Richard Anders: Marihuana Hypnagogica

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Anders: Marihuana Hypnagogica

Anders/Anders-Marihuana Hypnagogica

I

Ich sehe wie ein Mund sich öffnet
Ich bin in dem Mund
im Mund steht ein Fisch vor einer Badewanne
die mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt ist
Aus den Fliesen kommt ein Gesicht hoch
direkt unter der Heizung
Das Gesicht verwandelt sich
in eine Frau und einen Mann
Das Gesicht ist aus weissem Porzellan
ein klingendes Gesicht
ein Frauengesicht
ein Nasengesicht
Die Landschaft wird rot
das Zimmer rot
Im Zimmer eine Pyramide
die ich hinaufsteige
Die Spitze aus winzigen und auch größeren Steinen
rote Steine
grüne Augen
fließender
durch sich selbst fließender Stein
gelb schimmern
Im Zimmer die Lampe mit Nadelstrahlen
und die hohe Kupferkönigin
fächert Segel fächert Farne
aus ihrem Fischkörper
Jemand der wie gemalt aussieht
setzt sich mit allen Farben auf den Stuhl
Er wendet mir seinen Rücken zu
durch ein Loch sehe ich sein Gerippe leuchten

 

 

 

Den Bereich des Traums zu erkunden,

diese Aufgabe haben sich von Anbeginn Wissenschaft und Literatur, Medizin und Magie geteilt. Heute versorgen die Massenmedien ihr Publikum regelmäßig mit Informationen darüber. Träume zu haben, gilt als normal. Nur über ihre Bedeutung wird gestritten. Der Bereich, dem sich der Verfasser mit diesen Protokollen forschend und protokollierend zuwendet, wird dagegen zumeist mit Schweigen übergangen, setzt sich doch derjenige, der hier aus eigener Erfahrung spricht bei ungenügend Informierten dem Verdacht aus, ein Fall für die Psychiatrie zu sein. Die inneren Bilder, deren unmittelbare Erfahrung der Verfasser einem Diktiergerät anvertraut hat, unterscheiden sich darin von denen des Traums, daß sie im Wachzustand erscheinen, vorzugsweise aber in abgedunkelten Räumen, was zu der etwas irreführenden Bezeichnung hypnagoge (zum Schlaf führende) Halluzinationen geführt hat. Hier sind aber auch nicht die Bild gewordenen Wunschvorstellungen oder Befürchtungen unseres Ichs gemeint, auf die der Begriff Tagtraum zielt. Das oft bizarre, unerwartete und flüchtige Geschehen der „phantastischen Gesichtserscheinungen“ wie sie 1823 Johannes Müller nannte, entzieht sich dagegen weitgehend der Beeinflussung durch den Willen  – nur langes Üben kann diesem über die Bilder Macht verleihen, sie zum Bleiben bewegen.  Die Bilder zu verdeutlichen, ihren Fluß etwas zu verlangsamen und damit beschreibbar zu machen, gelang dem Verfasser durch geringe Gaben von Marihuana, die er schließlich auch weglassen konnte, weil sein Gehirn (über mehrere Jahre hinweg bei zwei bis vier Sitzungen pro Jahr) ihr Protokollieren gelernt hatte. Das Marihuana erwies sich aber zuweilen als störend, was das ursprüngliche Vorhaben betraf, die Sprache nur als Medim der Beschreibung, als Mittel zum Zweck zu benutzen. Unter dem Einfluß der Droge wehrte sie sich, bloßes Werkzeug zu sein und beging poetische Versprecher. Das hieß aber vom bloßen, wissenschaftlich zu nutzenden Protokoll gelegentlich in den psychischen Automatismus hinüber zu wechseln, wo paradoxerweise die Galanterie des Drogengegners Breton galt: „Après vous mon beau langage.“ (Nach dir, meine schöne Sprache). So konnte sich der Verfasser auch nicht zum Streichen kürzerer oder längerer Passagen entschließen, wo er nicht Bilder sondern gehörte Sätze notierte.
Am Schluß seiner Einleitung sagt der Verfasser von der nur kurzfristig aufzuhaltenden Beschleunigung der Bilder, „daß der allen Dingen innewohnende Zerfall, der uns außer bei Katastrophen zumeist verborgen bleibt, in erschreckender oder grotesker Weise sichtbar wird. Nichts hat Bestand und Halt, Häuser biegen sich, stürzen zusammen, eine schöne Frau verwandelt sich in einen verdorrenden Ast. Die Erde wird von fürchterlichen Kreuzungen von Tier und Mensch in Besitz genommen. Vielleicht hat hier der Glaube an das Zweite Gesicht, das Hinweise auf die Zukunft geben soll, seinen Ursprung.“

Richard Anders, Druckhaus Galrev, Programmheft, 2002

Einführung

Bilder in der Dunkelheit zu sehen – vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen – also hypnagoge oder hypnopompe Halluzinationen zu haben – wie viele andere hat mich diese Gabe ein Leben lang begleitet … Den zeitlichen Abstand zwischen dem Erleben der äußerst flüchtigen Bilder und dem Versuch ihrer Notierung zu minimieren ist äußerst schwierig. Lewis Carroll erfand deshalb den nyctograph, ein Gerät, dass ihm erlaubte auch im Dunkeln zu schreiben, die Bilder also ad hoc festzuhalten. Auch ich verließ mich zunächst auf die Erinnerung, indem ich, kaum daß ich eine hypnagoge Halluzination im Dunkeln gesehen hatte, sie in ein paar Sätzen auf einem bereitgelegten Notizzettel beschrieb, dann das Licht löschte und die nächste hypnagoge Halluzination „einfing“. Diese Methode hatte jedoch zwei Nachteile: 1. Es waren „Schnappschüsse“ – so als würde man aus einem fortlaufenden Film willkürlich einzelne Bilder herausschneiden und sie als Standbilder verwenden. 2. Es gab zwar die für hypnagoge Halluzinationen typischen Verwandlungen, doch waren sie auf kürzeste Zeitdauer beschränkt. Möglicherweise wurde so eine Geschichte mitten in ihrem Entstehen unterbrochen. Wie Carrolls nyctograph auch funktioniert haben mochte – mein endlich gefundener Kugelschreiber mit eingebauter Minilampe erlaubte mir zwar ebenfalls im Dunkeln zu schreiben, verscheuchte jedoch die subtilen Bilder. Nun erinnerte ich mich, seinerzeit meine LSD-Erlebnisse mit Hilfe eines Tonbandgerätes direkt dokumentiert zu haben. Nichts schien einfacher zu sein, als meine hypnagogen Halluzinationen noch während ihres Erscheinens direkt in ein Diktiergerät einzugeben. Leichter gesagt als getan: die Bilder rannten mir nicht nur während des Diktierens davon, schlimmer, es waren mehrere gleichzeitig, welche dies taten. Vom LSD her wußte ich, daß mit Hilfe bewußtseinserweiternder Mittel eine Synchronizität von Bild und Sprache leichter zu erreichen war. Ich begnügte mich mit geringen Marihuana-Beigaben im Baguette-Aufstrich, im Tee, in karamelisiertem Zucker, den ich in Sahne auflöste. Nach ein paar Jahren hatte ich das Diktieren während des Bildersehens so eingeübt, daß ich gelegentlich auf Marihuana verzichten konnte. Ein Vergleich der Ergebnisse zeigte, was die Art der beschriebenen Bilder anging, keinen signifikanten Unterschied. Lediglich die Sprache machte sich nicht so oft selbständig wie unter Marihuana, wo sie häufig und gern die Grenze vom Protokoll zur écriture automatique überschritt – ich war nicht so frei, ihr das zu verwehren. – Natürlich mußte ich auch bei dieser Methode Nachteile in Kauf nehmen. Indem ich die inneren Bilder nicht nur in eine Folge von Sätzen, Satzbruchstücken, Einzelworten preßte und sie so einer linearen Struktur unterwarf sondern ihnen zwangsläufig auch Bedeutungen unterschob, wie sie die stets sinnbesessene Sprache suggerierte, fälschte ich sie, was mir stets dann zu Bewußtsein kam, wenn ich mit dem Diktieren aufhörte und mich diesen inneren Bildern ohne Absicht überließ. Ein Ineinander und Durcheinander, das sich vielleicht nie wird abbilden lassen als durch einen irgendwann in grauer Zukunft zu erfindenden neuronalen Scanner…

Richard Anders, Aus der Einleitung, 2002

 

„Der Gedankensprung als geistige Fortbewegungsweise“

− Zu Richard Anders: Marihuana Hypnagogica. −

„Der Gedankensprung als geistige Fortbewegungsweise“ – so hat einmal Peter Rühmkorf recht passend seine Denkvorgänge unter der Einwirkung von Cannabis beschrieben. Wie dies konkret aussehen kann, ist in Richard Anders’ Buch Marihuana Hypnagogica nachzulesen. Anders hat mit Hilfe von Marihuana hypnagoge Halluzinationen provoziert, die ihn bereits seit seiner Kindheit heimsuchten und sich seitdem als roter Faden durch sein dichterisches Werk ziehen.
Anders’ Protokolle sind nach der surrealistischen Schreibmethode der écriture automatique erstellt – die vom Autor erfahrenen Visionen wurden auf einem Diktiergerät bei ihrer Entstehung festgehalten und später – unverändert – auf Papier übertragen. Anders nennt diese Bilder „fremd, als kämen sie aus einer anderen Welt, während sie doch nur durch Übereinanderkopieren verfremdete Erinnerungen sind. Man könnte auch moderne Begriffe wie Collage und Überblendung nennen.“ Ein solches Unterfangen, gleichzeitig als Protagonist der eigenen Traumwelt und als deren objektiver Beobachter zu fungieren, ist nicht unproblematisch. Das Resultat ist eine höchst private, aber dennoch faszinierende Reise in das Unterbewusstsein des Autors, die keinen Anfang und kein Ende kennt, die sich von assoziativen Gedankenverknüpfungen nährt und scheinbar willkürlich ihre als Stichwort gelieferten Visionen aufgreift und verwirft. Ganz nach dem Rimbaud’schen Motto „Ich ist ein Anderer“ überlässt er sich seinen traumähnlichen Eindrücken und liefert Schnappschüsse aus einer überfließenden Symbolwelt, die eben noch von Realitätsfetzen durchsetzt, im nächsten Moment schon wieder in der Subjektivität versunken ist:

Leute knallbunt wie Wachspuppen
kommen mir entgegen
Ich könnte sie für tot halten
aber sie sind lebendig behendig
werfen wilde Blicke
Gleichzeitig kann man sie in Brusthöhe öffnen
Meistens öffnen sie sich mit beiden Händen selber
und man kann einen Blick in ihr Inneres tun
sieht Gewölbe und Wendeltreppen.

Nichts in Anders’ Visionswelt ist permanent, die Transformationsfähigkeit von Dingen und Menschen ist ein entscheidendes Element seiner Halluzinationen.
In seinem Buch Verscherzte Trümpfe hat Anders darauf hingewiesen, dass der rationale Diskurs dem irrationalen Gestus nicht beikäme. Mit einem rationalen Ansatz wird man auch den Protokollen in Marihuana Hypnagogica kaum gerecht werden, denn Anders hypnagoge Visionen sind „suspiria de profundis“. Erst die Gesamtheit der Motive und die Autobiografie des Autors verdichten die zahllosen, scheinbar zusammenhangslosen Gedankengänge zu einem tiefenpsychologischen Muster, welches Deutungen erlauben könnte. Immer wieder verlässt der Erzähler seinen menschlichen Körper, um zu fliegen, zu tauchen, schwerelos zu schweben oder – auffallend oft – zu fallen. Ständig werden, durch Tore und Tunnel, andere Welten betreten, Metamorphosen durchziehen jedes Protokoll. Der Käfig, das Theater, Spiegel und Maskenhaftigkeit sind immer wiederkehrende Motive, die sich, so oder ähnlich, auch schon in den Gedanken des jungen, von der Mutter zur Abhängigkeit erzogenen und vom Vater kaum beachteten Richard Anders finden: „Ich riss mich los, verwarf die Gedanken an Bücher, Kameraden, verwarf die krampfhafte Sucht, jemandem zu gefallen, ließ mich den Hügel hinabrollen, willenlos wie ein Toter, wie die Haut einer Schlange, aus der ein leichtes, seidiges Wesen entschlüpft“ („Ein Lieblingssohn“). Wer die Lebensgeschichte des Autors kennt, kann in die Gedankenlabyrinthe der Protokolle ein wenig Ordnung bringen, mehr als Annäherungen (im Sinne Ernst Jüngers) werden aber auch damit kaum möglich sein, denn gerade das Aufbrechen gewohnter Sprach- und Denkmuster konstituiert ja das befreiende Element der surrealistischen Schreibweise.
Macht die Tatsache, dass Marihuana Hypnagogica unter Einwirkung eines künstlichen Stimulans entstanden ist, das Werk zur Drogenliteratur? Der genüssliche Selbstbezug des Berauschten, die scheinbare Willkür der Handlungsentwicklung und die erlebten Synästhesien sind zweifellos charakteristisch für Literatur, die den künstlichen Paradiesen entsprungen ist. Bei Anders jedoch scheint ein Sonderfall vorzuliegen, denn schon als Kind bewegte er sich in den Parallelwelten von Realität und Traum. Als Opfer einer als Dressur empfundenen Erziehung sah er die im Dämmerzustand eintretenden Visionen erst als Fluch, dann aber als befreiende Möglichkeit, daraus künstlerische Inspiration zu schöpfen. Seine Experimente mit halluzinogenen Drogen hatten dabei wohl eher eine katalytische Wirkung. Sie ließen den Fahrstuhl seiner Erinnerungen in die Tiefe schnellen, das dort Vorgefundene jedoch offenbarte sich als Palimpsest aus jenen Ängsten, Wunschträumen und Erfahrungen, die über die Jahre vergessen oder verdrängt wurden, nie aber vollkommen erloschen sind. An den eigentlichen Halluzinationen hat die Droge, wie Anders selbst bestätigt, wenig geändert.
Viel Detailliebe ist in die Gestaltung des Bandes eingegangen. Ähnlich wie bei Cocteau und Michaux geben die surrealistischen Collagen des Autors einen visuellen Eindruck jener in den Protokollen beschriebenen Visionswelten, denen Worte immer nur bedingt gerecht werden können. Die drucktechnische Hervorhebung des hypnagogen bzw. berauschten Zustands mithilfe grüner Schattierungen des Textes erinnert an filmische Überblendungstechniken und ist ein origineller Versuch, das Problem der verbalen Darstellung des Imaginierten zu verdeutlichen.

Stephan Resch, literaturkritik.de, 2.2.2005

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Strube, Rolf: Luftfallen
Der Tagesspiegel, 4.5.2003

 

TRAUMPROTOKOLL
In memoriam Richard Anders 2012

Nacht
aaaaaden Meeresspiegel
aaaaagesunknen Gestirns
aaaaatasten die Finger –

Der tote Freund spricht

aaaaaWir sind unterwegs
aaaaadem Satz vom Fall ins
aaaaaAll auf die Spur zu kommen

Ich rief heulte fand
ihn zuletzt am Berg –

den Reim an kaltem Mund

Schnee ist gefallen –

Farbe des Nichts
aaaaaaaaaaaaaaaWeiß
aaaaaniedergekommen
auf dem
aaaaaaaaaaWeg ins Vergessen

Manfred Peter Hein

 

RICHARD ANDERS

Als Blatt vor dem Maul
redet sich das Nachthemd
der Oma zur Haube
um Kopf und Kragen
gebracht
geht die blöde Göre
zur guten Nacht

Peter Wawerzinek

 

Zum 70. Geburtstag des Autor:

Cornelia Jentzsch: Denkbilder nach dem Absturz
Berliner Zeitung, 25.4.1998

Gabriele Killert: Der letzte Surrealist
Neue Zürcher Zeitung, 25.4.1998

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer
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Nachrufe auf Richard Anders: Lyrikzeitung & Poetry News ✝
Der Tagesspiegel ✝ Die Stadtteilzeitung

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Richard Anders

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