DER GEKRÜMMTE HÖRER
für Konrad Klapheck
Jedesmal, wenn auf der Fernstraße
ein Laster vorbeidonnert,
vibriert in der erleuchteten
Telephonzelle am Waldrand
das Kinn auf der Gabel
wie ein Gehenkter,
der gekrümmte Hörer,
in Erwartung von jemand,
der ihn sehnsüchtig begreift,
nach Vollstreckung seinen Leib
abnimmt vom Apparat,
diesen wie einen Toten
mit Münzen nährt,
nach der Nummernwahl
in die Muschel
Lebenszeichen gibt.
Doch bin ich wie jeder Lyriker meiner Generation durch die „Schule der klassischen Moderne“ gegangen, ohne mich in ihr einzurichten. Vom Surrealismus interessierten mich weniger die Assoziationsketten des psychologischen Automatismus als die rätselhaften, kaum briefmarkengroßen Traumbilder, die beispielsweise der Maler Edgar Ende wie durch ein umgekehrtes Fernrohr sah. „Geheimnis und Melancholie einer Straße“ stand unter der Schwarzweiß-Reproduktion eines Bildes von de Chirico, die mir kurz nach dem Krieg in die Hände fiel. Gleich wußte ich: so wie dieses Bild gemalt ist, möchte ich schreiben, und von dem so Geschriebenen sollte die gleiche magische Wirkung ausgehen! Heute sind es die bedrohlichen Topografien eines Edward Hopper oder Alex Colville, wo ich Anverwandtes entdecke. In der zeitgenössischen Lyrik vermisse ich diese Alltägliches in Überwirklichkeit verwandelnde Perspektivik weitgehend. Und wie versuche ich mich ihr zu nähern? Aus der Flut der Bilder, wie sie Kindheitserinnerungen oder die Gegenwart einer Stadt wie Berlin hervorbringen, wähle ich einzelne heraus und isoliere sie, indem ich sie der Stille und der Bewegungslosigkeit aussetze in der Hoffnung, ihr allzu scheues Geheimnis zum Bleiben zu bewegen.
Richard Anders, Klappentext, 1985
Richard Anders, 1928 in Ortelsburg geboren, hat sich in Berlin, wo er seit 1970 lebt, einen gewissen Namen als Lyriker und auch als Literaturkritiker gemacht. 1980 erschien sein dritter Gedichtband unter dem gleichnamigen Titel in der Mariannenpresse. Er hat ihn jetzt überarbeitet und im Berliner Oberbaum-Verlag neu herausgebracht. Stadtautobahn assoziiert automatisch Berlin, ja eigentlich nur Westberlin. Dennoch ist das schmale Bändchen mit seinen 35 Gedichten, von denen nur die erste Gruppe noch einmal unter dem Titel des Ganzen deutliche Berlinbeziehungen hat, so etwas wie eine schöpferische Bilanz des Poeten, die im zweiten „Der Sprung im Teller“ überschriebenen Teil auch andere Örtlichkeiten und Zeiträume lebendig zu machen sucht. Ein Gedicht „Preussische Zimmer“ ist einem gleichbenannten älteren Band von 1975 entnommen. Anders spricht in einer Vorbemerkung davon, daß er in der zeitgenössischen Lyrik eine „Alltäglichkeit in Überwirklichkeit verwandelnde Perspektive vermisse“. Reales ins Surrealistische sublimiert ist denn auch eine nicht immer leicht erkennbare Tendenz seines Dichtens. Hierfür bringt der Band plausible Beispiele nicht nur in seinen Berlinprospekten, sondern auch da, wo er auswandert, nach Indien, in die Mittelmeerlandschaft, schließlich auch ins dichterisch Allgemeine, wie im Gedicht „Bäume“ oder in einem andern nachdenklichen Beispiel, das „Der Witwer auf der Parkbank“ überschrieben ist. Was Anders im Gedicht, wie er es zum Ausdruck bringt, zu beschwören weiß, zeigt sich eindrucksvoll in dem Beispiel, das „Bitte um Nachsicht“ überschrieben ist:
Du bist die Treppe hochgekommen
ein Gesicht, das ich noch lerne,
während ich deine Stimme, dein Lachen
schon inwendig weiß.
Wir bauen auf und ab, was uns trennt,
machen Unordnung in unseren Köpfen
durch Telephongespräche, damit
Vertrautheit kein Haustier wird.
Bist du, hör’ ich dich fragen
auch wirklich ein gestandener Mann,
Manns genug, daß ich zu diesem
Schneekönig aufblicken kann?
Oder bist du nur ein Zapfen,
der nach unten sprießt
an etwas hängt und sich
zu nichts entschließt?
Nimm nur, hör ich mich sagen,
den Lauf meines Lebens nicht krumm,
auch wenn er krumm ist und abwärts
springt wie ein Bach in den Bergen.
Der keine Turbine speist,
doch Trinkwasser führt. Denk’
hell machen will ich nicht
deine Lampe, sondern dein Herz.
Es ist viel Demut und Einfachheit und wenig Stolz und Eitelkeit in diesen Gedichten. Sie sprechen leise, oft schwer verständlich, schreien nie, weder mit einer Ideologie, noch mit hohen Forderungen an die Welt und die Menschen. Vieles aus einem beladenen und geprüften Leben mit Tod und Tragik und Schuldbewußtsein ist in diesen immer schlicht sprechenden Gedichten versteckt. Sie verdienen es, mit Kontemplation langsam und mehrmals gelesen zu werden. Es ist so, wie Anders es ausdrückt:
aus der Flut der Bilder wähle ich einzelne aus und isoliere sie, indem ich sie der Stille und der Bewegungslosigkeit aussetze in der Hoffnung, ihr allzu scheues Geheimnis zum Bleiben zu bewegen.
Die Stadt Berlin kommt in Texten wie Glienicker Forst, Beschränkter Bahnübergang, U-Bahnhof Schöneberg oder General-Pape-Straße, Tempelhof, auf sinnfällige und sinnstiftende Weise zu Wort, „Pans Stunde in Berlin, die Bewohner / von der Mittagshitze in die Wälder, / an die Seen geflohen, endlich wieder Stille / in der abgedunkelten Wohnung“.
Wilhelm König, Neue Deutsche Hefte, Heft 189, 1/1986
RICHARD ANDERS
sagte etwas dem [gemeint ist ein Ausspruch von Oskar Pastior: „Prometheus minus Mäh gleich Proteus“] nicht gänzlich Unähnliches ganz anders, nämlich:
Ohne mich schrumpfte ich zu wahrer Größe.
Sollte dieser Satz ein sozusagen gelöster Wurf einer festen Überzeugung sein, dann verrät er vielleicht auch ein wenig von dem Grund, aus dem das lyrische Werk von Richard Anders über 40 Jahre so schmal geblieben ist, daß man es, abgesehen von einigen druckgrafischen Buchmappen im Riesenformat, zur Not noch in den Manteltaschen mitnehmen könnte. Was sich sehr lohnen würde, weil seine Gedichte bis heute und heute mehr denn je auch für das Echo stehen, das der Surrealismus unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg in Berlin und anderswo in Deutschland gefunden hatte. Für eine kurze Dauer, und weil die Trümmer der Städte einen hinreichend surrealen Anblick boten, war man für die Stimmen aus dem Unterbewußtsein empfänglich. Mit dem Erwachen eines neuerlichen Selbstbewußtseins erlosch das Interesse der literarischen Öffentlichkeit wieder, und der Berliner Surrealismus wurde, noch ehe er richtig angefangen hatte, zu einem Ismus marginalisiert, der mit seiner Auffassung des automatischen Schreibens den Verdrängnismechanismen des Schreckens und mit seinem Engagement für das Wunderbare außerhalb der Ökonomiezwänge dem sogenannten Wirtschaftswunder zuwiderlief. Richard Anders wurde damals von der aus Paris gekommenen Utopie getroffen und verschrieb sich unter wechselnden Vorzeichen der Sache des Surrealismus, der noch kaum übersetzt war. Er faßte Fuß in einer Bewegung, die ihrerseits in Deutschland nur wenig Fuß fassen konnte. Und so erratisch die Spur seiner Bemühungen auch war, die Beispiele seiner Anverwandlung der französischen Vorbilder unter die Deutschen zu bringen, so unverkennbar ist die Spur in ihrer Leichtigkeit, mit der sie die alten und neuen Hierarchien der sprachlichen Ebenen verwischt und den Abdruck eines Traums auf ihren Sätzen hinterläßt. Selbst ihr Verschwinden kann eine Enthüllung sein. Einer seiner Buchtitel: Fußspuren eines Nichtaufgetretenen, widerspiegelt dieses Können. Natürlich geht es Richard Anders nicht darum, seine Träume zu „erzählen“. Er vertraut ihnen zwar in ihrer Rolle als Stofflieferanten und besticht sie gelegentlich auch mit Marihuana, damit ihnen der Weg auf seinen Schreibtisch nicht zu weit ist. Doch dann spricht er mit und in ihnen so, daß man als Leser nicht mehr sicher sein kann, ob der Autor sich seinen Text oder der Text sich seinen Autor träumt. „Falscher Dualismus der Menschen, laß mich ein wenig bei deiner Lüge träumen!“ sagte Louis Aragon einmal sinngemäß. Die aufgeräumte Aufbruchstimmung, die in diesem Begehren steckt, könnte vielleicht auch als ein unsichtbares Motto über den dichterischen Erkundungen von Richard Anders stehen, die weniger von einem Insichgehen haben als von einer Zerstreuung und ihre Absicht der Zerstreuung ebenso gefaßt zuwege bringen wie sie andererseits eher „lustwandeln“, wenn sie bei der Forschungsarbeit auf ihrem Feld sind. Mit dem Feld ist jenes „psychophysische Totalfeld“ gemeint, wie André Breton es bezeichnete, wo das Ich bereit sein muß, sich gleichermaßen dem Fließen sprachlicher Zeichen zu überlassen und dabei den Drang seiner Wünsche nicht zu bevormunden.
Andreas Koziol, aus einem Vortrag
61 + 61 = 122
Richard Anders
gibt die Hand und
salz dem delta
nur macht das
freilich dada oder
aber gleich handy
im sandlederfach
einfach oder das
zahlfrei wie
dem ballsaalmagen
es aus dem weg −
einfach das oder
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ananas banane weg
im ledersandfach-
magen dem saalball:
das nur macht
zweck ansich
gleich aber handy
aus dem weg ist
− und gibt zeck
Lieber Richard,
im bezifferten Alphabet (A=1, B=2, C=3 etc.) addiert sich Dein Name zur Schlüsselzahl 122 – die nun das Maß für jede Zeile darstellt. Die oulipotische Regel, die in der Aufgabe steckt, stammt von Michelle Grangaud.
Natürlich ist das Schlüsselzahlgedicht weder ein Horoskop noch ein Orakel. Meines hier soll Dir einfach alles Gute zum Geburtstag wünschen!
Oskar Pastior, Berlin, 24.4.1998
Cornelia Jentzsch: Denkbilder nach dem Absturz
Berliner Zeitung, 25.4.1998
Gabriele Killert: Der letzte Surrealist
Neue Zürcher Zeitung, 25.4.1998
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