ja nicht nur das Werden zur Wahrheit von Sein und Nichtsein erklärt, die Gesamtheit der Dinge im ewigen Fluß und in der Wandlung gesehen, sondern auch den Satz vom „Streit als dem Vater aller Dinge“ ausgesprochen. In einem 1948 verfaßten Artikel über Heraklit nennt der Dichter ihn ein „stolzes, festes und angstvolles Genie, das die beweglichen Zeiten durchquert, die es in Worte gefaßt, bestätigt und sogleich wieder vergessen hat, um ihnen vorauszueilen“. Und an anderer Stelle sagt er:
Unsere Geschmäcker, unsere Begeisterung, unsere Befriedigungen sind vielfältig, so daß sophistisches Teilwerk uns wohl blitzartig erobern und unseren Hunger anrühren kann. Aber bald nimmt die Wahrheit vor uns schon wieder ihren Platz als Anführerin des Absoluten ein, und wir brechen, ihr folgend, erneut auf, ganz eingehüllt in Sturm und Leere, Zweifel und erhabene Überlegenheit. Wie einfallsreich zeigt sich doch die Hoffnung!
Vor allen anderen aber ist es der Poet, der, von Zweifeln zerrissen, immer wieder der Hoffnung nachjagt. Ihn, den redlichen, mit der Welt verbundenen, ihre Konflikte in sich tragenden Streiter, hebt René Char aufs Schild. Der Dichter, „große Karre der Sümpfe“, ist „für ungewöhnliche Augenblicke geschaffen“. Er „verwandelt das Leiden in Brot“, er „bewahrt die unendlichen Gesichter des Lebendigen“. Er „facht auf des Sommers Zinnen den Aufruhr an“. Er „belebt, dann eilt er zur Lösung des Knotens… am Abend… eilig beim Abschied, um da zu sein, wenn das Brot aus dem Ofen kommt“. Diesem Ideal vom Poeten, dem die Tragik gewohnt, der aber in seiner Skepsis ein Tätiger ist, blieb Char auch in seinem späteren Werk treu. Die Sammelbände Le Nu perdu (Das verlorene Nackte, 1971), La Nuit talismanique qui brillait dans son cercle (Die zaubrische Nacht, die in ihrem Kreis geglänzt, 1972), Aromates chasseurs (Düfte, diese Jäger, 1975), Chants de la Balandrane (Balandranlieder, 1977) und Fenêtres dormantes et porte sur le toit (Schlafende Fenster und Tür aufs Dach, 1979), beweisen seine ungebrochene Schaffenskraft. Wohl bedrängte ihn nun „das zermürbende Alter“ stärker, 1968 erkrankte er schwer, der Tod entriß ihm langjährige Bekannte. 1952 bereits war Paul Eluard gestorben, 1963 der Maler Georges Braque, mit dem er oft zusammengearbeitet hatte. Verwandte – seine Schwester Julia, andere ihm nahestehende Menschen folgten. So Picasso, der, wie viele berühmte Künstler, Illustrationen zu seinen Büchern schuf, und der Philosoph Heidegger. Doch es blieb die Poesie, das geschriebene Wort. Und nach wie vor war der Dichter vom gleichen drängenden Geist erfüllt, so enthält eines seiner letzten Bändchen Les Voisinages de Van Gogh (Die Nachbarschaften Van Goghs, 1985) neue alte Bezüge auf die Berge, Flüsse und Menschen seiner südlichen Heimat ebenso wie auf das zwischen Winter und Frühling ungestüm sich bäumende Leben.
René Char, der heute zu den bedeutendsten Poeten des zeitgenössischen Frankreich gezählt wird (auch Artikel über Dichter, Maler, Philosophen hat er zu unterschiedlichen Anlässen verfaßt und einige Theaterstücke), starb achtzigjährig am 19. Februar 1988 in Paris. Sein dichtes und zugleich überströmendes Werk öffnet sich gewiß nicht dem ersten Zugriff. Doch wer sich ihm mit Geduld nähert, wird von seiner Ungeduld erfaßt werden. Er wird die Warnung hören, die einer sich selbst bedrohenden Menschheit gilt und lautet:
Wir haben nicht Tote mehr noch Raum
Wir haben nicht Meere noch Inseln mehr
Und der Schatten der Sanduhr begräbt die Nacht.
Oder: „Alles ergreifen und wenig begreifen verbietet sich gegenseitig.“ Er wird aber auch das Lob der Schönheit vernehmen: „Immer von neuem, Schönheit… Meine Geliebte bist du“, und den Aufruf:
Gehen wir überall hin
Das Lachen in unseren Händen.
Klaus Möckel, Nachwort, März 1987/Mai 1988
bezeichnete ein Kritiker René Char, und Albert Camus hielt ihn für den bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker Frankreichs. Bekannt, anerkannt, in viele Sprachen übersetzt, harrte die Dichtung Chars dennoch weitgehend der Entdeckung. Eine Dichtung, die, oftmals aphoristisch verknappt oder in Prosaform gefasst, zutiefst geprägt ist von den Dingen und den Menschen des südfranzösischen Landstrichs, wo Char aufwuchs und bis zu seinem Tode lebte. Doch ist seine Lyrik weder kontemplativ noch von zeitlicher Begrenztheit oder lokaler Enge. Vielmehr ist Char ein „Dichter des Aufruhrs und der Freiheit“, der in „Hypnos“ schrieb: „Zum Sprunge gehören. Nicht zu dessen Epilog, dem Gelage.“ Und er ist ein Dichter, der inmitten von Schmerz und Verzweiflung, umgeben von Bedrohung und Zerstörung, Hoffnung verheißt: „In unserem Dunkel, nicht einem Platz hat die Schönheit darin. Der ganze Platz ist ihr, der Schönheit zugedacht.“…
Die vorliegende zweisprachige Auswahl versucht Chars poetischen Entwicklungsweg mit Beispielen aus allen Schaffensperioden – von den frühen Gedichten aus dem Jahre 1929 bis hin zur letzten Veröffentlichung von 1983 – nachzuzeichnen und somit eine erste Annäherung an das Gesamtwerk zu ermöglichen.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1988
Das Wort, das sein Name ist, ist hart und kurz. Im Widerstand hatte er einen anderen, klangvolleren Namen: Capitaine Alexandre. Maquis hieß die französische Untergrundorganisation, der er angehörte, nach dem undurchdringlichen Buschwald, der die Provence an manchen Stellen bedeckt. Einmal durfte ich dort jemanden begleiten, der auf Trüffelsuche ging, in der Gegend von Chars Heimatort L’lsle-sur-la-Sorgue. Allein hätte ich mich in der herbstlichen Landschaft verirrt. Man konnte sich gut vorstellen, daß die Widerstandskämpfer sich während des Krieges dort versteckt hielten. Vielleicht war es Einbildung, aber mir kam es so vor, als ginge noch immer ein Fluidum der Gefahr von diesem Strauchlabyrinth und seinen Sandwegen aus, die sich alle gleichen. Im Untergrundkampf war Char Soldat. Etwas Archaisches ist an dieser Verbindung von Krieger und Dichter, man denkt an Owen und Jünger und Cervantes und an die Gedichte der Samurai – der Dichter als mythischer Held, warum nicht? In seinem Fall empfinde ich das Mythische daran noch stärker, weil seine Poesie so viel Geheimnis birgt, eine Poesie, die sich einem niemals gleich ausliefert, die einen herausfordert und auf die Probe stellt. Nicht immer bin ich mir sicher, daß man bei ihr ohne weiteres willkommen ist, vielleicht weil in dieser modernen Poesie etwas sehr Altes mitschwingt, eine verborgene Antike, die ihre eigenen Gesetze erläßt und ihre eigene Geschichte hat; ich könnte mir gut vorstellen, daß Peter Handke, wie er gesagt hat, Char eigentlich nur verstand, wenn er ihn übersetzte. Ich selbst kann ihn am besten lesen, wenn ich das Unverstandene akzeptiere, wenn ich mir seine französischen Wörter laut vorspreche, bis eine Art Zauber zu wirken beginnt und ganz allmählich ein Sinn auftaucht, der sich nicht mit der Bedeutung der Wörter deckt, mich aber einspinnt, bis ich mich innerhalb des Prosagedichtes wiederfinde.
Vorgänger
In einem Felsen erkannte ich den entlaufenen, den ermeßlichen Tod, unter der Ruhestatt eines Feigenbaums das aufgeschlagene Bett seiner Komparserie. Keinerlei Spur von Zurecht-Stutzen: ein jeder irdische Morgen breitete tief drunten bei den Nachtmärschen seine Schwingen aus.
Ohne mich zu wiederholen, erleichtert von der Angst der Menschen, hebe ich im Luftraum mein Grab aus, und meine Heimkehr.
Die Heidegger-Nummer des Magazins Littéraire (März/April 2006) enthält einen Beitrag über das Verhältnis zwischen Heidegger und Char. Zwischen 1966 und 1969 kam Heidegger auf Chars Einladung nicht weniger als dreimal nach Thor im Vaucluse, nahe Chars Heimatort L’lsle-sur-la-Sorgue. Char hatte 1959 ein kurzes Gedicht für Heidegger geschrieben, und die beiden waren sich auch vor den Treffen in Thor schon begegnet. Eine wichtige Rolle hat bei diesen Gesprächen Jean Beaufret gespielt, der Heideggers Worte für Char übersetzte, denn Char verstand kein Deutsch. Diese Gespräche fanden in den Landschaften von Cézanne statt, man wanderte entlang eines Flusses, qui était la fraicheur même (der die Frische selbst war). Char fragte Heidegger, ob er solche Spaziergänge auch mit Husserl gemacht habe. Heidegger lächelte, schaute Char in die Augen und sagte: „Husserl war nie in der Natur, er war immer nur in der Phänomenologie.“
Von Beaufret stammt auch eine Äußerung über die Beziehung zwischen Poesie und Philosophie, die sich auf den Dialog Chars und Heideggers anwenden läßt: „Der wichtigste Unterschied zwischen der Poesie und dem Denken ist vielleicht der, daß es die Poesie schon gibt und das Denken noch nicht. Oder besser gesagt, kaum kommt das Denken zum Vorschein, da entartet es schon zu Philosophie, das heißt Metaphysik. Der Dialog mit der Poesie kann nur aus einem Denken heraus beginnen, das kaum möglich ist. Das ist auch, was Heidegger selbst in Gegenwart Chars gesagt hat.“
Und gleichzeitig liest man dann bei George Steiner in Der Meister und seine Schüler, daß Wittgenstein meinte, Philosophisches könne man am besten in Poesie ausdrücken.
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Verhängnis für das Morgenrot ist der anbrechende Tag; für die Abenddämmerung die allverschlingende Nacht. Einst gab es Menschen des Morgenrots. Nun, da die Dunkelheit einbricht, ist vielleicht unsere Stunde. Aber warum tragen wir Hauben wie Lerchen?
René Char für Martin Heidegger, 26. Mai 1959
Cees Nooteboom, in Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008
Es war Sympathie auf den ersten Blick. Als René Char im Frühjahr 1946 erstmals mit Albert Camus zusammentraf, war ihm sogleich klar, dass damit „die Geburt und die Morgenfrühe einer Freundschaft“ stattgefunden hatte:
Ich begegnete ihm, ich wusste, wir würden einen gemeinsamen Weg abzuschreiten haben.
Char war damals 39, Camus 33 Jahre alt. Beide hatten sich durch frühe Meisterwerke bereits einen Namen gemacht, Camus durch die Erzählung Der Fremde und den Essay Der Mythos von Sisyphos, Char durch mehrere surrealistisch inspirierte Gedichtbücher. Beide hatten der Résistence angehört und setzten sich nach Kriegsende für die Erneuerung der europäischen politischen Kultur ein. Camus tat es vorab als Publizist und Stückeschreiber mit kämpferischem Einsatz gegen Rassismus, Kolonialismus, Wiederaufrüstung, Char als bewusst elitärer Dichter, der stets für Einzelne, für Wenige schrieb, dies in der Hoffnung, dass die von ihm angesprochene Minderheit sich früher oder später zum gemeinsamen Marsch vereinigen und so auf das intellektuelle wie moralische Klima Europas einwirken werde. Einig waren sich beide darin, dass nach den diktatorisch instrumentalisierten Massenbewegungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus eine individualistisch geprägte Revolte vonnöten sei, für die jeder Einzelne im eignen wie im gemeinsamen Interesse für Wahrheit, Freiheit, Brüderlichkeit sich stark machen sollte.
„Nur um zu lieben, sollst du dich bücken.“ René Chars Devise hat sich Albert Camus vorbehaltslos zu eigen gemacht. Doch den politischen und weltanschaulichen Übereinstimmung zum Trotz gab es zwischen den beiden Autoren auch gravierende Differenzen, die ihre langjährige Freundschaft durchaus hätten gefährden können. Dem weltoffenen und weltgewandten, wiewohl körperlich fragilen Albert Camus stand als monumentale Gestalt der in sich gekehrte, eigensinnige, oft auch abweisende René Char gegenüber. Während jener unentwegt zwischen Skandinavien und Südamerika auf Reisen war, sich als Journalist exponierte und oftmals polemische Debatten zu bestehen hatte, blieb dieser seiner provenzalischen Heimat zeitlebens treu und verharrte nicht nur dem Ausland, sondern auch Paris gegenüber in geradezu feindseliger Abneigung – sein fernstes Ausflugsziel scheint in all den Jahren das Elsass gewesen zu sein.
Dazu kam, schwerwiegender noch, die offenkundige Unvereinbarkeit des literarischen Selbstverständnisses der beiden Freunde. Hier Camus, der mit leichter Hand „engagierte“ Texte für ein breites Publikum schrieb, der schon 1947 mit dem Roman Die Pest einen Welterfolg verbuchen und zehn Jahre danach den Nobelpreis entgegennehmen konnte; dort Char, der als „hermetischer“ Dichter nur wenige Leser anzusprechen vermochte und der literarische Ehrungen grundsätzlich ablehnte. Womöglich waren es gerade diese Unvereinbarkeiten, die dieser Freundschaft Halt und Dauerhaftigkeit verliehen: Nicht die höfliche Harmonisierung von Unterschieden und Gegensätzen war ihre Prämisse, sondern die wechselseitige Akzeptanz der Andersartigkeit.
Auf durchweg anrührende, dabei zutiefst überzeugende Weise hat sich der „gemeinsame Gang“ der beiden Freunde niedergeschlagen in rund 200 Briefen, die zwischen 1946 und 1958 ausgetauscht wurden und die, ergänzt durch andere Dokumente, seit 2007 im Druck vorliegen. Anrührend ist die unwandelbare Zartheit, sogar Zärtlichkeit, mit der die beiden Korrespondenten, deren herbe Männlichkeit und polemische Veranlagung vielfach bezeugt sind, einander begegnen. Über all die Jahre hin bestätigen sie einander ihre Zuneigung immer wieder als eine unverbrüchliche Form von Brüderlichkeit. Camus:
Ich weiss, wir sind einander ähnlich im Schweigen, in unsern Absenzen – und auch in dieser Art von Unglück, das wir Tag für Tag zu schlürfen haben und gegen das anzukämpfen so schwierig, so ermüdend ist, wenn die Jugend schwindet und mit ihr die Kraft der Arroganz, der Gleichgültigkeit.
– Char:
Sie fehlen mir. Diese Worte erübrigen sich vielleicht im Mund eines Bruders. Doch nein, sie müssen ausgesprochen werden, denn das Antlitz wird sich zuletzt seiner selbst nicht mehr gewahr im Nebel des illusorischen Gehalts eines jeden Tags, den man ungenutzt hat verstreichen lassen …
– Wer würde heute, falls überhaupt, sich solcher Sätze bedienen, um Nähe herzustellen, um Vertrauen zu bekräftigen?
Auch von Liebe ist in dieser Korrespondenz immer wieder die Rede, von jener einzigen Macht mithin, der man – vorzüglich als Mann – sich zu beugen hat. „Lieben, nicht lieben? Was für ein endloser Taumel…“, schreibt Char an Camus:
Und niemals kann man zwei bleiben. Sobald man endgültig zwei ist!.. Reicht das aus? Man weiss es nicht mehr. Man dauert fort.
Und Camus zur Antwort:
Ja, ich glaube zu verstehen… Wer sich liebt, müsste gemeinsam geboren sein. Doch liebt man besser nach Massgabe dessen, was man gelebt hat, und das Leben selbst ist’s, das uns von der Liebe trennt. Einen Ausweg gibt es nicht, es sei denn der glückliche Zufall, ein Blitz oder – der Schmerz.
Diskret und verlässlich markieren die Freunde ihre Präsenz, wenn familiäre, gesundheitliche, berufliche Probleme anstehn, jeder solidarisiert sich mit dem andern, wenn er – was bei Camus häufig, bei Char eher selten der Fall ist – öffentlich angegriffen, persönlich oder literarisch verunglimpft wird, und selbst die grossen Erfolge, an denen Künstlerfreundschaften so oft scheitern, können hier nicht zum Problem werden. Man belobigt und beglückwünscht sich weitab von Neid, Misstrauen, Eigeninteressen, man verzichtet auf jegliche Phrasenhaftigkeit, die Wertschätzung findet in schlichten Worten authentischen Ausdruck. Camus an Char (zu Zorn und Geheimnis, 1948):
Ein Wort nur, um Ihnen meine Freude zu sagen und um zu wiederholen, dass dies das schönste Gedichtbuch unsrer unseligen Epoche ist. Mit Ihnen wird das Gedicht ein Mut, ein Stolz. Letztlich kann man es nehmen zum Leben.
Und später (zu Chars Lyrikbuch Die Bibliothek steht in Flammen, 1956): „Was aus uns werden soll, ist eine Frage ohne Sinn. Wir sind geworden. Ich weiss es, wenn ich Sie lese.“ Anderseits Char (über Das Exil und das Königreich, 1957) an Camus:
Keine Leerstelle, kein Loch. Was für ein Weber Sie sind! Das schlägt ins Gedächtnis wie ein Trommler und Parolenschmuggler, eine Geschichte, viele Leben und eine Geographie breiten sich hier aus, unwiderruflich. – Pardon, dass ich mich ein bisschen fahrig ausdrücke. Trotz des Tam-tams wird dennoch meine Freude Sie erreichen.
Zu solchen privaten Äusserungen bilden die Texte, welche Camus über Char und Char über Camus publiziert hat, die unmittelbare Entsprechung – nichts wird vor der Öffentlichkeit zurückgenommen, nichts überzeichnet. „In der fremdartigen und kraftvollen Dichtung, die Char uns vorlegt, kommt unsre Nacht selbst zum Leuchten, und wir lernen erneut zu gehen“, heisst es in einem späten Essay von Albert Camus:
Dieser Dichter, der allen Zeiten zugehört, spricht genau für die unsre.
Und in seinem Nachruf auf den allzu früh verstorbnen Freund – Camus kam 1960 bei einem Autounfall ums Leben – schreibt René Char:
Mit dem, den wir lieben, haben wir zu sprechen aufgehört, und es gibt das Schweigen nicht. Was also hat es auf sich? Wir wissen oder glauben zu wissen. Doch nur dann, wenn die Vergangenheit, die bedeutet, sich auftut und ihm den Durchgang freigibt. Da ist er nun auf unsrer Höhe, dann fern, vorn.
Der Brief- und Schriftwechsel zwischen Camus und Char bezeugt nicht bloss eine ungewöhnliche Männerfreundschaft, er dokumentiert auch ein Stück Zeitgeschichte, das vom Kriegsende in Europa, dem Ersteinsatz der Atombombe in Japan und dem Koreakonflikt bis zur Entstaliniserung der UdSSR, zum antisowjetischen Aufstand in Ungarn und zum Höhepunkt des Algerienkriegs reicht. Zudem belegt er die kontroverse Rezeption der beiden Autoren in Frankreich, vorab Camus’ jahrelange Fehde mit Pia, Mauriac und Sartre, aber auch Chars Bedrängnis durch eine nachrückende jüngere Dichter- und Kritikergeneration, welche mit ihm kaum noch etwas anzufangen wusste.
Inzwischen sind beide, Char wie Camus, durch ihre Aufnahme in die „Bibliothèque de la Pléïade“ als Klassiker der Moderne kanonisiert worden, und man kann sich nur wundern, wie schwer sie sich einst mit den Attacken ihrer Gegner und, nicht zuletzt, mit sich selbst getan haben. Namentlich Albert Camus hat sich, auch noch als Nobelpreisträger, immer wieder verunsichern lassen und kam gegenüber René Char des öftern ins Grübeln über Fug und Unfug seiner Schreibarbeit, ja, er entwickelte, seinem Weltruhm zum Trotz, eine Art von Verfolgungswahn, der im Winter 1957/1958 zu pathologischen Angstzuständen führte. Auch in dieser Krise konnte Camus sich auf seinen Freund verlassen. „Je mehr ich produziere, desto unsicherer bin ich“, heisst es in einem seiner diesbezüglichen Briefe an Char:
Auf den Weg, den ein Künstler abschreitet, senkt sich, stets dichter werdend, die Nacht. Am Ende stirbt er blind. Mein einziger Glaube ist, dass ein Licht ihm innewohnt, das er selbst nicht sehen kann, das aber gleichwohl strahlt. Doch wie könnte man sich dessen sicher sein. Eben deshalb muss man sich auf den Freund stützen können, der weiss und versteht und der im gleichen Schritt einhergeht.
Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Gegengabe, Urs Engeler Editor, 2009
Paul Celan mit René Char
Mehr als 300 Druckseiten umfasst der Schriftwechsel zwischen Paul Celan und René Char, der seit kurzem, ergänzt durch Kommentare, diverse Bilddokumente und eine detaillierte Chronologie, in Buchform vorliegt. Zwar stehen in dieser nun erstmals einsehbaren Korrespondenz – sie erstreckt sich über die Jahre 1954 bis 1968 – Celans vielfältige Bemühungen als Übersetzer und Vermittler René Chars im Vordergrund, doch kommen beiläufig auch die langwierigen Querelen um die Plagiatsvorwürfe in der sogenannten „Goll-Affäre“ zur Sprache, die Celan als existentielle Bedrohung empfand, von der sich Char jedoch nicht involvieren lassen mochte.
Die von Bertrand Badiou mit aufwendiger textkritischer Akribie erstellte Briefausgabe ist – abgesehen von der Präsentation der Erstdrucke – dank der umfänglichen Anmerkungen eine Fundgrube zu genauerem Verständnis der deutsch-französischen Literaturbeziehungen in den 1950er/1960er Jahren, aber auch zur Komplettierung der Werkbiographien der beiden Korrespondenten durch mancherlei bislang übersehene Fakten.
Unter Paul Celans zahlreichen Korrespondenten war René Char – neben Ingeborg Bachmann – der einzige, der seinen hohen künstlerischen Ansprüchen voll und ganz entsprechen konnte. Zwischen den beiden erwuchs eine Dichterfreundschaft, die von wechselseitigem Respekt getragen war und doch niemals zu einer adäquaten vertrauensvollen Beziehung werden konnte, weil dafür der gemeinsame und gleichrangige Sprachbezug fehlte: Char verstand vom Deutschen (wie von allen andern Sprachen) nicht ein einziges Wort, er war vollkommen und ausschliesslich in seine französische Muttersprache eingelassen, die er wie eine Festung hochhielt und die er auch wie ein Festungskommandant beherrschte. Celan hingegen, der Vielsprachige, liess sich von der Sprache (in der er stets alle Sprachen am Werk sah) beherrschen, folgte beim Schreiben gewissermassen ihrem Diktat, verstand sich als ihr Diener und Vollstrecker.
Von daher erklärt sich wohl die latente Spannung, von der die Korrespondenz durchweg – wenn auch sehr diskret – gekennzeichnet bleibt. Paul Celan hat gegenüber René Char einen doppelten Vorrang: Deutsch und Französisch sind ihm gleichermassen vertraut, er kommuniziert mit dem Briefpartner in dessen eigener Sprache, derweil er selbst eine Fremdsprache verwendet, um den Briefdialog überhaupt zu ermöglichen. Anderseits ist das Deutsche – Vater- und Dichtersprache für Celan, unverständliche Fremdsprache für Char – das Medium der Übersetzungsarbeit, die der Begünstigte, also Char, auf keine Weise zu würdigen vermag, so wie er auch Celan selbst, in dessen Qualität als Lyriker, nicht gerecht werden kann. Wenn er ihn gleichwohl als den grössten deutschen Gegenwartsdichter belobigt, tut er dies lediglich anhand der ihm vorliegenden französischen Übersetzungen – ein Faktum, das den hochsensiblen Paul Celan insgeheim kränkt.
Naturgemäss wird diese Ungleichheit zwischen den beiden dadurch verstärkt, dass René Char nicht Gegenrecht halten kann, weder durch literaturkritische noch gar durch übersetzerische Vermittlung Celans in Frankreich. Seine diesbezügliche Unterlegenheit kaschiert und kompensiert er in seinen zumeist sehr knapp gefassten Briefen mit einer angestrengt kollegialen und doch fühlbar paternalistischen Haltung, die er nicht zuletzt durch seinen stets gleichbleibenden erhabenen Stil zum Ausdruck bringt, und dies selbst dann, wenn es Celan um ganz vordergründige Dinge, um „geschäftliche“ oder „literaturbetriebliche“ Interessen geht.
Chars mangelndes Sensorium für die zahlreichen Celanschen Empfindlichkeiten führten immer wieder zu krisenhaften Verstimmungen und zu langfristigen Unterbrechungen des Briefverkehrs. Doch nie wurden die Anlässe zu diesen Krisen zwischen den beiden Korrespondenten expliziert. Nur durch Vermittlung Dritter, Unbeteiligter lässt sich darüber Klarheit gewinnen.
Als hauptsächliche Krisenpunkte sind René Chars vorbehaltslose Bewunderung für den NS-Sympathisanten Martin Heidegger und sein schonender Umgang mit Claire Goll auszumachen, die einen verleumderischen Plagiatsvorwurf gegen Celan lanciert hatte. Aus verlässlichen Quellen weiss man heute, dass Paul Celan diese von seinem „Freund“ gehegten Sympathien als „schockierende“ Provokation empfand und dass sein Missbehagen so weit ging, dass er ihn (in einem Brief an Ingeborg Bachmann) als Menschen wie als Dichter gleichermassen der „Falschheit“ bezichtigte.
Die später erneut einsetzende Korrespondenz wurde auf beiden Seiten mit grosser Vorsicht geführt, fand aber nie wieder zur einstigen Kollegialität zurück. Doch als Paul Celan in den ausgehenden 1960er Jahren psychisch zunehmend in schwere Bedrängnis geriet und wegen Gewalttätigkeiten – darunter zwei Mordanschläge auf seine Frau (1966/1967) – mehrfach interniert werden musste, erwies sich René Char durch zahlreiche Hilfestellungen tatsächlich als der „Freund“, den Celan seinerseits bereits aufgegeben hatte. Zu dieser Zeit begann Char (ab 1969) einen separaten, sehr einfühlsamen und respektvollen Briefwechsel mit Celans Gattin, Gisèle de Lestrange, der zu einer intensiven künstlerischen Verbindung führte und den Freitod des Dichters (1970) um viele Jahre überdauerte.
[Paul Celan / René Char, Correspondance (1954–1968), suivie de la Correspondance de René Char avec Gisèle Celan-Lestrange (1969–1977). Éditions Gallimard, Paris 2015.]
Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Endnoten, Ritter Verlag, 2019
Angela Sanmann: „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“: Paul Celan als Übersetzer von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Horst Wernicke: Zorn und Geheimnis
Die Furche, 31.5.2007
Horst Wernicke: „Einen Blitz bewohnen“
Neue Zürcher Zeitung, 14.6.2007
René Char: Prometheus und Steinbrech zugleich gelesen von Bruno Ganz.
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