Ria Endres: Augen auf Augen zu

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ria Endres: Augen auf Augen zu

Endres-Augen auf Augen zu

AI WEI WEI
IM REICH OHNE MITTE ONLINE

Wenn der Baum groß ist
bekommt er mehr Wind

(chinesisches Sprichwort)

jemand mußte Ai Wei Wei
verleumdet haben
sein Anwalt stellt Fragen
weil 12 Kameraaugen
sein Haus einsaugen

outside auch reale Bewacher
als zähe Beschatter
oder ist einer im Auto eingenickt
nein er hat nur den Winkel verrückt
Anweisung ganz intern
vom großen gelben Stern

dieser unfreundliche Wächter
will immer mehr Material
Für seine Personalakte

Ai fragt
„was sucht ihr
wo sind die Belege
meiner Schuld für irgendwas“
aber niemand sagt etwas
sinnlos überhaupt der Ruf
„Partei bitte melden
Gericht bitte melden“

warum schreit der Präsident
Patriotismus und
korrekte Ansichten
zur Geschicht
e

soll er die uralten Orakelknochen
aus der Shang-Dynastie befragen
das will er lieber nicht wagen
und das I Ging
wandelt stets seinen Sinn

plötzlich dieses Verhängnis
81 Tage Gefängnis
Zelle mit zwei Wärtern
ohne wenn und aber
an einen Stuhl gekettet
in Atemnähe dauerbewacht
gibt es keine gute Nacht
dann entlassen
ohne wenn
aber aber
warum weiß nur
abrakadabra
der kommunistische Gott

draußen
ohne Ausweis und Gerichtsurteil
will er doch nur
Ai Wei Wei sein

das alles ist
wieder einmal
ein Beispiel für
staatlich verordnete
inside outside
Paranoia und
nicht vergessen
in diesem Überwachungsstrom
kann sogar essen
nicht nur zum Schein
illegal sein
und das alte Mah Jongg Spiel
mit seiner Himmelsleiter

Hausarrest
Selbstbeobachtung
durch 4 aufgestellte
Kameras im Atelier
sogar unter der Dusche
filmt er sich
inside online wegen
Angstverminderung
wieviele Millionen Augen
blinzeln ihm zu
gibt es da
inside outside
keine Ruh

Augen meine lieben Fensterlein
sagt auf Wiedersehn
können ihn auch Tiere sehn
und schwarze Planeten
schadet das seinem Immunsystem
er will nicht in die
Pathosfalle gehn
denn er ist nur einer von
21 Millionen
die in Peking
inside outside
unter grauem Himmel
im Smogdesaster wohnen
alles verdammt toxisch
auch Joy City
Pekings shopping mall

im Video die
nachgebaute Zelle ohne Fenster
Wärter als Gespenster
seine Marmorkamera
ist auch da
nein es ist keine Mundharmonika
und Handschellen aus Jade
seine Souvenirs
bitten nicht um Gnade

in Dumbass führt er Regie
mit einem Sack über dem Kopf
darauf steht
Verdächtiger

zu einer Ausstellung
durften 6000 Holzschemel
aus der Kaiserzeit
in den Gropiusbau reisen
was wollen sie beweisen
auch seine lackierten Hanvasen
metallisch glänzend
durften reisen
schläft darunter wirklich das Original
und viele Flußkrebse aus Porzellan
sehen uns an

für eine Straftat
gibt es null Beweise
ihm selbst verweigern sie die Reise
die Marxismusprüfung
hat er inside outside
leider nicht gemacht
deshalb wird er doch bewacht
auch in der Nacht

oder genügt es schon
daß er sein Vogelnest nicht mehr mag
seine Scherenschnitte
im Reich der Mitte
Soft Power Kultur befielt
das Zentralkomitee
jeder soll die gleichen Träume haben
Ekel für Ai Wei Wei

Ai’s Rechtsanwalt
fuchtelt mit dem Handy herum
bitte das Orakel fragen
auch er immer online
in seinem Mitteilungswahn
wenn offline dann tot
oder alles nur Schattentheater

jemand mußte Ai Wei Wei
verleumdet haben
doch er will nicht klagen
in dieser Geheimgesellschaft
ohne Vertrauen
mit realen Hinrichtungen
und anderen Verbrechen
wie bei Mao
immer noch heißt es
Die Führung durch die Partei
und die sozialistische Herrschaft des Rechts
sind ein und dasselbe

Ai Wei Wei aber bleibt der verdächtige
Narr Nummer I. 7
Dumbass
der Individualist
mit dem bekannten Gesicht
den seine Katzen inside outside lieben
er aber liebt Hui Weng

Wei durchbricht
abrakadabra
das Geheimnis
auf seinen Twitter Tweets
will er tapferer Traumjäger
ohne Sehnsucht sein
wenigstens online zum Schein

weil er tut was sie tun
aber auch virtuell lebt
und twittert
ego sum
im Überwachungsapparat
erstickt der Staat
inside outside
im Internetmaterial
seinem Energiepotential
denn dort hat er eine
verdächtige Dauerausstellung
als Schutz vor der Diktatur
der Algorithmen

die Parteizeitung Global Times
spricht immer wieder
vom Konzept der harmonischen
ying yang Gesellschaft
ist stolz auf den
Alibabagründer Jack Ma
mit seiner Mundpropaganda
und warnt vor Wei’s
marginalisierter Zone
wo er als Looser inside
mit zuviel CO2
neben dem mainstream wohne

mainstream heißt zhu liu
Augen eure lieben Fensterlein
vernetzt für alle
nie allein
mitten in der Falle
wo Dämonen wohnen
nie in tiefer Nacht
kann kein Träumer sein

 

 

 

Vater, Mutter, Kommunionkind

– Die Rätsel einer persönlichen Geschichte: Neue Gedichte von Ria Endres. –

Die Gedichte von Ria Endres sind traditionsbewusst. Und zwar auf eine besondere Weise: Die Geschichte der Kunst und die der Dichtung enthalten Botschaften, die nur für sie bestimmt sind und auch nur von ihr entziffert werden können. Es gibt ein Bild von Matisse, es heißt „Der schwarze Tisch“. Am Tisch sitzt eine Frau. Das Bild wird zum Schlüssel, die Dichterin selbst denkt sich hinein:

An diesen Tisch
da setzt ich mich fast malerisch
im dünnen weißen Kleid
ein orientalisch Jäckchen lag bereit
jetzt war ich von der Angst befreit
Arabesken grüßen von der Wand
meinen Hut und meine Hand.

Genau so sieht es auf dem Bild von Matisse ja aus. Aber dieses überlagert sich mit Ria Endres’ Kindheitsgeschichte:

Ich sitze stumm
im weißen Kleid
am schiefen Tisch herum
Kommunionkind
im Delirium
weiße Kerze
groß wie ich
erschlägt mich fast
am Küchentisch
mit seinem schwarzen Fleck
ein Magnetismus
zog mich weg.

Matisse hat das Bild 1918 in Nizza gemalt. Und so beschreibt Endres den Kontrast:

Ich hab mir zugesehen
Wie ich im Nizzazimmer stand
dort gab es keine nasse Wand
dort war kein Griesbrei angebrannt.

Vor fünfunddreißig Jahren wurde Ria Endres gleichsam mit einem Donnerschlag berühmt, als sie ihre germanistische Dissertation erscheinen ließ:

Am Ende angekommen. Dargestellt am wahnhaften Dunkel der  Männerporträts des Thomas Bernhard

Das war ein wuchtiger, wütender feministischer Essay. Im Vorwort konnte man etwas über ihre Geschichte lesen:

Ich kenne meinen Vater nicht. Er, ein amerikanischer Soldat irischer Abstammung, soll rote Haare gehabt haben. Ich bin ein Besatzungskind.

Diesem Vater setzt nun das Gedicht über den schwarzen Tisch ein Denkmal. Die Beziehung ergibt sich über das Datum:

Was so alles geschah
Matisse war da
mein Vater wurde auch 1918 geboren
(…)
1918 war plötzlich wichtig
sonst gäbe es mich nicht.

Der Vater „wanderte in Nordamerika / im irischen Familienkorridor herum / er sang in Detroit an der Bar / und musste doch noch in den Krieg. (…) kriegskrank zurück nach USA / nicht mehr walking / nicht mehr talking / singing / dying / weg für immer / nur nicht weg / als Phantom / aus dem Netzhautzimmer / legte meinen Kopf auf den / schwarzen Tisch / von Matisse“.
Ob die irische Herkunft des Vaters eine stammverwandte Vertrautheit mit dem Werk von Samuel Beckett stiftete, den Ria Endres verehrte? Julian Becks titelloses Bild aus dem Jahr 1945 führt zu dieser Überlegung:

Als Julian Beck 1945
sein kleines Bild malte
war ich gerade
im Bauch meiner Mutter

– und dann kehren die Erinnerungen an Beck und Beckett wieder, als im Frankfurter Theater am Turm That Time aufgeführt wurde. Wenn die persönliche Geschichte unauflösliche Rätsel enthält, müssen Literatur und Kunst auf ihre Botschaften abgehört werden. Heute feiert Ria Endres ihren siebzigsten Geburtstag.

Lorenz Jäger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.4.2016

Ein Fleck, ein Heft, ein Gedicht

Ein schwarzer Fleck auf dem Küchentisch vor dem Kind führt dieses als erwachsene Frau zum „schwarzen Heft“ von Henri Matisse. Natürlich umgekehrt, äußerlich. Das Gemälde ruft das innere Bild   jener Situation hervor:

ich sitze stumm
im weißen Kleid
am schiefen Tisch herum
Kommunionkind
im Delirium

Und doch mag es auch der Fleck sein, der eben so zum Heft im Bild führt, dass es berührt. Denn vor diesem Werk, 1918 gemalt, wird sich das dichterische Ich in „Schwarzer Tisch Matisse“ bewusst, dass in jenem Jahr der eigene Vater geboren wurde, der schon damals, am Festtag, am Küchentisch fehlte:

er starb bevor ich ihn je sah

In solchen Bewegungen, die nur scheinbar Umwege sind, nähert sich Ria Endres in ihrem Gedichtband  Augen auf Augen zu  etwa auch ihrer Mutter. Ihrer erinnert sich die poetische Stimme einmal ebenfalls angesichts eines Gemäldes, geschaffen von Julian Beck 1945, da „war ich gerade / im Bauch   meiner Mutter“.
Hier, in „Julian Beck’s Minimal Painting“, bringt sie Beck, den von ihr verehrten Samuel Beckett und sich selbst zusammen, wundert sich, „was man mit Sprache alles machen kann / in dieser raffinierten Balance / von früher und jetzt“.
Dabei zieht die Autorin ihren manchmal hastig abgehackt wirkenden Kurzversen in umso längeren Gedichten gern eine fast unmerkliche Reimstruktur ein, wissend:

das ist doch nur ein armer Reim
doch er kann sehr beruhigend sein

Aber auch überraschend, wenn sie „malen kann“ mit „Paul Cezanne“ verbindet.
Manches, wie „Ai Wei Wei im Reich der Mitte online“, gerät vielleicht etwas plakativ, aber meistens gräbt Ria Endres tief. Unter Titeln wie „Neue Ewigkeit“, „Hymne“, „Litanei“ hält sie weltliches Gericht. Auch im Langgedicht an ihren Wohnort („Frankfurt pointillistisch“) bezieht sie „in meiner Hirnschale“ Position für eine „unsichtbare Proklamation / in meinem kleinen Theater / zerebral / ist nicht egal“.

Rolf Birkholz, Am Erker

 

Gespräch von Bernd Leukert mit Ria Endres: Den Luxus der Wörter finden

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

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