PSALM TAUSENDNEUNHUNDERTVIERUNDDREISSIG FÜR RICHARD LEISING
1. Sonderlich ein jeder Vollrausch kostet dich Abermillionen deiner Hirnzellen und unwiederbringlich, siehe, so wirst du verblöden, wenn du nicht Einhalt tust, und wirst werden geistlos und wirst delirieren auch in der Nüchternheit, wenn du Einhalt getan hast zu spät. 2. Und werden sich von dir wenden alle, die du liebst, da dein Geist nicht mehr bei dir ist. 3. Mindestens Hilflosigkeit wirst du ihnen auferlegen und Bürde, mehr aber noch Beleidigung und Abscheu, und zuletzt die Entfernung und das restlose Schweigen. 4. Wisse, dein Geist und alle, die du liebst, das ist dein Leben, und also ist dein Leben dahin ohne beide, und du kannst es wegwerfen sogleich. 5. Da du solches aber nicht wagen wirst, wird man dich in das Geschlossene Haus sperren so lange, bis dies Haus dir öffnet dein Tod, der ein schmutziger Tod sein wird, ein schmählicher, ein schäbiger. 6. Und wird werfen einen schmutzigen, schmählichen, schäbigen Schatten auf das Gute, das du vielleicht gemacht, höre, und gesagt wird werden, es kann nicht gut gewesen sein, es ist nicht gut, und es wird gut nicht bleiben angesichts solchen Endes.
6.–10. Juni / 16. August 1996
(…) Nach Abschluss des Manuskriptes zu Gebrochen deutsch gab Richard Leising seinem Verlag im Frühjahr 1990 zur Veröffentlichung in einem Verlagsalmanach den folgenden mit 21.3.1982 datierten Prosatext :
Nimm die mutmaßliche Unveröffentlichbarkeit der Gedichte, die du zu schreiben planst, nicht zum Vorwand für deine Trägheit. Erinnere dich, dass fast jedes Stück, an dem dir gelegen war, veröffentlicht wurde, und erinnere dich ferner an die bisher lebenslange, manchmal lebenswichtige Freude an einem gelungenen Gedicht oder Vers. Was hast du am Ende der Tage anderes dir zur Seite zu stellen als deine besten Gedichte? Du wirst dir vergeben, nichts Besseres Anderes getan/gekonnt zu haben, aber dass du dein Bestes gerade darin nicht getan hast, wo du es am ehesten hättest tun können, das vergibst du dir nicht. So erschwerst du dir dein Sterben schon jetzt.
Richard Leising hat testamentarisch verfügt, dass sein gesamter schriftlicher Nachlass mir, seinem Verleger, in Besitz und Verwahrung übergeben wird. Er hat mir aufgetragen, bei der Vernichtung von offensichtlich Unerheblichem nicht kleinlich zu sein, und hat mir die Entscheidung über den endgültigen Verbleib der Materialien überantwortet. Einbezogen in diese Verfügung ist mein Sohn Kristian Wachinger.
Der schriftliche Nachlass enthält eine größere Mappe mit frühen Gedichten, die Leising nicht veröffentlicht, andererseits aber nicht vernichtet hat, sowie mehrere Bände Tagebücher, eine Fülle von Einzelblättern mit Entwürfen, Aphorismen, Zitaten und Kommentaren sowie Briefe und Zeichnungen. Was später publiziert werden soll, hat Leising nicht festgelegt und nicht eingeengt. Eine der auf sein nächstes Buch bezogenen – zum Teil geringfügig widersprüchlichen – Notizen im Nachlass lautet:
Geplanter zweiter Wachinger-Band: Die Rotzfahne, Kleine Prosa nebst einem Anhang Gedichte. – „Rotzfahne“ ist die Titelerzählung, ist aber noch gar nicht geschrieben! – Es gibt eine Mappe: „Fertig, aber nicht für Rotzfahne“. Das ist zu überprüfen (im Einzelfall). – Der Titel ist verbindlich, da muss eben eine Anmerkung des Herausgebers her. Es wird sich eine zweite Rotzfahne-Mappe finden mit einem angefangenen Gedicht dieses Titels. – Sollte ein Photo gebraucht werden, so soll es das in dem Buch Berlin, ein Ort des Schreibens befindliche sein. (Dieses Buch befindet sich bei mir.) Es stammt von Gerd Schochow. – Von der Ausstattung her sollten meine Büchlein eineiige Zwillinge sein. Also auch die Farben identisch.
Es galt also jetzt, bald nach Leisings Tod, einen Band von ähnlichem Umfang wie Gebrochen deutsch herauszubringen. Um Die Rotzfahne möglichst so zu machen, wie es Leising vorgeschwebt hat, habe ich die ihm während der letzten zehn Jahre Nächststehenden um Rat gebeten: Renate Leising, diejenige seiner drei Töchter, die er zur federführenden Erbin eingesetzt hat; Renate Luderer, Leisings Lebensgefährtin von 1978 bis 1992 und auch in seinen letzten Jahren immer wieder sein Beistand; Renate Moser, Leisings Gefährtin von 1992 bis zu seinem Tod; Leisings Freunde Berndt Renne, Gerd Schochow, Enrico Straub. Es gibt eine größere Schar von Dichter-Kollegen, Kritikern, Publizisten, Freunden und Verwandten Richard Leisings, die Erinnerungen an ihn haben. Mit einigen von ihnen habe ich gesprochen oder korrespondiert. Zu späteren Publikationen werden sie Wichtiges beitragen können. Dieses doch weitgehend von Richard Leising konzipierte Buch habe ich zusammen mit Renate Leising und Kristian Wachinger erarbeitet.
Auf Seite 5 steht das von Leising erwähnte Titelgedicht-Fragment. Näheres dazu findet sich in den Notizen zur Textgestalt. Von da an haben wir eine chronologische Reihenfolge herzustellen versucht. Auf den Seiten 6 bis 32 stehen Gedichte, die Leising vor 1990 geschrieben, aber nicht in Gebrochen deutsch (1990) aufgenommen hat. Einige davon waren bereits 1975 im Poesiealbum 97 veröffentlicht gewesen. (Um den Lesern, die das Poesiealbum nicht haben – das sind zweifellos die allermeisten – diesen Rest vollständig zu übermitteln, haben wir neben Leisings eigenen Gedichten auch seine dort gedruckten Nachdichtungen aufgenommen.) Einige Gedichte aus der Zeit vor 1990 hat Leising der Ebenhauser Textsammlung eingefügt, einige hat er nach 1990 durch neuerliche Abschrift und Weitergabe sozusagen hervorgehoben. Auf den Seiten 33 bis 57 stehen Gedichte und Prosastücke, die Leising nach 1990 geschrieben hat, und zwar einerseits die endgültigen Texte, die er in die Ebenhauser Textsammlung gegeben, andererseits Texte aus dem Nachlass, die er nicht ausdrücklich zur Aufnahme in das nächste Buch bestimmt hat.
Bei einigen Gedichten war die Redaktionsarbeit des Autors noch nicht abgeschlossen, das heißt: im Manuskript oder Typoskript waren Wörter durchgestrichen, Durchstreichungen unterpunktiert, alternative Wörter notiert. In den meisten Fällen war es klar, welcher Variante der Vorzug zu geben war. Aber bei den Gedichten „Auch ich“ und „Die Krähen“ waren wirklich Entscheidungen zu treffen. Vom Text „Die Fahne“ war sogar nur ein Blatt mit Bruchstücken vorhanden; fertig waren immerhin die ersten vier Zeilen, und unmissverständlich war die Korrektur der Überschrift von „Die Rotzfahne“ in „Die Fahne“. Alles übrige sind aneinandergereihte Einzelzeilen. Durch die Zusammenarbeit bei Gebrochen deutsch und die seither geführte Korrespondenz hatten wir genug Anhaltspunkte, wo wir zurückhaltend und wo wir eher mutig sein sollten.
Kristof Wachinger, Nachwort
Der Dichter Richard Leising, der vor einem Jahr mit 63 in Berlin starb, hat kein einfaches Leben geführt. Schwer wurde ihm alles, weil er dem Verludern einer Utopie zuschauen mußte:
dieses Land darin ich leben will
Aber muss
1934 in Chemnitz geboren, wuchs Leising im Handwerkermilieu auf, studierte in Weimar und Leipzig Theaterwissenschaft. Der Jugendtraum des Brechtianers vom großen Theater zerschellte an dogmatischer Kulturpolitik. Und der Dichter camouflierte sich als Dramaturg. Leising schlug sich an kleinen Theatern durch, seit 1973 bis zur Wende-Kündigung am Theater der Freundschaft in Ostberlin. Früh glaubte er, dem Verfall der Welt um sich nur im vollendeten Vers begegnen zu können. Des Dichters Empfindungsreiz blieb auch dort von hoher Verletzbarkeit, wo andere wenig bemerkten. Was ihn drängte, waren Erfahrungen, nicht gesuchte Bilder aus eigener Bestimmung. Sein Schreiben am Gedicht zeigte immer eine starke Neigung zum Verstummen. Wahre Verzweiflung hat keine „Gauklerflügel“ und keinen Ausdruck, nur ihre Stummheit wie „Bleigewichte“. Oder war es ein langes Schweigen, das den Wörtern vorausging? Souveräne Resignation?
Es ist nicht so, dass ich schweige
Ich kann nur nicht sprechen
Leisings Werk, entstanden in vierzig Jahren, umfaßt keine hundert Seiten. Aber in des Dichters „Grundtrauer“ wurde aus Sprachnot poetische Virtuosität. Leising kannte eine „lebenslange, manchmal lebenswichtige Freude an einem gelungenen Gedicht“. Hatte er an ein Gedicht letzte Hand angelegt, und darüber konnten Jahre vergehen, drängte ihn nichts, es zu veröffentlichen. Nur Freunde bekamen es zu Gesicht. Immer blieb er mehr Außenseiter als Frondeur. Aber die vereinzelt vagabundierenden Gedichte begründeten seinen Rang innerhalb der „Sächsischen Dichterschule“. Richard Leising stand am Rand, doch für Dichterkollegen wie Sarah Kirsch, Adolf Endler, Karl Mickel oder Heinz Czechowski gehörte er zum Kern. Eines ihrer schönsten Widmungsgedichte hat ihm Inge Müller hinterlassen:
Trägst dein Kindergesicht wie ein König
Der alle Reiche verloren hat.
Bernd Jentzsch konnte 1975 in dem Heft 97 der Lyrikreihe Poesiealbum ein gutes Dutzend Gedichte und einige Nachdichtungen aus dem Russischen von Richard Leising vorstellen. 1990 gelang es dem bayerischen Verleger Kristof Wachinger nach zehnjährigem Drängen, diesen stillen Dichter zur Veröffentlichung von fünfunddreißig Gedichten zu bewegen. Gebrochen deutsch heißt das Bändchen. Sarah Kirsch sagt darüber:
Ein Buch, in welchem jede Seite mit gültigen Strophen bedruckt ist, das ist höchst selten.
Jetzt gab Kristof Wachinger einen Nachlaßband mit Gedichten und kleiner Prosa von Richard Leising heraus: Die Rotzfahne. In der Aufmachung ein schöner Zwillingsband zu Gebrochen deutsch: Bleisatz, Walbaum als Schrift, Vorsatz mit Fabriano-Bütten, Ganzleinen. Versammelt sind hier neben Gedichten aus den langen letzten Jahren auch jene Strophen, die Leising in seinem ersten Band nicht aufgenommen hatte. Es findet sich kaum Fragmentarisches, alles ist reif für das Publikum. Auch hier Sarkasmus und Dissonanz. Einige Meisterstücke sind darunter. So das Gedicht „Liebste“:
Hockt im Trauern, läuft im Singen
Hält sich auf in…, weilt in Schliengen
Macht am Ende gar Gedichte
Gauklerflügel, Bleigewichte
Oder umgekehrte Lieder
Wackersteine, Lichtgefieder.
Form gewordener Wechsel zwischen Schmerz und Seligkeit. Hier eine Geste des Übermuts, dort ein Zeichen der Trauer, eben ein Geständnis, bald eine Gebärde der Scheu, wenn nicht der Scham. Richard Leising weiß, Unglück kommt auch durch das falsche oder schale Wort in die Welt. Dabei ist es schwer, manches Stück deutscher Erbwirklichkeit nicht auch komisch zu finden. Blickt der Dichter auf sein Leben, hat er keine Wahl.
Auch ich trug stolzgeschwellt, das Hitlermesser
Später mein Schweigen, ich kleidete es
In edle Wendungen, ich trug, bau auf, bau auf
Meinen Stein herbei zur Mauer, auch ich
Von vielem bin ich frei, in nichts von Schuld
Und es ist wohl nichts als Glück,
Dass ich keinen verriet.
Das Zerbersten von Hoffnungen entfachte für Leising seit seiner Zeit als Pubertätsmarxist ein großes Zerstörungspotential. Zu seinen Gewißheiten gehörte: Es gibt keinen späteren Ausgleich für die Säumnisse im Leben. Er blieb ein gefährdeter Mann, erschöpft bis zum Ekel. „Meine Augen sehen mich nicht mehr.“ Doch er verlor die Welt um sich nicht. „Wir sind ein Volk“ wurde für ihn zu keinem Mirakel. Zu genau kannte er die ideologischen Janusköpfe und ihre Abenteuer mit schlechtem Ausgang.
Sie haben mich nur entmündigt und eingemauert
Aber nicht verfolgt.
In den riesigen Verzeichnissen ihrer Feinde
fand sich mein Name nicht.
Nicht in den Akten liegt für Dichter die Zeugenschaft, auch wenn alle Welt meint, sie wüßte, um was es sich handelt. Für Leising weiß sie es nicht. Zu seinen letzten Versen gehören:
Der englische Soldat bleich mit der Gartenkralle
Furchtsam schabend exhumiert er den Tod von Srebrenica.
Mit den Bänden Gebrochen deutsch und Die Rotzfahne läßt sich das poetische Lebenswerk des Richard Leising besichtigen. Beim Lesen kommt einem Barlachs „Alte“, die nichts gelernt hat, aber alles weiß, in den Sinn. Ein seltener Dichter. Richard Leising war in seiner kinderäugigen Wahrnehmung sehr einsam. Immer.
„Maulfaul, schreibfaul, bist du“, rüffelte ihn einst Karl Mickel in einem Widmungsgedicht – um im gleichen Atemzug die poetische Bruderschaft beim Bier zu beschwören. Tatsächlich hat sich der Dichter Richard Leising, anders als seine Kollegen aus der „sächsischen Dichterschule“, in seiner poetischen Produktion rigoros auf Zurückhaltung und auf ein strenges Genauigkeitsideal verpflichtet. In den fast 40 Jahren seiner literarischen Produktion hat der 1934 in Chemnitz geborene und 1997 in Berlin gestorbene Leising nicht mehr als 80 Gedichte geschrieben und nur zwei schmale Gedichtbände publiziert. Er gehörte zu den verborgensten Dichtern in der DDR, ein in poetischer Klandestinität verharrender Autor, der sich als „Diogenes im zerfallenen Gehäuse“ (Sarah Kirsch) ins Schweigen zurückzog, als er sah, daß es für ein authentisches Sprechen keinen Ort mehr gab.
Was Mickel jedoch als „Schreibfaulheit“ deklarierte, verdankte sich in Wahrheit einer über die Jahre gewachsenen Sprachempfindlichkeit und einer unglaublich skrupulösen Arbeitsweise. Zudem waren die Erfahrungen, die Leising mit den Vollstreckern des real existierenden Sozialismus machte, nicht dazu angetan, aus ihm einen mitteilungsfreudigen Sänger des DDR-Alltags zu machen. Fasziniert von der Epochengestalt Brechts, hatte er 1952 ein Studium der Theaterwissenschaften in Weimar begonnen, das er später in Leipzig fortführte, wo er 1956 als SED-Kandidat die Hochschule verließ. Seine sozialistischen Hoffnungen zerschlugen sich, als er 1961 erstmals mit der paranoiden Aggressivität der Kulturbürokratie konfrontiert wurde. Gegen Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin, dem Leising damals als Lektor des Hofmeister-Verlags zur Veröffentlichung verholfen hatte, wurde eine Kampagne entfacht, die auch Leising in Mitleidenschaft zog. Da er seine „politischen Bauchschmerzen“ schon damals öffentlich kundtat, fiel Leising bald in Ungnade und wurde fortan als „asoziales Element“ gehandelt. Aus dieser prekären Lage rettete ihn damals Horst Bergemann, der Leiter einer Laienspieltruppe, der ihm eine neue Tätigkeit als Regisseur vermittelte. Bei späteren Bedrängnissen war es der Regisseur Karl Friedrich Zimmermann, der dem seelisch angeschlagenen Leising Halt zu geben versuchte; besonders nach dem plötzlichen Tod von Leisings zweiter Frau im September 1973, als der Dichter dem Alkohol zu verfallen drohte. In den nachgelassenen Gedichten Leisings finden sich mehrere Texte, in denen der Dichter dieser „entscheidenden Freundschaft“ mit Zimmermann gedenkt. So wirft Leising im Gedicht „Tod des Zimmermann“ die lyrische Maske ab, um in ohnmächtiger Deutlichkeit die DDR-Bürokratie als „Mörder“ und „Folterer“ für den Tod seines Freundes im Februar 1986 verantwortlich zu machen.
Zu diesem Zeitpunkt, in der beginnenden Agonie der DDR, hatte sich Leising schon ins Schweigen zurückgezogen. Das einzige poetische Zeugnis, das in der DDR von ihm vorlag, war ein Heft aus der legendären Reihe Poesiealbum, die Nummer 97 aus dem Jahre 1975. Schon in diesem Heft zeigt sich die lyrische Meisterschaft Leisings, der im Gegensatz zu seinen Freunden Czechowski, Endler, Braun oder Mickel nicht einen typischen Personalstil anstrebt, sondern den Stil jeweils aus dem poetischen Stoff heraus entwickelt und sich dabei als formal ungeheuer vielseitiger Dichter präsentiert. Es sind Gedichte, die in Anlehnung an Brecht das „gestische Sprechen“ kultivieren oder auch als Parabel daherkommen; Gedichte, die sich auf eine modernisierte Heinesche Volksliedstrophe stützen; Gedichte aber auch in knapper lakonischer Rede, die sich an manchen düsteren Stellen zu einer Poetik der Daseinsverfinsterung zuspitzen.
Von Sarah Kirsch auf Leising hingewiesen, gelang es dem Verleger Kristof Wachinger erst 1990, den Vergessenen seiner dichterischen Verborgenheit zu entreißen und ihn im Band Gebrochen deutsch mit 35 mustergültig komponierten Gedichten (die teilweise schon im Poesiealbum zu lesen waren) vorzustellen. Neben scheinbar heiter-vitalen Zeilen über die Wünschbarkeit des Kommunismus („Zu einem richtigen Arbeiterstaat / Gehört ein richtiger Kartoffelsalat“) finden sich hier schon düstere Verse aus den sechziger Jahren, in die sich unübersehbar das Bewußtsein einer existentiellen Verlorenheit eingeschrieben hat, die Absage an ein Land, in dem man nur mit einem „Herzen voll / Fröhlicher Kälte“ überleben kann. In späteren Gedichten ist illusionslos notiert, daß kein Weg aus diesem unlebbaren Leben herausführt:
Das Leben ist kein Leben, aber der Tod ist der Tod
Ich weiß keinen Weg, und den gehe ich.
Einen zweiten Band mit unveröffentlichten Gedichten und kleiner Prosa hatte Leising schon konzipiert, als der vom Alkohol geschwächte Dichter im Mai 1997 von einer Lungenentzündung endgültig niedergestreckt wurde. Aus dem schriftlichen Nachlaß und einer Mappe mit frühen Gedichten hat Kristof Wachinger nun den konzipierten Band unter dem Titel Die Rotzfahne veröffentlicht. In der ersten Abteilung dieses vorzüglich edierten Buches finden sich Texte, die Leising in den sechziger und siebziger Jahren geschrieben hat, die aber nicht in Gebrochen deutsch aufgenommen worden sind. Die zweite Abteilung enthält Gedichte und lyrische Prosastücke aus den letzten Lebensjahren Leisings, in denen der Dichter in lyrischen Gedenkblättern die „Stunde des eigenen Todes“ antizipiert. Diese letzten Arbeiten Leisings sind vielfach in einem skizzenhaften Stadium steckengeblieben: Oft werden Spaziergänge über Friedhöfe thematisiert, kleine, schwermütige Beobachtungen zur Ostberliner Alltagstristesse, Selbstporträts des Dichters als alter Mann in körperlicher Hinfälligkeit. Mitten in diesen Notaten stößt man plötzlich auf ein Distichon, in dem der alltägliche Schrecken unserer modernen Kriege in zwei Zeilen gebannt sind:
Der englische Soldat bleich mit der niedlichen Gartenkralle
Furchtsam schabend exhumiert er den Tod von Srebrenica.
Der Tod ist in diesen lyrischen Skizzen Leisings ständiger Weggefährte. In einem Porträtgedicht „Goethe, Mai 1805“ spiegelt er sich in dem von Krankheiten zermürbten Weimarianer, der den Tod Schillers kommentiert:
Was bleibt mir noch, außer zu bleiben
Endlich allein, wieder einsam.
Wenn er nicht die eigene Sterblichkeit heraufbeschwört, entschlüpft dem Dichter mancher Fluch auf die kläglichen Repräsentanten des Sozialismus, von denen sich das lyrische Ich „entmündigt und eingemauert“ sieht. In diesem Kontext fragmentarisch gebliebener Arbeiten zur Verborgenheit seiner DDR-Existenz finden sich auch zwei, drei vollkommene wie verstörende Gedichte, die das Erscheinen dieses Buches zu einem außerordentlichen Ereignis machen. So hat Leising im Gedicht „Auch ich“ seine tragische Biographie in bewegende Verse gefaßt, in denen sich das Dichter-Ich mit der Frage nach der eigenen Schuld quält. „Auch ich trug es stolzgeschwellt, das Hitlermesser“, hebt dieses Gedicht an, um am Ende die Frage nach Kollaboration und Schuld zu stellen:
Später mein Schweigen, ich kleidete es
In edle Wendungen, ich trug, bau auf, bau auf
Meinen Stein zur Mauer, auch ich
Mitpächter war ich eines Meters Todesstreifen
Bin ich wahr, wenn ich in der Vergangenheit rede?
Von vielem bin ich frei, in nichts von Schuld
Und es ist wohl nichts als Glück,
Dass ich keinen verriet.
Michael Braun, Der Freitag, 2.10.1998
– Richard Leisings lyrisches Minimum. –
BODDEN
Wenn das Eis in den Bodden kommt
Kommen die Schwäne in den Bodden
Dann hocken sie auf dem letzten Wasser
Dann zieht das Eis Kreise um sie
Dann frieren die Kreise zu
Dann machen sie schlapp
Dann sterben sie
Schnell
So der Anfang eines Gedichts, der den genannten Schwänen nicht viel Raum und dem Dichter wenig Atem lässt, der Einkreisung des Eises, der Umzingelung und dem Klammergriff des Winters Trotz zu bieten. Wenn erst einmal das Eis in den Bodden gekommen ist, laufen die weiteren Ereignisse nun wie am Schnürchen, also gesetzmäßig ab – und es dauert nicht lange und die Schwäne sind tot.
Dieses so wenig tröstliche Gedicht lässt sich nicht unter dem Zeichen des Wechsels der Jahreszeiten weiterdenken, das einzig Zyklische in dem Gedicht bleibt der Kreis, und der macht sich seinen Reim aufs Eis und taugt nicht zum Neubeginn, sondern zum Fokus, zur Engführung. Erstaunlicherweise konnte dieses Gedicht schon 1975 veröffentlicht werden: im Poesiealbum Heft 97, der einzigen selbständigen Publikation des Dichters in der DDR. Dabei war Leising kein unbekannter Autor dort – schon in der 1966 erschienenen Anthologie In diesem besseren Land, die die Dichter und Herausgeber Adolf Endler und Karl Mickel zu einem dichterischen Manifest zusammenschnürten, war er mit Gedichten vertreten – und er war in guter Gesellschaft, Peter Huchel, Bertolt Brecht, Erich Arendt – aber auch Volker Braun, Sarah Kirsch, Heiner und Inge Müller waren in der Anthologie versammelt. Dennoch bleibt Leising der unbekannteste Dichter der sogenannten „Sächsischen Dichterschule“, die all jene neuen Stimmen der 1960er Jahre in einer losen Gruppierung vereint, auch in einem freundschaftlichen Sinne – und Karl Mickels Gedicht „Bier. Für Leising“ erklärt nur die eine Hälfte: „Maulfaul schreibfaul bist du“. Das schmale lyrische Werk zweier Gedichtbände und weniger publizierter Einzeltexte und Übersetzungen am Ende seines Lebens scheint Mickels Aussage recht geben zu wollen. Dabei ist Leisings Biographie phänotypisch=äußerlich kaum abzuheben von etlichen seiner Dichterkollegen.
Leising, 1934 in Chemnitz geboren, studierte von 1952 bis 1956 Theaterwissenschaft in Weimar und Leipzig. Als Dramaturg in Crimmitschau wurde er aufgrund politischen Eigensinns bereits nach einem ¾ Jahr fristlos entlassen, 1958 wurde er im Leipziger Zentralhaus für Volkskunst, in der Abteilung Künstlerisches Wort wieder angestellt, anschließend arbeitete er als Lektor im Friedrich Hofmeister Verlag, einem Verlag für Laientheaterliteratur, der 1960 durch den Henschel Verlag übernommen wurde. Doch auch hier schied er in Folge der Umsiedlerin-Affäre 1961 aus dem Verlag aus: Heiner Müllers brisantes Stück war im Hofmeister Verlag ausgedruckt worden, und Leising wurde für die Uraufführung mitverantwortlich gemacht, nach der der Autor Müller, der Regisseur B.K. Tragelehn und das Stück selbst als „konterrevolutionär, antikommunistisch, antihumanistisch“ abstempelt waren. Leising lebte ohne festes Einkommen am Rande des Existenzminimums und schlug sich als Fernsehdramaturg, Kritikenschreiber für Theater der Zeit, freier Lektor und Mitarbeiter einer Laienspielgruppe in Marienborn durch. 1969 ging er als Dramaturg an das neugegründete Magdeburger Kindertheater. 1973 wechselte er ans Theater der Freundschaft in Berlin. Nach dem plötzlichen Tod der zweiten Frau 1973 geriet Leising in fortschreitende Alkoholabhängigkeit. Bald nach dem Mauerfall, 1990, wurde ihm aufgrund von Stellenabwicklung am Theater gekündigt, er ging in Frührente. Erst 1990 erschien der langjährig vorbereitete Gedichte-Band Gebrochen deutsch bei Langewiesche-Brandt, obwohl Sarah Kirsch erste Kontakte mit dem Verleger schon 1978 vermittelt hatte. 1992 erhielt er für diesen Band den Christian-Wagner-Preis, ein Umstand, der ihm eine Weile „Freihändigkeit“ in finanzieller und existentieller Hinsicht bescherte, wie er in der Laudatio formulierte. 1997, im Alter von 63 Jahren, starb Leising an den Folgen einer Lungenentzündung. Schon diese wenigen äußeren Daten und Fakten vermögen nur schwer die Brüche und Ungeradlinigkeiten dieses Lebens zu verbergen – und kaum ein Text, der nicht seine Spuren davon ins Kenntliche trägt.
Wenden wir uns also wieder den Texten zu. Die Fortsetzung des Gedichtes „Bodden“, in dessen erster Strophe die Schwäne am Ende „schnell“ gestorben sind, lautet:
DANN KOMMEN NEUE
Dann kann man hingehen
Dann kann man sich einen Schwan greifen
Dann kann man ihn in die Waschküche schleifen
Dann kann man das Wasser in die Wanne schütten
Dann kann man ihn hineinsetzen
Dann kann man ein Feuer machen
Dann kann man das Wasser anwärmen
Dann kann man ihm zu fressen geben
Dann kann man ihm zu fressen geben
Dann kann man ihm Fische und Brot geben
Dann frisst er nicht
Dann kann man ihm Fische und Brot geben
Dann kann man ihm Pudding und Kirschen geben
Dann kann man ihm was man hat geben
Dann frisst er nicht
Dann kann man ihm gute Worte geben
Dann frisst er nicht
Dann wird sein Hals dürr
Dann kann man zusehen wie sein Hals dürr wird
Dann kann man zusehen wie sein Hals gelb wird
Dann schnieft er nicht mehr beim Näherkommen
Dann wartet er auf was
Dann kackt er das Wasser grün
Dann kippt sein Hals über den Wannenrand
Dann verreckt er
Dann muss man ihn herausnehmen
Dann muss man ihm die Daunen herausreißen
Dann muss man ihn in die Grube schmeißen
Dann muss man sich die Hände waschen.
Anders als bei Peter Wawerzinek, der eben diesen Vorgang der winterlichen Überlebenshilfe für Schwäne in der autobiographischen Erzählung Das Kind, das ich war beschreibt und von einem Gelingen berichtet, sind bei Leising die Schwäne nicht zu retten, weder als Gattung noch als Einzelexemplar. Allen Möglichkeiten und Varianten zur Rettung zum Trotz antwortet der Schwan mit trauriger, grundloser Verweigerung, die nur konstatiert, nicht behoben werden kann. Eine Zwangsläufigkeit, der „man“ weder mit kindlichem Einfallsreichtum noch mit geduldiger oder praktischer Empathie begegnen kann, so dass am Ende nur bleibt, sich die Hände zu waschen. Diese letzte Handlung, scheinbares Zeichen der Hygiene, kann immerhin für sich die symbolisch-moralische Unbeteiligtheit am „Verrecken“ einfordern. Die räumlich halboffene Situation des Boddens – von Landzungen ist der Zugang zum offenen Meer abgegrenzt –, verschärft der Winter zur geschlossenen Lage, das Gedicht verengt sich damit zum Verschlussbild einer Gesellschaft am ‚Gefrierpunkt‘: Die Bemühungen für ein Überleben werden zu Zeichen der Vergeblichkeit, der Rückzug in die private Badewanne ändert nichts an der Tödlichkeit des Ausgangs, die sich als alternativlose Wahl zwischen „Verrecken“ und „Erfrieren“ herausstellt.
Doch nicht nur die Schwäne stecken fest, auch die Menschen haben alle Hände voll zu tun, um zu überleben:
Es leidet, o Herr, deine Erde
An Untergehenden
Keinerlei Mangel!
heißt es im „Gesang der Rudersklaven bei Sturm“. Sie schwingen sich auf zu einem Gebet, doch im umgekehrten Sinne: „Noch kannst du wenden / Von uns dein Angesicht“ – flehen sie ihren Gott an um Nichtbeachtung, denn Aufmerksamkeit „von oben“, aus göttlicher Sphäre, bedeutete Untergang. Sie flehen um ihr bisschen Leben, das der Schlussvers als ein Leben „Auf der Galeere!“ offenbart, und setzen ihr Ausrufezeichen dennoch zur Bekräftigung ans Ende des Lieds.
In dem Gedicht „Tod des Zimmermann“ wird Leising deutlicher in Bezug auf die Befugnisse ‚von oben‘ und die realen Machtverhältnisse im Land:
Sie haben ihn nicht fahren lassen
In diese unschuldige Stadt Gießen
Hingehalten ihn über ein halbes Jahr
Eine Vorladung ein NEIN, eine Vorladung ein VIELLEICHT
Meinen Bruder, meinen Bruder
Den Herzkranken, den Epileptiker
Der zu den Eltern wollte und überhaupt mal raus
[…]
Der zu sicher war, zu entspannt war er
Entspannt durch Vertröstung
Vor der Vorladung, 7.2.1986
Da fiel er um, da kam er ins Krankenhaus
Da war er 3 Uhr 35 Uhr tot
Was blieb mir da von mir
[…]
Sie haben ihn mir weggenommen
Ermordet durch Hinhalten, durch Folter
Diese Mörder, diese Folterer
Keine Gnade ihnen
Und keinen Tod, keinen Tod.
Die realen Hintergründe zwingen Leising zum Klartext, einer seiner engsten Freunde, der Regisseur Karl Friedrich Zimmermann, ist genau wie im Gedicht beschrieben gestorben, die Fakten sind vermerkt: Datum und Zeitpunkt des Todes und die Ursachen, die klar die Schuldigen benennen und damit den Tod zum Mord werden lassen. Dieser Text, dem vor diesem Hintergrund die Mehrdeutigkeit der Lesarten fehlt, beginnt als faktischer Bericht, wird zur Anklage der Mörder und schließt mit dem Fluch, dass es aus ihrer Verdammnis keinen Ausweg geben möge. Das Eigentliche, den Verlust des ‚Freundes und Bruders‘, vermag das Gedicht nur mit Leerzeilen zu fassen, von denen das lyrische Ich umlagert ist: „Was blieb mir da von mir“, heißt es, nachdem der Tod festgestellt worden war. Die Grenzen des Ichs werden unkenntlich in dem Verlust, in der Auflösung, und nur in diesem negativen Gebet, in der Verwünschung – die sich wie ein Echo des Gebets der Galeerensklaven liest –, findet es noch einmal zu sich und zur Stimme zurück.
Dass angesichts solcher Erfahrungen dieses Leben kaum anders errungen/ertragen werden kann als in dem bloßen Versuch, der sich als Versuch ausweist, ist allen Gedichten eigen: „Das Leben ist kein Leben, aber der Tod ist der Tod / Ich weiß keinen Weg, und den gehe ich.“, schreibt Leising in „Der Rabe. Tragikomische Legende“ – ein Gedicht nach dem Stück von Carlo Gozzi, das er für das Theater bearbeitet hatte und das eine weitere Desillusionierungsstation in seiner Biographie bildete. Denn auch hier eckten Dichter und Regisseur bei der Aufführung an der Berliner Volksbühne 1981 so heftig an, dass der Regisseur Berndt Renne fortan nicht mehr in der DDR inszenieren durfte und damit ein weiterer endgültiger Abschied anstand.
Der Versuch zu leben wird fortan auch zum Selbstporträt des Dichters. Das Gedicht „Die Schüsse“ malt eine Ahnengalerie anderer zum Leben schwer tauglicher Dichter: Nr. 1, Heinrich von Kleist. Kleists Abschiedssatz an die Schwester: „Die Wahrheit ist dass mir auf Erden / Nicht zu helfen war.“ wird erwidert von Nr. 2, Majakowskis „bleiernem Schlusspunkt“, den ebenfalls die Kugel setzte:
Genosse Regierung
mein Leichnam:
Hier!
Ich will den bleiernen Schlusspunkt setzen
Rede
Genosse Mauser
zu mir.
Und das lyrische Ich kann nicht anders, als sich einzureihen als Nr. 3 in die Linie der Vorgänger:
Und nicht auf den grünen Hügeln
Und nicht im Männerdunst des Bürgerkriegs
Und nicht durch den Stier
Und im Grappa nicht
Und nicht in dem dunklem Meer
Wo denn sterb ich, und wie? und wie lange.
Auffälligerweise steht hier ein Punkt am Ende des Verses, kein Fragezeichen, das nach der Zukunft fragt, das Sterben wird damit zur Aussage für die Gegenwart, es ist schon im Gang und hält an – kein bleierner Schlusspunkt durch die Kugel, nur ein Zeichen im Bleisatz in der Textur des Blattes. So zieht die Sprache ihre Schlüsse daraus, sie ist es, die allein aus dem Tod noch heraushalten kann, der das Sterben endigt, eine Weile lang – wenngleich die Beispielreihe im Gedicht fortgesetzt wird: Nr. 4 und 5 müssen nicht einmal ausgeführt werden, die Ziffern werden dabei zur zeichenhaften Signatur, die in diese Linie gestellt, aussagekräftig genug ist. Das heißt, die Biographien dahinter können abgekürzt, aber in ihrem tödlichen Ausgang nicht aufgehalten werden: „usf.“ ist der lakonische Ausklang, das Ich nur eines von vielen. Heißt bei Brecht der letzte Eintrag in dem Gedicht „Orges Wunschliste“ 1956, also kurz vor seinem eigenen Tod, noch: „Von den Leben die hellen. / Von den Toden die schnellen“– ist bei Leising das (übrige) Leben bereits verlängertes Sterben. Bleibt nur: „Von allen Worten die letzten“ zu suchen – und also die gültigen zu finden. Auch ein Umstand, der erklärt, warum er so zögerlich mit der Herausgabe seiner Gedichte war. So wenig, das er für fertig hielt und schließlich aus der Hand und dem Verleger gab. „Vom Minimum“ ist eines dieser wenigen Gedichte, das seinem eigenen – höchsten – Anspruch genügte. Darin werden die Vögel bestaunt und fast beneidet angesichts ihrer außerordentlichen „Leistung“ morgendlichen Gesangs:
Noch ist der Tag nichts als ein klammes Niemandsland zwischen
Osten und Erde, doch flugs wird der Habenichts lauthals gerühmt von
Tausenden Vögeln! Auch wo der Himmel verbaut ist, etwa in
Leipzig, es reicht, dass sie da sind – und? Sie lassen sich hören!
Irgendwas braucht bloß Baum zu sein neben den Steinen, gleich geht’s
Rund!
Fast vergisst das Gedicht über seiner Begeisterung und Eloge auf die Vögel, dass auch der Dichter ja singt und auf ebenso „fraglich bequemem Dachfirst“ „Töne“ hat, auch wenn der Anlass noch so schwer zu erahnen ist wie etwa jener blasse Morgenstreif zwischen „Osten und Erde“ oder der Himmel noch so verbaut sein mag. Töne zu finden, Worte, ist dabei keine Kleinigkeit, sondern eben „besondere Leistung“, die das Minimum garantiert, das zum Überleben vonnöten ist. Auch dieses frühe Gedicht nahm Leising in seinen Gedichtband Gebrochen deutsch auf, dessen Titel bereits von der Mühseligkeit des Sprachbesitzes zeugt. „Gebrochen deutsch“ formuliert mit den Brüchen und zugehörigen Bruchkanten die Fragmenthaftigkeit dessen mit, was mitunter nur schwer (mit Sprache) greifbar ist. Wer „gebrochen“ spricht, muss sich der Bedeutung und jedes einzelnen Wortes immer wieder rückversichern, stetig, ständig. Die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Worten fehlt, aber auch: mit der Identität. Gebrochen spricht, wer idiomatisch Fremder oder Ausländer ist – in dem, was andere Heimat nennen, ist hier einer nur gebrochen zu Hause. Und auch das hat vor allem mit der einen Hälfte Deutschlands zu tun.
Leising wehrt sich: Distanziert und ironisch beschreibt er die Gattung und ihre spezielle Artenausprägung der DDR in dem Gedicht „Homo sapiens“:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Er will auch sein Rettich und Eisbein
[…]
Er braucht fürs Leben ein Ideal
Etwa drei- bis viermal.
Zu einem richtigen Arbeiterstaat
Gehört ein richtiger Kartoffelsalat.
Vom niedrigen Materialismus weg!
Man würzt seinen Senf mit Speck.
Und wenn auch die Redensarten sich betont fröhlich ihrem mitunter holprigen Reim überlassen, ist die Kritik dahinter nicht zu überhören. So auch im Gedicht „Bankett“:
Da stehn Die da und stehen da Die saufen
den Sekt des volkes Diese
Fressen
aus der hand ihm
den Caviar
Durch Großschreibung am Versanfang erhält das Gedicht seine Doppelbödigkeit – denn so kann Fressen auch zur Beschimpfung werden, die in Wut umschlägt: „aus der Hand ihm den Caviar“ wäre dann Imperativ und Aufforderung zur Revolte – als groteske Überbietung der Büchner’schen Formulierung, dass der Hunger das einzig revolutionäre Element in der Geschichte sei.
Dennoch bleibt es in den Gedichten existentiell, auch oder gerade wenn sich dieses Leben in ein scheinbar heiteres Gewand hüllt. So formuliert Leising in dem Gedicht „Esse“:
Kletter ich den heißen Schornstein hoch
Stieg um Stiege eisern an den Ziegeln
Klimm ich auf zum Tode mich zu werfen
In Fabrikhof runter und zerstieben
Krieg zu tun hier oben mit der Angst ich
Ruf um Hilfe wimmernd mit Sirenen
Kommt die Feuerwehr auf schräger Leiter
Steig ich rückwärts wieder ab ins Leben.
Hier wird das Pathos der wild entschlossenen Geste und des hohen Tons – „auf zum Tode“ – ironisch gebrochen mit dem umgangssprachlich vorgestellten und quasi apostrophierten Ergebnis: „In Fabrikhof runter“ und dem Wimmerton der Angst, der im Hilferuf kulminiert und den augenblicklich die Sirenen ablösen. Doch ins Leben zurück kehrt das lyrische Ich „auf schräger Leiter“ (=der umgekehrten Himmelsleiter) und rückwärts – die Blickrichtung bleibt dem Himmel zugewandt. Die Bewegung wird damit ambivalent – fast ein Vertigo-Effekt in Zeitlupe, der nur durch den Pragmatismus des lyrischen Ichs verhindert wird, der ihn zudem vom berühmten Benjamin’schen „Engel der Geschichte“ trennt.
Dennoch, und das ist auffällig, obwohl Leising das Jahr 1989 als „Befreiung“ erlebt, wechseln die Gedichte nicht ihren Tonfall. „Wenn es eine Hoffnung gibt, kann sie so nicht mehr genannt werden“, formuliert er im Gespräch mit Jürgen Serke. In dem Nachlassband Die Rotzfahne, dessen größerer Teil nach 1990 entstandene Gedichte versammelt, wird Bilanz gezogen, doch Bilanz bedeutet in dem Fall keine Zäsur. Die beiden Gedichtbände, die sich wie zwei „eineiige Zwillinge“ im Erscheinungsbild ähneln, bilden auch inhaltlich zahlreiche Anschlüsse und Kongruenzen. So enthalten beide Bände Gedichte aus allen Schaffensjahrzehnten, frühe Gedichte werden in den 1990er Jahren fortgesetzt, Themen nur variiert, nicht abgeschlossen. Eines der ersten Gedichte trägt den Titel „Auch ich“:
Auch ich trug es stolzgeschwellt, das Hitlermesser
Ein ganzes Jahr und wenig mehr
Das mit der Blutrinne in der Klinge, ich trug es
Ehe ich es vergrub in die Erde bei Floßmühle
Als da die Russen kamen mit Liedern
Die ich mitgrölte, auch ich
So die erste Strophe der Selbstkritik, in der das lyrische Ich nicht zimperlich mit sich ist:
Ein guter Mitwerfer gut mitlaufend, Mitbesitzer
Der einzig wissenschaftl. Weltanschauung, auch ich
Später mein Schweigen, ich kleidete es
In edle Wendungen, ich trug, bau auf, bau auf
Meinen Stein herbei zur Mauer, auch ich
Mitpächter war ich eines Meters Todesstreifen
Bin ich wahr, wenn ich in der Vergangenheit rede?
Von vielem bin ich frei, in nichts von Schuld
Und es ist wohl nichts als Glück,
dass ich keinen verriet.
Mitläufer, Mitwisser, Mitschweiger – hier bekennt sich einer zu (den Taten) seiner Vergangenheit – und, das ist das Ungewöhnliche daran, er erkennt sie nicht als vergangen, sondern thematisiert ihre anhaltende Gültigkeit in der Gegenwart – in einem ähnlichen Sinn wie etwa Franz Fühmann in seinem Ungarntagebuch Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens diese Erkenntnis für sich formulierte. Die Fahne, an die nun gedacht wird, ist nicht länger politisch aufgeladen, sondern es ist jene, die dem zweiten Gedichtband Leisings ihren Titel gibt: Die Rotzfahne:
Die mit dem Schweiß, die mit den Tränen.
Die mit den roten Flecken
Vom Ketchup der Currywurst […] Zum Weinen die
Zum Schluchzen unentbehrlich
Pressen in den Händen
Genau diese Taschentuchfahne wird in einem anderen Gedicht „auf halbmast“ gesetzt, als Trauer- und Kapitulationszeichen in einem; „Halbmast“ – damit reimt das letzte Wort den Titel des Gedichtes: Leben als Altlast. Hier nimmt das Leben seinen Weg: „Aus dem Mief in die Kälte / Das hält kein Schwein aus“ und führt geradewegs in „die Zukunft ohne mich“: „Bald lache ich wieder, nichts lacht / Blanker und ausgiebiger als ein Schädel“.
Die Rechnung von „Soll und Haben“ (so der Titel eines anderen Gedichtes von 1990) kann daran nichts ändern, es ist ein Schreiben vor allem auf den Tod zu, selbst wenn sich die Tage die Waage halten:
Es ist mir wieder ein Tag Leben gegeben worden
Und wieder ist mir ein Tag Leben genommen worden.
Mein Leben ist um diesen vergangenen Tag länger gewesen
Und mein Leben ist kürzer geworden mit dem vergangenen Tag
[…]
Wird mein Leben verlängert nur dass es kürzer werde?
Soll ich sagen Amen?
Das Fragezeichen birgt einen letzten Rest Rebellion, Einspruch gegen die scheinbare Nivellierung, doch behalten nicht alle Texte diese Geste bei. In anderen Gedichten ist das lyrische Ich weniger stark, wie etwa in dem Gedicht „Rückfall“, das die eigene Alkoholabhängigkeit thematisiert:
Meine Augen sehen mich nicht mehr
Verglast von dem Schnaps
Dem zuschlagenden, übelriechenden
Dem teuren
So hilft vielleicht nur der „Psalm Tausendneunhundertvierunddreißig für Richard Leising“ (= sein Geburtsjahr), in dem das eigene Ende imaginiert wird als
ein Tod, der ein schmutziger Tod sein wird, ein schmählicher, ein schäbiger. Und wird werfen einen schmutzigen, schmählichen, schäbigen Schatten auf das Gute, das du vielleicht gemacht, höre, und gesagt wird werden, es kann nicht gut gewesen sein, es ist nicht gut und es wird nicht gut bleiben angesichts solchen Endes.
Das Bild solch drastischen Endes malt sich der Autor selbst – im Sinne einer Widmung und didaktischen Ansprache, die Ermahnung im ersten Vers „Wenn du nicht Einhalt tust“ dabei auch ja nicht zu überhören; und eine letzte Selbstermutigung bleibt das kleine Wort „höre“ im zitierten Vers 6.
Ein Dreivierteljahr später ist Leising gestorben. Das lyrische Minimum war nicht länger zu verteidigen, Leisings „Kunst der Schutzlosigkeit“ hat ihn an die eigenen Grenzen geführt. Bleiben also die Gedichte eines Autors als (ihre eigenen) Verlustanzeigen zurück, Gedichte, die zeitlebens „Schmuggelware waren für diejenigen, die zu lesen wußten“ – sie bleiben haltbar.
Und wird kein Traum sein
In dem du nicht da bist
Aber da ist kein Traum
Kristin Schulz, aus: Stephan Krause/Friederike Partzsch (Hrsg.): „Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen“. Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90, Frank & Timme, 2012
– Statt eines längeren Loblieds auf Leising. –
Wenn die akademische Krücke vom „lyrischen Ich“ unbrauchbar wird, weil die Person hinter einem Gedicht sich so nicht auf Distanz halten läßt, ist das ein sicheres Zeichen dafür, daß das Gedicht die Person überdauern wird. Wenn sich nach dem ersten Lesen eines Gedichts noch vor dem Verständnis des Ganzen die Erinnerung an zwei einzelne Verse einstellt, ist das ein sicheres Zeichen dafür, daß man begonnen hat, mit dem Gedicht zu leben. Für beide Vorgänge gibt es ein Wort, das mit den Anfängen aller Dichtung verbunden ist: Zauberei.
Wie aller Zauber von Menschenhand ist auch dieser ein Handwerk, Magie aus nichts als Worten. So ein Gedicht kann schwer und leicht zugleich sein, dunkel und hell auf einmal, jedenfalls wenn es eines von Richard Leising ist.
Leising hat es zu Lebzeiten auf fast zwei Gedichtbände gebracht. 1975 erschien ein Poesiealbum von ihm, 1990 der Band Gebrochen deutsch. Im Mai 1997 ist er gestorben. Zuvor hat er für ein weiteres Buch Verfügungen getroffen: den Titel festgelegt, ein eventuell benötigtes Photo ausgewählt, die Einbandfarbe bestimmt. Mit den Texten ist er nicht fertig geworden.
Das Buch ist dennoch da, von Kristof Wachinger wunschgemäß herausgegeben und ausgestattet. Es heißt Die Rotzfahne, enthält 41 Texte, kein Photo, und ist in dunkelblaues Leinen gebunden.
Es beginnt mit einem Platzhalter für die ungeschrieben gebliebene Titelerzählung, Bruchstücke unter dem Titel „Die Fahne“:
Soll es diese sein?
Nein.
Also lieber diese da?
Ja.
Das sind die ersten vier Verse des Bandes, denkbar belanglos, keinesfalls beliebig. Es ist nicht nur, daß da einer weiß, was er will – das zu sagen, braucht es zwei Worte; der andere weiß auch etwas über ihn, sonst wüßte er keine solche zweite Frage. Wer etwas über gestisches Sprechen, über den Nutzen von Rhythmus für die Darstellung von Gewißheit lernen will, findet hier alles Notwendige versammelt. (Ohne dieses Wissen läßt sich nicht zaubern.) Gewißheiten, auch fehlende, und der Umgang mit ihnen, das ist eins von Leisings bestimmenden Themen. Wie alle seine Gegenstände behandelt er es wiederholt und mit Konsequenz. Von der Gewißheit, davongekommen zu sein, handelt „Auch ich“:
Und es ist wohl nichts als Glück,
Dass ich keinen verriet.
Von der Gewißheit, anderen verpflichtet zu sein, spricht „Gefrierpunkt“:
Das Leben hat keinen Sinn. Oder meinen Sie, dass das Leben einen Sinn hat?
Ich habe keine Ahnung, aber ich sagte: ja.
Von der Gewißheit, nichts zu wissen, „Soll und Haben“, aber das muß jeder selber lesen.
Die Texte berichten ausnahmslos vom Alltag, selbst da, wo auf den ersten Blick von Kunst die Rede ist. Drei Sätze Prosa über ein Gemälde von 1910, „Schiffszieher an der Wolga“:
Ihre Körper verlaufen nahezu waagerecht, nahezu eben zur Erde, der sie gleichen; wenn sie fallen, werden sie selbst ihre Grabhügel sein. Aber sie können nicht fallen, dafür ist der Gurt da und der Gegenstrom des Flusses, den sie pflügen. Was sie allein noch zu stürzen hindert, das ist, dass sie ziehen.
Unter den vielen Möglichkeiten, sich den Texten zu nähern, scheint mir die aufmerksame Betrachtung des Gebrauchs von „aber“ und „und“ eine der vielversprechenden. Selbst in einem unverdächtig mit dem Ortsnamen „Seeburg“ überschriebenen Gedicht nutzt Leising die Sprengkraft dieser unauffälligen Konjunktionen:
Wenn ich sterbe, sagtest du, will sein
Ein Wind und weg damit
Nichts sollte bleiben
Aber es muss noch das Dach gedeckt werden.
Aber das macht die Worte nicht unwahr.
…
Das ist nun der Lehm, dachte ich
Aus dem du bist, der du wirst
Und es ging mich nichts an
Aus solch detailgenauer Arbeit zu schließen, Leising sei Minimalist, wäre falsch. Er ist präzise in der Beobachtung und unnachgiebig in der Formulierung. – Es ließe sich eine lange Liste von Warnungen zusammenstellen, allesamt von Dichtern ausgesprochen und aufgeschrieben, die die Zeile: „Fürchte Adjektive!“ variieren. Leisings Umgang mit Adjektiven ist ein Lehrstück. Keins überflüssig, keins plakativ, keins gekünstelt. Es kann sich um Allerweltsworte handeln, sie sind so zwingend, daß ihr Gebrauch die Beschreibung eindeutig macht und selbst die Wiederholung dem keinen Abbruch tut. In „Wanderungen“ ist zweimal von „Gießkannen, kleinen Harken, runden Rücken, Eimerchen“ die Rede, und wer daran die alten Weiber auf ihrem täglichen Weg nicht erkennt, muß sehr weit weg vom Friedhof wohnen.
Leising neigt zu lebensnahen Paradoxa, vermutlich die einzige Form der Sinngewinnung bei aufrichtiger Betrachtung der Dinge. Seine Sprache ist schlicht, nicht einfach. Die Versfolge oder der Textaufbau sind oft, der Lage angemessen, kompliziert. In jedem Fall sicher im Klang. Man kann hören, was gesagt wird, auch beim stillen Lesen, auch bei der Prosa. Leising meidet jede Übertreibung. Wo sich der gegenwärtige Wahnsinn in zwei Versen fassen läßt, braucht er keinen dritten. „Vereinte Nationen“:
Der englische Soldat bleich mit der niedlichen Gartenkralle
Furchtsam schabend exhumiert er den Tod von Srebrenica.
Schon die Auswahl der Nachdichtungen und die Vorbilder der dichterischen Annäherungen machen deutlich, daß Leising vom Leben und der Kunst etwas wußte. Wenn aus den wenigen Gedichten etwas leicht herauszulesen ist, dann das. Damit ist nicht gesagt, daß die Begabungen auf beiden Gebieten gleich groß waren. Wahrscheinlich deshalb konnte er das Leben retten ins Gedicht.
Die Legende will, daß Leising ein Gedicht pro Jahr schrieb. Sei dem, wie es wolle: Er wußte, was er tat. Leising über Leising, an die geliebte Freundin:
Macht am Ende gar Gedichte
Gauklerflügel, Bleigewichte
Oder umgekehrte Lieder
Wackersteine, Lichtgefieder.
Buchdruck und Moderne haben die Zahl der Zauberlehrlinge und Taschenspieler in die Höhe getrieben. Die Zahl der Magier blieb konstant. Richard Leising war einer von ihnen.
Wer sich vorgenommen hat, in diesem Jahr ein Buch mit Gedichten zu lesen: dieses.
Holger Helbig, neue deutsche literatur, Heft 524, März/April 1999
– Erinnerung an Richard Leising. –
All the literati keep
An imaginary friend
W.H. Auden
Richard Leising wurde 1934 geboren und ist 1997 gestorben. Zu Lebzeiten hat er es auf anderthalb Gedichtbücher gebracht, zu dem Band Gebrochen deutsch und dem Poesiealbum mit der Nummer 97. Posthum liegt inzwischen ein zweites Bändchen vor, Die Rotzfahne. Obwohl es auch die Texte aus dem Poesiealbum enthält, ist damit erst einmal die Geltung der Behauptung, es gäbe mehr Gedichte über als von Leising, ausgesetzt. Vermutlich nur vorübergehend, jüngst haben Heinz Czechowski und Richard Pietraß wieder zwei Gedichte geschrieben, in denen Leisings Name fällt. Das Phänomen ist einzigartig in der deutschen Nachkriegsliteratur, hier soll zumindest ein erster Eindruck davon gegeben werden.
Leisings Gedichte waren ein Maßstab, er gab eine Orientierung vor. Sie betraf nicht nur die handwerklichen Fertigkeiten, sie betraf vor allem auch seinen Umgang mit Lesen, Schreiben und Leben. In Mickels Charakteristik von 1975 ist dies schon ausgesprochen: „Leising wünscht nicht, als Dichter zu gelten, er ist ein Mann, der auch Verse macht. Er hat wenige Gedichte geschrieben, noch weniger veröffentlicht, und jedes ist ein Meisterstück.“ Dem Zusammenhang zwischen Werk und Person gelten – auf die eine oder andere Weise – alle Gedichte über Leising. Letztlich ist, unvermeidlich, jeder Text über Leising ein poetologischer.
Diese Behauptung wäre zu präzisieren. Erst einmal aber geht es nicht um einen Mann, der Gedichte schrieb, sondern um die Vorstellungen, die sich andere von diesem Mann gemacht haben – und zwar in Gedichten. Betrachtet werden lnge Müllers „Leising“, Karl Mickels „Bier. Für Leising“ und Harald Gerlachs „Für Leising“.
Bei Inge Müller fungiert der Eigenname als Titel. Die Leser erfahren als erstes, daß das Thema des Gedichts eine bestimmte Person ist. In diesem Fall impliziert das die Annahme, die Verfasserin sei mit der Person näher bekannt gewesen. Eine solche Vermutung ist keineswegs zwingend: Ein Eigenname als Titel, z.B. „Harry Heine“ (wie eines der Gedichte Leisings heißt), kann ebensogut anzeigen, daß man sich mit einer Person vertraut gemacht hat, indem man sich mit ihrem Werk beschäftigte. Das eine schließt das andere nicht aus, auf Inge Müllers Gedicht trifft beides zu.
Bei Karl Mickel steht der Eigenname in der Widmung. Alles weist darauf hin, daß Verfasser und Adressat der Widmung einander gut bekannt waren. Das ist der häufigste Fall in der Typologie der zeitgenössischen Dedikationen, nicht der einzige. Das Verhältnis von Titel und Widmung zeigt zudem, daß die Person Leising hier nur bedingt Thema des Gedichts ist. Es geht erst einmal um Bier. Für alle, die genau lesen, geht es auch um Bier für Leising. Aber das ist, im Vergleich zu Inge Müllers Text, schon eine Variation. Mickel läßt ein Gedicht drucken, das zuallererst für einen einzigen Leser bestimmt ist, für Leising. Für die anderen Leser ergibt sich aus dieser Feststellung eine Frage, die ebenso kurz wie kompliziert ist: Was, glaubte Mickel, würde Leising lesen?
Im Gedicht von Harald Gerlach ist die Widmung zum Titel geworden. Das treibt den Vorgang auf die Spitze. Das Thema des Gedichts ist damit von vornherein festgelegt: eine für Leising bestimmte Mitteilung. Was immer es sonst noch ist, ist so unwichtig, daß es nicht mitgenannt wird. Aus der Namensnennung im Titel resultiert auch, daß der Angesprochene identifiziert werden kann. Das ist auch bei Inge Müllers Gedicht der Fall, was kaum überrascht. Denn mit diesen Überlegungen sind nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten beschrieben.
Gemeinsam ist allen drei Gedichten die Verwendung eines Eigennamens als Signal, das die Rezeption wesentlich lenkt. Ein Titel dient nicht nur dazu, das Thema eines Textes zu nennen, sondern auch, den Leser anzulocken. Bier, so ist zu vermuten, zieht erst einmal mehr Leser an als Leising. Theoretisch unterscheidbar, aber praktisch immer zusammenfallend sind die verschiedenen Intentionen und Interessen, die mit der textnahen Verwendung von Personennamen zusammenhängen. Der Text steigert das Interesse an der Person, ebenso wie deren Erwähnung das Interesse am Text fördern kann.
Zueignungen sind immer an mindestens zwei Adressaten gerichtet, den Träger des Eigennamens und den Leser. Auf diese Weise wird das Private öffentlich. Der Autor sagt dem Leser, daß er dieses Werk einer Person zueigne und dieser Person, daß er dem Leser sage, daß er tut was er tut. Es ist dann der Text selbst, der die so zur Schau gestellte Beziehung kommentiert, ihren Gehalt verdeutlicht oder auch nicht. Gérard Genette hat diese Zusammenhänge als eine „moralische, intellektuelle oder ästhetische Bürgschaft“ beschrieben. Dem Adressaten wird eine gewisse Mitverantwortung zugeschrieben, Bürge hieß im Lateinischen auctor. Widmungen, die Kollegen oder handwerklichen Lehrmeistern gelten, dokumentieren einen Anspruch: Man habe ausgelernt und könne sich messen lassen. Wer den Namen Leising verwendet, fordert den Vergleich mit seinen Werken heraus. In diesem Sinne hat die Widmung auch die Funktion eines Vorworts. Es handelt von der Tradition, in der man schreibt. Es zeigt an, woher man kommt und wo man stehen möchte im weiten Feld der Lyrik. Eine Dedikation ist demzufolge zugleich der erste, extrem komprimierte Kommentar zum folgenden Werk.
Inge Müller
LEISING
Du kannst dich selber nicht tragen
Du hast alles satt
Trägst dein Kindergesicht wie ein König
Der alle Reiche verloren hat.
Kratzt
Schreibst mit Kinderschrift
Kreide auf Stein
Höhlenzeichen am Mauerrand ein.
Fällt ein Pferd um trägst du den Wagen.
Das Gedicht von Inge Müller verschweigt einen Wunsch: Daß jemand käme und Leising trüge. Einerseits sollte das nicht schwer sein, kinderleicht sozusagen, andererseits: Wenn er es selbst nicht kann – wer dann?
„Du kannst dich selber nicht tragen“ heißt es im ersten Vers, „Fällt ein Pferd um trägst du den Wagen“, lautet der letzte. Das Paradox ist erst einmal sprachlicher Art. Es betont das Erstaunliche an Leising, das sich beim ersten Lesen ausnimmt wie überraschend praktisches Zupacken.
Wenn einer sich selbst nicht tragen kann, dann meint das mehr als nur sich selbst nicht leiden können. Die ersten vier Verse beschreiben eine Verlorenheit und geben eine Ahnung von der Hoffnung, die enttäuscht wurde. Alles satt haben heißt ja, es zuvor versucht zu haben. Wer im Gesamt des Gedichts eine Ausarbeitung zweier Verse von Shakespeare erkennt, der ahnt, wie umfassend der Versuch war: „Ich kann den Karrn nicht ziehn noch Hafer essen / Ist’s menschenmöglich, will ich’s tun“. Es gibt, nicht nur angesichts des Schlußverses, gute Gründe anzunehmen, es habe Momente gegeben, in denen das Menschenmögliche geglückt sei, und die Kraft zum Wagentragen komme aus der Erinnerung an sie. Sodann ist da Trotz, hartnäckiger eigensinniger Widerstand. Angesprochen wird eine Selbstsicherheit, deren Ausmaß nur in Ausnahmefällen zum Vorschein kommt: wenn ein Pferd umfällt. An den anderen Tagen erscheint sie kindlich. Kindlich zu sein ist das wesentliche Attribut, das Leising zugeschrieben wird. Welch hoher Wert das ist, macht der dritte Vers deutlich: „Trägst dein Kindergesicht wie ein König“.
Die Verse drei und vier erinnern an die Zeit vor dem Verlust. Geblieben ist Traurigkeit. Immerhin hat Leising sich sein Kindergesicht erhalten. Auch seine Schrift bewahrt etwas von dem Verlorengegangenen auf, im doppelten Sinne. Kinderschrift ist eine Aussage über die Form dessen, was da aufgeschrieben wird. Das festzuhalten erscheint dringender, als an dieser Stelle mit Bloch zu hantieren. Jede philosophische Weiterung nimmt dem Text etwas von seiner Naivität. Zudem sind alle denkbaren Zusätze über verlorene Paradiese und vergebliche Rückwege durch die Mitte des Gedichts überflüssig gemacht, weil dort schon enthalten.
Kratzt – ein einziges Wort, in dem Anstrengung und Vergeblichkeit zusammenfallen. Der nächste Vers engt die Vielzahl der Bedeutungen auf das Schreiben ein. Spätestens an dieser Stelle verwandelt sich das Gedicht über Leising in ein Gedicht über Leisings Schreiben: Für alle; die nicht wußten, daß Leising schreibt; für die anderen ist dies ohnehin unvermeidlich. Die Kinderschrift entspricht dem Kindergesicht, es liegt nahe zu vermuten: so wie die Texte der Person entsprechen.
Kreide auf Stein – der Vers ist nicht nur durch den vorigen, sondern auch assoziativ an die Spiele der Kinder gebunden. So entstehen Bilder, die der nächste Regen abwäscht. Im Sprachmaterial steckt allerdings noch eine zweite, fernere Bedeutung, die jetzt aufgerufen wird: Höhlenzeichen. Auch hier liegt es immer noch am Zufall der Überlieferung, ob das Lesenswerte überdauert und gefunden wird, doch ist den Zeichen Haltbarkeit zugesprochen. Naiv und primitiv wirken die Höhlenbilder, aus der Perspektive der Stammesgeschichte sind sie kindlich. Dennoch ist ihr Kunstcharakter unumstritten, ebenso wie ihre Zugehörigkeit zum Leben, zum Alltag. Da muß nicht eigens der Umweg über den Jagdzauber genommen werden, es genügt der Hinweis auf den Mauerrand.
Mit dem letzten Vers wird der erste wieder aufgerufen, nicht nur durch das Sprachbild, auch durch den Reim. Spätestens beim zweiten Lesen sind die Leser des Gedichts informiert, daß Leising schreibt, kratzt. Es hat also nichts mit Psychologie, sondern vielmehr mit dem Aufbau des Texts zu tun, wenn das Ergebnis der zweiten Lektüre lautet: Weil er sich selber nicht tragen kann, schreibt er; was er schreibt, verwandelt ihn: Nun kann er den Wagen tragen. Das Vehikel der Verwandlung ist das Gedicht, Leising trägt den Wagen mit seinen Gedichten.
In Mickels Gedicht erscheint das Kratzen anders gedeutet. Von der Mühsal, mit für den Zweck so unangemessenen Materialien zu arbeiten, mit Kreide auf Stein zu schreiben, mit Gedichten Pferde ersetzen zu wollen, ist – zumindest auf den ersten Blick – nicht die Rede. Stattdessen wird von Faulheit gesprochen.
Karl Mickel
BIER
Für Leising
Maulfaul, scheibfaul bist du, Richard, gern
Stemm ich aufn Tisch zwei Ellenbogen
Und denke, es sind viere. Was steht zwischen
Uns? Bier. Helga! noch zwei große
Weiße Blumen auf dem gelben Stiel.
Was tue ich? sagst du, ich deute
An, sag ich. Die Wirklichweisen
Wenn die was sagen, sagen die: Naja
Ich kenne diese Frau, vom Hörensagen
Aber verbürgt: dreißig, neun Jahre am Fließband
Der zucken, wo sie geht und liegt, die Arme
Die läuft zum Psychiater, denn sie wünscht
Zu kündigen. Der Wunsch, klagte sie, sei krankhaft.
Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.
Er spricht und schreibt nicht viel, und er ist gern derart zurückhaltend. Leisings Name erscheint zerlegt, der Nachname zum Paratext gehörend, der Vorname Bestandteil des Gedichts. In dieser Konstellation drückt sich die private Vertrautheit aus, die zwischen Verfasser und Adressat herrscht, vorherrscht, hätte Mickel mit seiner Neigung zu verbaler Präzision wohl gesagt. Die Vertrautheit wird verstärkt und in der Schwebe gehalten durch das zuvor behauptete Thema des Gedichts: Bier. Verstärkt, weil, wenn man es richtig betreibt, zum Biertrinken Gespräche der gewichtigen Art gehören, das kann auch ein einverständig-bedeutungsvolles Schweigen sein, dann vermutlich unter Hinzuziehung hochprozentiger Getränke.
Solche Unternehmungen sind von fragwürdigen Feingeistern, die sich Vokabeln wie proletarisch und Stammtisch erst anlesen mußten, systematisch in Verruf gebracht worden. (Stammtisch heißt übrigens eins der Gedichte Leisings.) Der Kern der Sache tritt um so deutlicher hervor: Man macht sich gemein beim Bier. Dies also verstärkt die Vertrautheit mit dem angesprochenen Richard. Es ist jedoch nicht direkt von ihm die Rede, sondern eben vom Bier, das bestellt und betrachtet wird, von den wirklich Weisen und einer dreißigjährigen Frau, die fast ein Drittel ihres Lebens am Fließband zugebracht hat. Es endet wie es enden muß, mit etwas, das wie ein allgemeiner Satz über die Welt aussieht. Richard ist solchen Sätzen zugänglich, mit ihm läßt sich über dergleichen reden. Der Befund wird kunstvoll durch das indirekte Sprechen im Gedicht verborgen.
Man sollte sich von alledem nicht täuschen lassen. Schon der erste Vers macht klar, daß es sich um ein Gespräch unter Dichtern handelt, daß ihr Gesprächsthema das persönliche Verhältnis zum Sprechen und Schreiben ist.
Die Sonettform dient zuerst dazu, ästhetische Vorbehalte gegen Bier abzubauen. Sie macht das Thema kunstfähig und trägt mit der Reimlosigkeit zugleich der Alltäglichkeit des vorgeblichen Gegenstands Rechnung. Mickel greift hier auf die englische Variante zurück, sie erlaubt den effektvolleren Schluß. Am Ende geht es um Kunst und Alltag, um die Lyrik und das Leben.
Die Kunst geht von vornherein eine Verbindung mit dem Alltag ein, womit das vermeintliche Thema von Anfang an unterlaufen ist. Es geht gar nicht um das Getränk. Das besondere ist die Sorte Gespräch, die hier geführt wird, für die – aus der Sicht des jeweils einzelnen – die Mehrzahl der potentiellen Gesprächspartner nicht in Frage kommt. Es ist, zumindest zur Hälfte, ein Selbstgespräch, eine Selbstverständigung: „gern / Stemm ich aufn Tisch zwei Ellenbogen / Und denke, es sind viere“. Zwischen den beiden Gesprächspartnern steht nichts, es sei denn Bier, und Bier verbindet. (Um dies zu verstehen, muß man die Anspielung auf Leisings Homo Sapiens nicht bemerken: „Der Mensch braucht seine Freunde schier / Da schuf der Mensch Bier.“)
Man mag das für eine Geschmackssache halten, oder für Lebensart. Nicht Bier, sondern: die Kellnerin beim Vornamen zu rufen. Das hängt vermutlich davon ab, wo man zu Hause ist und welche Bilder einem etwas sagen. An der oft beschworenen Poesie des Alltags läßt sich dies leicht prüfen. Sie verwandelt Bier in Blumen, und zwar ganz sachgerecht. Ein Bierglas mit Stiel heißt Tulpe, die fachmännische Bezeichnung für den Schaum im Glas ist Blume. Noch genauer geht es nicht.
Im zweiten Quartett lassen sich einzelne Sätze noch ihren Sprechern zuordnen. Später im Gedicht reicht die Gemeinsamkeit so weit, daß das nicht mehr eindeutig möglich ist. Das besondere Miteinander der Sprecher und Aussagen wird durch das Enjambement der beiden mittleren Verse des Quartetts augenfällig. „Was tue ich? sagst du, ich deute“ ist, als einzelner Vers gelesen, die Aussage Richards. Er deutet mittels seiner Gedichte. Sobald weitergelesen wird, verwandeln sich die letzten beiden Worte in die Eröffnung der Entgegnung Mickels: „Ich deute / an, sag ich.“
Es ist für das Folgende nicht erheblich, wer es ausgesprochen hat, entscheidend ist die Übereinstimmung in der Haltung dazu. Sie ist, erst einmal, vage, und eine gewisse Vagheit kann durchaus Ausdruck von Weisheit sein. Da verschiebt man ein Urteil auf später und betrachtet den Fall noch einmal genauer. „Naja“: die Entgegnung ist abwägend, sie stimmt zu (wie der zweite Wortbestandteil zeigt), aber sie wendet zugleich etwas ein. Vermutlich weil das Phänomen hierzulande nicht recht verbreitet ist, mangelt es an einem treffenden Wort dafür. Ähnlich selten ist der im dritten Quartett berichtete Fall.
Nach neun Jahren am Fließband ist die Frau mit dreißig ein Wrack, nur zu verständlich, daß sie zum Psychiater läuft. Das Apokoinou, nicht das erste im Gedicht, bewahrt die landläufige Meinung:
die Arme
Die läuft zum Psychiater
Sollte die Frau so außergewöhnlich sein, daß man zuvor eigens darauf hinweisen muß, man wisse von ihr nur durch Hörensagen, die Nachricht sei jedoch verbürgt? Bis zum Ende des Satzes, der bis in das Couplet reicht, sicherlich nicht. Sie wünscht zu kündigen, auch das ist nur zu verständlich. Doch geht sie nicht deshalb zum Psychiater:
Der Wunsch, klagt sie, sei krankhaft.
Wer wollte, könnte sich an dieser Stelle auf längere Spekulationen einlassen. Leicht käme man da auf Unterschiede. Wer in welchem Land weshalb zum Psychiater ging und geht, was das denn sei: krankhaft, und ob die junge Frau etwa wünsche, weiterhin am Fließband zu stehen? Sei das nicht vielmehr krankhaft, verblendet von umlaufenden Ideologien? – Das Gedicht hat aber noch einen letzten Vers.
Zwei Dichter sitzen am Kneipentisch und reden. Zuerst übers Schreiben: Richard, der Schreibfaule, deutet. Karl, etwas fleißiger, deutet an. Dann reden sie übers Leben, was es zu sehen gibt in der Welt. Über das Bier herrscht Einigkeit, ein hochpoetischer Stoff, gut zu handhaben im Gedicht. Aber diese Frau. Was sich nach genauer Betrachtung dazu sagen läßt, ist zumindest: Naja. Es ist nicht so einfach. Da kommt vieles zusammen. Wir kennen die Geschichte nur vom Hörensagen. – Wenn man es richtig macht, kann man die Kompliziertheit des Falles im Geschmack des Bieres wiedererkennen. Das ist freilich eine These, die über akademische Zusammenhänge hinausgeht, aber sie ist durch den letzten Vers gedeckt: „Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.“
Im letzten Vers geht es um die Behandlung der Welt im Gedicht. Der Fall der jungen Frau ist widerspenstig, es ist jedoch der Stoff, aus dem Gedichte sind. Wenn sie denn deuten. Denn zu deuten gibt es hier vieles. Mickels Gedicht deutet nur an: Was an dieser Frau alles zu deuten wäre, zu hören, sehen, schmecken, fühlen. Sie ist, wie sie ist, aber was bedeutet das?
Mickel deutet die Forderungen an, die an ein Gedicht zu stellen sind, wenn es der Frau gerecht werden soll. Der Text muß so komplex sein, daß er ähnlich viele Deutungen zuläßt wie der vom Hörensagen bekannte Fall: da ist nichts zu erklären, sondern darzustellen.
Mickels Gedicht ist sowohl Hommage als auch Ermunterung. Es wird nicht nur eine für Leising wesentliche poetologische Problematik aufgegriffen, es werden vor allem auch lyrische Mittel eingesetzt, mit denen er ihr zu entsprechen suchte: Apokoinou und Enjambement gehören zum bevorzugten Instrumentarium Leisings. Mickel setzt sie hier gehäuft ein, um ausreichend auf den Schlußvers vorzubereiten.
Darüber hinaus hat das Gedicht auch etwas Tröstliches, das zuerst Leising, sodann aber ebenso Mickel und anderen Lyrikern gilt. Es teilt mit, daß Gedichtelesen nicht jedermanns Sache sei, das Schreiben von Gedichten deshalb aber noch nicht sinnlos. Es werden sich schon ein oder zwei finden, die mit den paradoxen Gebilden etwas anfangen können: Wer Ohren hat zu sehen, der wird schmecken.
Harald Gerlachs Gedicht ist das jüngste der drei. Als es gedruckt wurde, war Leising schon tot. Es führt die Paradoxa und Kippfiguren noch dichter an die Person heran.
Harald Gerlach
FÜR LEISING
Auf Flaschen gezogen das
Alleinsein, das in Gesellschaft
bedrohlich anschwillt. Anders
wirst du der Sache nicht Herr.
Nicht Knecht. Nicht Fisch noch
Weiberfleisch. Halt die Klappe,
stopf die Kehle mit dem gebrochenen
Hals. Schweigen ist immer zuviel
gesagt. Weißt du? Ich nicht. Nur
die Telephone. Denen ich
nicht gewachsen war. Die mir über
sind. Bis auf die Knochen.
Auch in diesem Fall handelt es sich um eine Mischung aus Selbstgespräch und Gedankenaustausch, allerdings unabhängig von einer konkreten Gesprächssituation. Der Verdacht liegt nahe, das liege an der Alltäglichkeit des Gesagten. Es ist ein Zustandsbericht, aus dem bei Mickel am Ende seines Gedichts vorgeführten Einverständnis heraus gesprochen. Nicht nur deshalb schließt der Text an, wo der vorige geendet hatte. Beim Geschmack des Alkohols.
Auf Flaschen zieht man Wein, seltener auch Bier, für andere Getränke wird die Wendung nicht eingesetzt. Was immer es ist, es schmeckt nach Einsamkeit. Daran kann man sich gewöhnen. Wer hier trinkt, trinkt nicht mehr in Gesellschaft. Und wenn doch, dann ist diese ein weiterer Grund dafür. Der formalen Logik und der deutschen Grammatik zufolge läßt sich allein nicht steigern, eine Regelung, die allen Befunden des Alltags widerspricht. Der inhaltliche Bezug der „Sache“ im vierten Vers ist zweideutig, wodurch betont wird, daß die Differenz unerheblich ist: ob allein allein oder einsam in Gesellschaft. Zumal wenn man mit sich selbst nicht im Reinen ist, unentschieden, nicht Fisch, nicht Fleisch. Das Bedrohliche ist, daß die Gesellschaft nicht näher bezeichnet wird. Es macht keinen Unterschied, wer da ist. Nicht Fisch noch Fleisch, nicht einmal Weiberfleisch. Die Ellipsen lassen sich sowohl allein als auch im Zusammenhang lesen.
Gerlach verläßt sich auf die Weisheit der Worte. Nicht ohne Grund haben sich bestimmte Wendungen verfestigt. Sie sagen, was zu sagen ist, treffend und effektiv. Dann gibt ein Wort das andere. So sollte das sein in Gedichten und auch wieder nicht. Es muß zu bemerken bleiben, woher das Verfestigte seinen Sinn bezieht und was die Gewöhnung an Bedeutung unterschlägt. Daher gibt es nur zwei Stellen, an denen Satz- und Versende zusammenfallen. Die zweite ist am Schluß des Gedichts.
Die erste findet sich nach dem vierten Vers. Der fünfte beginnt mit einem Einwand, der die Eindeutigkeit sofort wieder aufhebt. Zwischen nicht Herr sein und nicht Knecht sein liegt ein erheblicher Unterschied. Dennoch gestattet der Bruch nur eine kohärente Lesart: Dem Alleinsein nicht gewachsen, aber noch nicht unterlegen. Die Bedrohung ist schon da. Nicht Fisch, nicht Fleisch: Da steckt einer dazwischen. Das steht so nicht da, ist aber doch zu lesen. Der vertrackte Bau ergibt sich aus der vertrackten Situation. Laut Leising gibt es nichts dazu zu sagen. „Es gibt nichts zu reden / Über was ein Mann mit sich tut.“
Wenn die Rede in den Imperativ wechselt, ist nicht auszumachen, wer spricht: „Halt die Klappe“. Der Einwand ist zugleich gegen das sprechende Weiberfleisch und sich selbst (den Sprecher) gerichtet, es kann sich ebenso um eine Entgegnung des Angesprochenen handeln – die Gesprächssituation deutet sich hier erst an. Trotz des Einwands wird weitergesprochen. Wenn du die Klappe von allein nicht halten kannst, „dann stopf die Kehle mit dem gebrochenen / Hals“. Die Formulierung evoziert wohl zuerst den Flaschenhals, sodann gezieltes Sich-vollaufenlassen. In der Brutalität des Bildes kommt das Selbstzerstörerische des Vorgangs zum Ausdruck. Dieselben Worte teilen auch schon das Ergebnis der Zerstörung mit. Das ist, in doppelter Hinsicht, ein biographischer Hinweis auf Leising. Um das zu belegen, genügt ein weiteres Gedicht.
Karl Mickel
AN L.
Es hat aber
Dem Schweine, welches auch Menschen frißt
Freundschaft!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader gegen
Wärtige Weltzustand, ein
aaaaaaaaaaaaaaaaaund unbeleuchtet
aaaaaaaaaaaaaaaaaSchemenlaufen, welches
Ein Torkeltanz
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKrachend
Lachen die Harmlosfröhlichen auf ihrer Stange
Unsereiner ein Mal
Muß sich brechen den Hals
Zu diesem Text teilt Mickel folgende Anmerkung mit: „An L.: Richard Leising. Er hatte zwei Halswirbelknochen gebrochen; die letzten beiden Verse zitieren die Postkarte, welche er aus dem Liegegips an den Verf. gerichtet hat.“ Die Form des Gedichts ist streng funktional und ebenso streng mimetisch, sie tritt bisher nur einmal auf in der deutschen Literatur, und heißt Halswirbelfraktur. Das Zitat in den letzten beiden Versen weist durch seine rhythmische Gliederung Leising als überlebenden Lyriker aus.
Hatte sich also den Hals schon gebrochen, bricht ihn sich gerade ein zweites Mal, diesmal langsam. Dafür gründlich. Der Umweg über Mickels Gedicht soll nicht vergessen machen, daß es sich in Gerlachs Text auch um die Vorführung eines Selbstgesprächs handelt. Das ist insofern von Bedeutung, als sodann die Ursache für das Trinken benannt wird, das Schweigen. Es ist zuviel, und zwar immer. Wenn man das Schweigen hören muß und wenn man selbst schweigt, wenn man das Schweigen versteht, und wenn man selbst das Schweigen spricht. So fein sind die Unterschiede nicht, in dem einen Fall handelt es sich um die Nachricht: Niemand spricht mit mir, in dem anderen spreche ich mit niemandem. So dann, das wurde schon erwähnt, gibt es auch das beredte Schweigen. Für dieses gilt die Fortsetzung „gesagt“ in Vers neun: „Schweigen ist immer zuviel / gesagt“. Aus dieser Perspektive eine nachträgliche Vermutung: Es kann sein, daß gerade deshalb die Wirklichweisen zumindest „Naja“ sagen. Das Schweigen beinhaltet einen Überschuß an Bedeutung, der die Kommunikation so uneindeutig macht, daß sie – zumindest am Ende – mißlingen muß. Wie auch immer, es läuft auf ein und dasselbe hinaus. All diese verschiedenen Arten des Schweigens führen zum Alleinsein. Darüber wurde bereits gesprochen.
Erst an dieser Stelle wird der Gesprächscharakter des Textes explizit gemacht. Die versichernde Rhetorik des „Weißt du? Ich nicht.“ bestätigt nur, was ohnehin schon deutlich war, sie ist dennoch nicht überflüssig. Es ist nun nicht mehr nur eine naheliegende Annahme, sondern Gewißheit, daß auch das sprechende Ich betroffen ist, daß es weiß, wovon es spricht.
Von nun an spricht das Ich nur noch über sich, aber unter der Voraussetzung, was es sage, sei von Interesse für den Angesprochenen. Die Einbindung ins Gedicht zeigt den engen inhaltlichen Zusammenhang mit dem Vorangegangenen. Zugleich wird das Gedicht dadurch festgelegt auf den Versuch, das Schweigen zu brechen. Von den anderen erwähnten Versuchen, dies zu tun, unterscheidet sich dieser durch sein Bemühen um Genauigkeit. Nicht zu viel sagen zu wollen ist eine Bemühung um Genauigkeit.
Es bleibt ungenaues, allgemeines: die Telephone. Zuerst einmal sind auch sie ein Mittel, um das Schweigen zu überwinden. Trotzdem dürfte die naheliegendste Lesart wohl sein: Ich war den Telephonen nicht gewachsen, weil diejenigen, die sie benutzten, wußten, vielleicht sogar: weil sie die einzigen waren, die wußten. Die Telephone als Abhörgeräte, die Deutung hat, schon der gewohnheitsmäßigen Schuldzuweisung wegen, etwas Verführerisches. „Denen ich nicht gewachsen war“ ist der einzige Satz im Präteritum, das kennzeichnet den Rückblick und verleiht der Annahme zusätzliches Gewicht. Zwar läßt sich das mitlesen, so wie die Sicherheitsdienste mithören, – aber: Die Staatssicherheit rief selten an. Auch der Wechsel zurück in das Präsens spricht dafür, die Stasi bestenfalls für einen Teil der Anrufe verantwortlich zu machen. Sie sind auch denen zuzuschreiben, die wissen, die zumindest besser wissen. Die unangemessen das Schweigen brechen und es damit nur wieder provozieren. Telephonische Gesellschaft ist auch nicht besser als jene, die den Raum voll stellt mit ihren Körpern. „Über sein“ bedeutet sowohl sie sind überlegen als auch ich bin ihrer überdrüssig. Letzteres verweist bereits wieder auf das Alleinsein. Die Aussage wird durch den Schluß quantifiziert. Völlig oder ganz und gar sind entsprechende Synonyme der Wendung. Ganz leise und sehr versteckt wird mit der Entscheidung für ausgerechnet diese Formel eine Einschränkung geltend gemacht: „Bis auf die Knochen“ – die noch nicht. Die Reduktion des Subjekts reicht bis weit ins Körperliche, auch dies ist bei genauerer Betrachtung eine Quantifizierung.
Und dann ist das Gedicht zu Ende. Es läßt die Leser und den Angesprochenen mit der Mitteilung allein, weil mehr nicht zu sagen ist. Kein Effekt zum Schluß, wie bei den anderen beiden Texten. Dennoch herrscht keine Unklarheit über die Bedeutung des Gesagten. Der Telephone ist er nicht Herr geworden, ganz gleich, wie man das auflöst: Daher ist er allein. Da sagt einer dem anderen: Ich kenne das. Wenn man noch einen Schritt weiter gehen will, um die Reihe zu komplettieren, dann heißt das: Ich verstehe, warum du schweigst. Ich sehe, was dich abhält vom Schreiben. Der Effekt resultiert hier aus dem Material und seiner Verwendung. Ausgerechnet mit abgegriffenen Alltagsformeln soll so genau wie möglich gesprochen werden.
Der thematische Zusammenhang der drei Gedichte ist ebenso naheliegend wie auffällig. Leising schreibt wenig, die Ursachen dafür werden in der Person und in dem Material gesucht, das sie schreibend bearbeitet. Die von Inge Müller erwähnte Schwäche, sich nicht tragen zu können, könnte durchaus zu dem von Harald Gerlach beschriebenen Zustand geführt haben. Auffällig daran ist: Es wird offenbar von allen als Verlust empfunden, daß von Leising nicht mehr zu lesen ist. Man wünscht, er schriebe, man wünscht, er schriebe mehr.
Was die öffentliche Wahrnehmung betrifft, so resultierte dieser Wunsch lange Zeit aus der Kenntnis von weniger als 20 Gedichten. Gebrochen deutsch erschien 1990. Es ist wahrscheinlich, daß den Verfassern der Gedichte über Leising weitere Proben von dessen Texten auf die eine oder andere Weise bekannt waren, zumindest vom Hören oder Hörensagen. Das muß den Wunsch verstärkt haben. Anders sind die Gedichte nicht zu erklären.
Es gab ab Mitte der sechziger Jahre in der DDR so etwas wie ein Gespräch in Gedichten, an dem vor allem jene Lyriker beteiligt waren, die heute als Sächsische Dichterschule apostrophiert werden. Die Überschrift Die Freunde taucht des öfteren bei ihnen auf, ebenso wie die Namen der Betreffenden in ihren Texten. Dieser Diskurs, den man auch in der Prosa nachweisen kann, in de Bruyns Maskeraden, in Sarah Kirschs Allerleirauh und Christa Wolfs Sommerstück, hatte im wesentlichen zwei Funktionen. Zum einen wurde die gegenseitige Kenntnis gefördert, zum anderen wurden die Leser in Kenntnis gesetzt. Eine ganze Weile ersetzte die so literarisch erzeugte Öffentlichkeit die kritische Wahrnehmung. Dieser Zustand verursachte eine Annäherung von Schreibern und Lesern. Besonders unter den Lyrikern kam eine bemerkenswerte Schreibsituation zustande.
Für eine wenn auch kleine Weile wußte man sehr genau, für wen man schrieb und für wen die eigenen Texte wichtig sein würden. (Die erwähnten Bücher von Sarah Kirsch und Christa Wolf dokumentieren den Versuch, die Voraussetzungen dieses Zustands zu konservieren oder künstlich zu erzeugen.) Zu diesen „glücklichen“ Umständen gehörte ebenso, daß alle von dem Literaturinstitut in Leipzig und seinen Unternehmungen wußten, auch wenn sie es nicht selbst besucht hatten. Es herrschte die Vorstellung, daß man, um Gedichte zu schreiben, etwas über Gedichte wissen müsse. Es gab ein handwerkliches Selbstverständnis, man bemühte sich zu lernen. Bei Leising nun gab es jede Menge zu lernen. – Joseph Brodsky ist einmal so weit gegangen zu behaupten, man schriebe zuallererst für jene, von denen man gelernt hat, für jene, die einem selbst Sprache und Form zur Verfügung stellten. Die Widmungen und Ansprachen sind Indizien, die dieses Diktum verifizieren helfen.
Bei Leising gab es zuallererst Konsequenz zu lernen. Nichts unfertiges wurde publiziert. Das provozierte Urteile wie das Sarah Kirschs – jede Anthologie ohne Leisings Gesamtwerk sei unvollständig – oder etwa Mickels Satz „Richard Leisings Werk ist makellos“. Das Wenige ließ umso deutlicher die Eigenheiten erkennen. Das Destillieren der Konflikte, sei es aus der Kunst, sei es aus dem Alltag; der präzise und schonungslose Umgang mit dem Selbst. Das alles in alltagsnahen Vokabeln, die durch die verstechnische Gliederung aufgeladen werden, bis sie sich in Lyrik verwandelt haben: unmerklich. Weder wird der Alltag aufdringlich, noch die Kunst erdrückend. Leising kommt ohne Manierismus aus. Seine Texte sind erkennbar am ausgewogenen Extrem: eine Sammlung alltäglicher Paradoxa. Die Neigung zu dieser Figur wird überdeutlich an seinen Bearbeitungen, Hochzeiten nach Jewtuschenko oder Herbst in Karaganda nach Korshawim. Auch für die scheinbar konfliktlosen Texte, etwa Die Bleiche oder Hauch, gilt: Es wird ein Ton, eine Sprechweise ins Extrem geführt.
Die Wirkung Leisings läßt sich auch an den drei besprochenen Gedichten feststellen. In jedem Fall spielt das Paradox eine beträchtliche Rolle. Inge Müllers Text läßt sich als Konstruktion eines Paradoxes lesen, das zwischen erstem und letztem Vers aufgebaut wird. Mickel endet mit einem paradoxen Vers, der sich dennoch dem Sinn nicht sperrt. Gerlach versucht, ausgerechnet durch eine Häufung von Redensarten und festen Wendungen, Genauigkeit zu erreichen und Geschwätz zu vermeiden. Die Sprache ist in jedem Fall alltagsnah. Bei Mickel und Gerlach ist das Enjambement ein wesentliches Mittel der Sinnerzeugung, ein von Leising vertrauter Vorgang.
Damit soll nicht behauptet werden, Leising sei der große Lehrer oder der bestimmende Einfluß gewesen. Es ist ein Versuch, seine Wirkung zu erklären. An Leisings Gedichten klärten oder schärften sich die Vorstellungen etlicher anderer Lyriker. Seine Texte waren indirekte Beiträge zur Poetik all der anderen, weil diese in ihnen auf vorbildliche Weise verwirklicht sahen, was sie selbst zu tun beabsichtigten. Leisings Gedichte waren ein Maßstab, der den gemeinsamen Vorstellungen entsprach. – Zu alle dem kam hinzu: Leising war als Mensch gegenwärtig. Alle drei Gedichte berichten auch von der Person, in Verbindung mit den Gedichten und über sie hinaus. Leisings Wirkung war so beträchtlich, daß es selbst ein Gedicht über die Gedichte auf Richard Leising gibt.
Kurt Bartsch
SONETT AUF LEISING
Der von uns allen bewunderte Dichter Leising
Ist unter uns und wird von uns allen bewundert
Mickel hat ein Sonett geschrieben, bestehend aus
16 Zeilen, die voll des Lobes sind, Braun
Eine Hymne, Hölderlin auch eine Hymne
Wenn uns nicht alles täuscht geht es um Deutschland
Weshalb auch die Dichter H. M., A. E., E. E., G. K., S. K.
R. K., T., T. B., K. B. anwesend sind DIE GUTEN
FREUNDE DIE ICH HAB IN DIESEM HERZEN VOLL
FRÖHLICHER KÄLTE
UND DIESES LAND IN DEM ICH LEBEN WILL
ABER MUSS sagt der von uns allen bewunderte
Dichter Leising, der unter uns ist und von uns allen
Bewundert wird.
Mickels Sonett mit 16 Zeilen wurde schon vorgestellt, Bartsch zählt die Überschrift und die Widmung mit, weil sie wesentlich zum Verständnis des Textes beitragen. Die Gesprächsteilnehmer sind in einer dem Gedicht beigegebenen Anmerkung aufgelistet, auf die politischen Implikationen und die gesellschaftliche Bedeutung ihres Austausches ist deutlich hingewiesen, es geht um Deutschland.
Bartschs Sonett haftet eine gewisse Distanz an, er spöttelt über die Bewunderung, die Leising entgegengebracht wird. Dennoch ist er ausreichend ehrlich, um im gleichen Zuge einzugestehen: Auch er bewundert Leising und erkennt die Vorzüge seiner Dichtung an. Nicht nur macht auch er ein Gedicht auf ihn, nein, er übernimmt in dieses Gedicht zudem ein Leising-Zitat. Die in Kapitälchen gesetzten Zeilen stammen aus dessen Gedicht „Mein Frühjahr“ (1967).
Mit der Integration zeigt Bartsch an, daß er versteht, wovon bei Leising die Rede ist. Er erkennt an, daß es zudem noch gut gesagt ist, poetisch effektiv, daß auch er gern so sprechen möchte – sonst hätte er die Verse nicht übernommen –, und, vermittelt über all das, daß er sehr wohl weiß, was die anderen alle an Leising bewundern: diese Art des poetischen Sprechens. Leising zeigt in den vier Zeilen das Gespräch vor seinem Hintergrund, die Teilnehmer und den Ort, an dem es stattfindet, dieses bessere Land und seine Dichter.
Richard Leising
MEIN FRÜHJAHR (1967)
Der Krokus, die gelben Büsche, die
Veteranenstraße, da
Radelt ein junger Mensch
Sitzend! hinauf! Heine zuwinkend! ich kaufe ein
Altes hölzern Gewürzschränkchen und
Ich werde durchleuchtet, ja
Ich bin
Ein Tbc-freier Bestandteil der Hauptstadt Berlin, DDR
Da stoße ich an
Mit mir in der Kneipe Pilsator, Neuentdeckung mal
Merken für Detlev, Horst, Klaus, die guten
Freunde die ich hab in diesem Herzen voll
Fröhlicher Kälte
Und dieses Land in dem ich leben will
Aber muss
Und die mich lustig macht, jene
Diese da, ja
Die.
Der Text vertritt hier zwei Bände, die zusammen gerade einmal auf hundert Seiten Umfang kommen. Nichts ist naheliegender, als all jene Gedichte an und über Leising seinem Werk zuzuschlagen. Was er anderen zu sagen ermöglichte durch seine Anwesenheit als Gegenüber, Vorbild und Freund, ist von seinen Texten nicht zu trennen. Freundschaft meint hier kein romantisches, sondern ein ästhetisches Konstrukt. Leisings Gedichte sind ein Maßstab, sie geben eine Orientierung vor.
Holger Helbig, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 5, Oktober 2004
Seine Bude, sein Bett, seine Bücher: Dies ist die vorletzte Abgeschiedenheit des 1934 geborenen Dichters Richard Leising in der Kriemhildstraße in Berlin-Lichtenberg. Im Schlafzimmer schaut Franz Kafka von der Wand auf ihn herab. „Kafka war hoffnungslos wie alle Realisten“, sagt Leising. Im Arbeitszimmer ist bei ihm alles versammelt, womit die Sehnsucht sich der Hoffnungslosigkeit widersetzt. Ein Kalenderblatt von 1989 fällt ins Auge, auf dem Matthias Claudius intoniert:
Heute will ich fröhlich sein…
Und noch immer nicht ist es vollbracht, antwortet Matthias Grünewalds gekreuzigter Christus aus dem Weltenbruch des 16. Jahrhunderts – auf einem Foto.
Es leidet, o Herr, deine Erde
An Untergehenden
Keinerlei Mangel! Noch kannst du wenden
Von uns dein Angesicht!
Was taugen wir angekettet der Welt auf dem Grunde des Wassers?
Ziehe du ab von uns
Deine sausende Hand, peitsche
Deine christliche See über andere Meere
Und lass uns leben, leben, leben, O Herr
Auf der Galeere!
Die wirksame Gegenwart der Vergangenheit geht im Gedicht auf. Im Gedicht erreicht Richard Leising jene letzte Abgeschiedenheit, in der allein Erfahrenes Halt findet. Auf der Folie einer Überlebensgemeinschaft, von der er sich abhebt, um ihr verbunden zu bleiben. Sarah Kirsch, die die DDR 1977 verließ, erinnert sich an einen „Diogenes im zerfallenen Gehäuse“. Für Karl Mickel war Leising 1976 der „große deutsche proletarisch-revolutionäre Dichter der Gegenwart“ und 1992 ein „eschatologischer Autor“. Und da dies ein so altmodischer Begriff ist, fügt Mickel zur Erklärung bei:
Eschatologie heißt: die Lehre von der Endzeit und den Letzten Dingen.
Professor Siegfried Thiele, Direktor der Leipziger Musikhochschule Felix Mendelssohn Bartholdy, „dienstältester Freund“ aus Schulzeiten, wie Leising sagt, erinnert sich, wie ihnen beiden ein Bildband mit Kunstdruckblättern in die Hände fiel: Abbildungen von Matthias Grünewalds Isenheimer Altar im französischen Colmar. Es waren Anrufungen der seitenverkehrten Art. „Wir beide wollten nach Colmar, um den Altar im Original zu sehen“, sagt Siegfried Thiele.
Es blieb ein Gedanke. Er hat uns lange beschäftigt. Noch als Richard Theaterwissenschaften studierte, haben wir darüber korrespondiert.
„Die Bilder“, so erinnert sich Richard Leising heute, „haben uns sehr ergriffen. Damit kein falscher Eindruck aufkommt, der Marx hat uns auch fasziniert. Man ist in jenem Alter auf große Erlebnisse aus.“ Den Marx hat sich Leising dort bewahrt, wo er ein Dichter ist. „Die Ideologie geht mich nichts an“, sagt er. Und damit meint er auch die christliche Ideologie. Aber jener an einen halbgeschälten Balken genagelte Christus im äußersten Elend, wie er als Reproduktion auf seinem Schreibtisch steht. Als Mauer und Stacheldraht fielen, fuhr Leising nach Colmar. Er, der über seine Jahre in der DDR sagt:
Ich blieb und habe mich an Ort und Stelle entzogen.
Richard Leising blieb im Verborgenen, machte sich unsichtbar vor einem System, das auf Enteignung des Eigensinns aus war, und brachte so den verborgenen Text der Menschen zum Sprechen, der ihr Leben und unseres auch beherrscht. Doch der Zwang, nicht erkennbar zu sein, hatte ihn in der DDR bis in jene Katastrophe geführt, in der man sich selbst beim sich Nähertreten nicht mehr erkennbar ist:
Das Leben ist kein Leben, aber der Tod ist der Tod
Ich weiß keinen Weg, und den gehe ich.
Dreimal ist Leising inzwischen am Isenheimer Altar gewesen. Dreimal hat er an Ort und Stelle Mathis Gothardt Neithardt, wie er Grünewald beim richtigen Namen nennt, besucht. Und noch immer hat die Begegnung mit dem Gekreuzigten des Malers Mathis, der 1528 in Halle starb, nichts mit religiöser Erweckung zu tun. Eher mit dem Wiedererkennen einer Zeit, die wie unsere heute eine Zeitenwende ist. Ein Wiedererkennen, in dem die kommunistische Ideologie das letzte geschichtliche Erdbeben vor dem großen Umbruch gewesen ist, in dem wir alle stehen.
Matthias Grünewald am Ende des Mittelalters und am Vorabend der reformatorischen Krisenzeit, in der es galt, das Heilige zu bewahren. Mit diesem in sich selbst aufgerichteten Kreuz hat Leising in der DDR gelebt, mit ihm lebt er:
Das bin ich der Menschensohn
Und ich werde brennend sinken
Eine Flamme so erhellt
Meine Feuerhände winken
Euch ins Licht: Da seid ihr schon
Wenn diesen Richard Leising in der DDR einer erkannt hat in seiner Kunst der Schutzlosigkeit, in der sie wie er lebte, aber nicht überlebte, dann war es die Lyrikerin Inge Müller, die sich 41jährig 1966 das Leben nahm. Und wenn Richard Leising über Inge Müllers Weg hin zum Selbstmord spricht, dann ist es so, als spreche er zu sich selbst:
Man will sich seines Lebens kräftiger vergewissern, wenn man um den Tod weiß.
Inge Müllers schönstes Freundesgedicht trägt den Titel „LEISING“:
Du kannst dich selber nicht tragen
Du hast alles satt
Trägst dein Kindergesicht wie ein König
Der alle Reiche verloren hat.
Kratzt
Schreibst mit Kinderschrift Kreide auf Stein
Höhlenzeichen am Mauerrand ein.
Fällt ein Pferd um trägst du den Wagen.
In den Gedichten Richard Leisings kann Inge Müller weiteratmen. „Wir sind sie ja nie losgeworden, die Hoffnung“, sagt er.
Vielleicht sind diejenigen, die gingen, die Hoffnung am wenigsten losgeworden.
Aber Richard Leising ist auch nicht an der Seite seiner Weggefährten aus den sechziger Jahren geblieben, die sich letztlich in der DDR von einem Glauben nicht freizumachen verstanden, den sie längst verloren hatten: Karl Mickel, Heiner Müller, B.K. Tragelehn und wohl auch Adolf Endler. Richard Leising hat in der Ambivalenz gelebt: geblieben, um zu gehen, gegangen, um zu bleiben.
In der von Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer besorgten auswahl 66. Neue Lyrik – Neue Namen wurde der 32jährige Leising als Dichter erstmals sichtbar – neben Inge Müller. Ebenfalls 1966 nahmen ihn Adolf Endler und Karl Mickel in die von beiden herausgegebene und zum lyrischen Leitfaden gewordene Anthologie In diesem besseren Land. Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945 auf. Die auswahl 74 des Verlags Neues Leben brachte zwei Gedichte von ihm. 1975 erschienen im Lyrikperiodikum Poesiealbum unter Nummer 97 neunzehn Gedichte von Richard Leising. Das war alles bis 1989.
Es hatte für Bernd Jentzsch, den Herausgeber der Reihe bis 1976, erhebliche Mühe gekostet, Leising zur Veröffentlichung zu überreden und dann auch für den Druck durchzusetzen. Gedichte, die die Zensur passiert hatten und doch Schmuggelware waren für diejenigen, die zu lesen wußten. „Es hätte alles, was darin stand, für drei Jahre Bautzen gereicht“, sagt Sarah Kirsch.
Das Gedicht „Vom alten Weib“, 1962 geschrieben, war einem alten Mann zugedacht: Walter Ulbricht. „Das alte Weib“, so setzt das Gedicht ein, „redet wie ein altes Weib quäkend / Wenn das alte Weib wie ein altes Weib schrill / Auf uns einredet und das alles / Besser weiß…“
In der DDR hielt Richard Leising fortan alles unter Verschluß, was er schrieb. Erst Kristof Wachinger, dem ersten Westverleger Sarah Kirschs, den diese auf Leisings Spur setzte, gelang es, in seinem Verlag Langewiesche-Brandt in Ebenhausen bei München gewissermaßen das Gesamtwerk des Dichters zu veröffentlichen: 35 Gedichte für die Ewigkeit, makellos, ergreifend wie der Blick auf den Isenheimer Altar.
Diejenigen, die Richard Leising mögen, atmen auf, wenn er in seiner Berliner Wohnung ans Telefon geht und wenn er noch dazu heiter klingt. Das kommt vor. Doch da sind auch jene Depressionen, die ihn schon lange begleiten. „Dämmerungszustände“ nennt er sie, Folgen eines Verlassenseins, das immer wieder als unaufhebbar erscheint.
„Die Traurigkeiten kommen und gehen“, sagt er.
Aber sie kommen häufig. Nennen Sie es eine Grundtrauer.
Und:
Es macht mich krank, wie die Welt aussieht. Diese zunehmende Polarisierung im Elend.
Und:
Meine Situation ist in Ordnung. Die Rente reicht letztlich. Ich bin nicht sonderlich anspruchsvoll. Es gibt keinen Grund zu jammern.
„Die einen trinken viel, und es erwischt sie nicht“, sagt er.
Man sollte nicht irgend jemand verantwortlich machen, was man mit sich selbst veranstaltet.
An Tagen, wo er weit weg ist von jeder Niedergeschlagenheit, persifliert er sich locker:
Da kommt der Leising trunken
Wie ein entbahnter Planet
Noch ist er uns nicht hingesunken…
Richard Leising sagt:
Ich brauche einen Ort, an den ich mich zurückziehen kann, nicht zuletzt, um in Ruhe einen saufen zu können.
Richard Leising hat heute zwei Adressen. Nach der Wende, die der gebürtige Chemnitzer Zusammenbruch nennt, so wie sein Vater nie von Karl-Marx-Stadt gesprochen hat, sah er im Badischen die Tochter seiner früheren Mathematiklehrerin wieder. „Sagen wir“, sagt er im badischen Schliengen, wo Renate Moser als Ärztin praktiziert, „mein Besuch hat sich ausgedehnt. Das andere ist persönlich.“ Er empfiehlt mir Mauchener Sonnnenstück, Spätburgunder, Jahrgang 1990, und trinkt nicht mit.
Am Rande Schliengens wohnt er im Haus der Ärztin. Von seinem Arbeitszimmer im ersten Stock hat er einen wunderschönen Blick ins Tal. Neun Tabakpfeifen hat er um sich versammelt. „Zum Thema Tabakpfeifen“, sagt er, „kann ich ganze Exegesen abliefern.“ Von jener Exegese, wonach die Ruhe, die der Pfeifenraucher ausstrahlt, täuscht, spricht er nicht. Unter solcher Ruhe soll viel Panik sein. Der ältere Alfred Matusche war Pfeifenraucher, auch Georg Seidel war es, der jüngere Kurt Drawert ist es. Pfeiferauchen hier vielleicht auch eine Antwort auf eine permanente Situation des Ausnahmezustands?
„Wenn ich Pfeife rauche, will ich schweigen“, sagt Richard Leising. Also raucht er jetzt Zigaretten. Wir wandern den Hügel hinter dem Haus hinauf, und Richard Leising erzählt:
Ich liebe die alten echten deutschen Volkslieder, die es eigentlich nicht mehr gibt. „Innsbruck, ich muß dich lassen“ oder „Und in dem Schneegebirge“. Das mag sentimental sein. Das ist mir völlig wurscht. Ich liebe auch die tschechische Blasmusik. Sie ist einfallsreicher, schneller, lustiger als die deutsche, als ob die Tschechen keine Biertrinker wären.
Und er liebt auch Johann Peter Hebel, zu dem er mich führt:
Und wenn de ammer Chrützweg stosch und nümme weisch, wos ane goht. Halt still und frag di Gewisse zerst. S’cha Dütsch Gottlob! und folg sin Roth.
So steht es neben zwei Bänken zwischen drei Birken oben auf dem Hügel geschrieben. Irgendwo jenseits des Rheines, nicht weit weg, liegt Colmar. Der Isenheimer Altar, von einem Italiener bestellt, von einem Deutschen geschaffen, auf französischem Boden zu Hause. Im Herzen Europas.
Einen Originalstuhl Heinrich Vogelers unterm Hintern in seinem Berliner Arbeitszimmer, geht Richard Leisings Blick aus dem Fenster hin zu der hundert Meter entfernten Gedenkstätte der Sozialisten, die die SED am Eingang zum Friedhof Friedrichsfelde schuf. Mehr ein Blick ins Herz des DDR-Regimes, denn ein Blick ins Herz der Arbeiterbewegung, obwohl in dem Rondell, in dem Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht beerdigt sind, auch Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Rudolf Breitscheid symbolische Gräber bekamen.
Im Arbeitszimmer selbst fällt der Blick auf fünf alte Postkarten der Sozialdemokraten hinter Glas: Zusammenkünfte ihrer Führer, Grüße von der Maifeier. „Sozialdemokratische Träume der Jahrhundertwende“, sagt Richard Leising.
Ich könnte das Heulen kriegen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, man muß nicht weitergehen. 1789 ist bis heute unabgegolten. Das Auseinanderbrechen von Hoffnungen hat etwas Tödliches.
Richard Leising zeigt mir die Taschenuhr seines Vaters aus Gold-Doublé, dann ein Foto:
Das ist der Alte. Vater kannte die Wirklichkeit, ich die Ideologie. Er hatte die vernünftige Haltung des Proleten, daß es besser ist, jetzt zu leben. In all den Ideologien ist das Leben später. In ihrem Namen wird gemordet auf Teufel komm raus. Das hat der Alte gewußt. Man muß älter geworden sein als achtzehn Jahre – das war so die Zeit, wo wir stritten –, um die Entartung des Sozialismusbegriffs zu begreifen.
„Mein Vater kommt aus Westfalen“, erzählt Richard Leising.
Die Ehe ging nicht lange gut. Die Scheidung war 1940. Mein Vater hatte zwei Berufe. Er war Stubenmaler von der Ausbildung her. Als Familienvater war er Kraftfahrer. Da hat er mich oft mitgenommen, auch nach der Scheidung. Er war tätig für die Bayerische Butterverkaufsgenossenschaft, Sitz Chemnitz. Da mußte er das naheliegende Erzgebirge beliefern mit seinem buttergelben Opel Blitz.
„Meinen Großvater väterlicherseits“, so gerät Leising in Fluß, „habe ich kaum noch in Erinnerung, außer daß er einen wundervollen Bart trug und eine eigens für den Bart geschaffene Tasse hatte. Die war zur Hälfte oben abgedeckt. Er hat den wundervollen Bart über die Tasse gelegt und aus dieser Öffnung, die für den Mund übrigblieb, getrunken. Er war, wie ich aus Erzählungen meines Vaters weiß, ein wandernder Ziegler gewesen. Weil es im westfälischen Laage sehr viel Lehm gab, hat er sich dort niedergelassen, ist aber auch nicht in seinem angestammten Beruf geblieben, war zuletzt Holzarbeiter.“ Im Haus des Großvaters mütterlicherseits kam Richard Leising am 24. März 1934 in Chemnitz zur Welt: Richard Lätsch, Schmiedemeister, Hufbeschlag und Wagenbau. „Ich sollte der nächstfolgende Schmiedemeister werden“, erinnert sich der 1,65 Meter große, schmale Schriftsteller.
Als Großvater mich heranwachsen sah, begrub er die Hoffnung. Ich war einfach nicht kräftig genug. Es gehört ja eine Menge Kraft dazu.
Fünfzig Jahre in der Schmiede keine
Große Wunde je und jetzt der Unfall
Durch den kleinen Finger zischt die Säge
Und der alte Herr ruft seine Tochter
Nimm so spricht er nun die Schere schneide
Beiß die Zähne zammen! diese Sehne
Ab mit diesem Finger der da hanget
Meine Mutter tut es sieht nicht hin
„Das hab’ ich erlebt“, sagt Richard Leising.
Der brauchte keinen Arzt.
Richard Leising hat alles genau in Erinnerung:
Meine Schwester und ich – zuerst war der Vater ja auch noch da – wuchsen im Vorderhaus auf, einem Mietshaus, in dessen Hinterhof die Schmiede stand, einstöckig, mit einem Dampfhammer und weiteren höchst aufregenden Geräten. Wenn der Großvater die Gasflamme anbrannte, erschrak ich immer. Und dann die Säge und die Schleifmaschinen! Es war aufregend. Das Koksfeuer, ach, es war schön. Den Geruch vom Beschlagen der Pferde hab’ ich heute noch in der Nase.
Leisings Mutter, die 86jährig 1987 im Westen starb, sorgte nach der Scheidung dafür, daß die Kontakte der beiden Kinder zu ihrem Vater intensiv blieben.
Es gab da überhaupt keine Blockierungen. Worüber heute soviel gejault wird, das kannten wir nicht. Ich werde meine Mutter nie vergessen. Sie war großartig.
In der durch dauernde alliierte Fliegerangriffe zerstörten Industriestadt mußte Richard Leising ein halbes Dutzend Mal die Schule wechseln. „Ich war auch in der Hitlerjugend“, sagt er.
Ich war stolz, daß ich das Fahrtenmesser bekam. Das Gedicht dazu ist unterm Stift. Ich tu mich sehr schwer damit. Aber eines Tages ist es hoffentlich fertig: Auch ich trug es, das Hitlermesser…
Das Haus, in dem die Leisings wohnten, blieb stehen. Lediglich eine Brandbombe schlug im Dachstuhl ein. „Da wurde alles, was Hände und Beine hatte, hoch auf den Dachboden gescheucht“, erinnert er sich.
Ich war in der Kette, die die Eimer weiterreichte. Da sah ich Dresden im Osten lichterloh brennen. Dresden, das achtzig, neunzig Kilometer von Chemnitz entfernt liegt.
„Wir sind nach dem fürchterlichsten Bombenangriff, der Chemnitz traf, zu Verwandten ins Erzgebirge gezogen“, erinnert sich Leising.
Da sah ich, wie die deutschen Landser sich auf der Brücke über die Flöha die Epauletten und die Kragenspiegel abrissen und in den Fluß schmissen. Mein Vater – das müssen Sie sich einmal vorstellen – ich fange jetzt an, geschwätzig zu werden –, der ist mit diesem quittegelben Auto mehrfach unter Tieffliegerbeschuß von Chemnitz nach Floßmühle gefahren und hat uns was zu fressen gebracht.
Mit dem Kriegsende kamen zuerst die Amerikaner nach Chemnitz:
Ich weiß noch, wie sie Corned beef verteilten in gelbbraunglänzenden Büchsen. Das schmeckte wunderbar.
Dann kamen die Russen:
Ich hab’ sie überhaupt nicht wahrgenommen. Es gab in diesen ersten Nachkriegsjahren nur ein Gefühl, das der Befreiung. Das war ein Aufbruch.
Richard Leising trat der FDJ bei, „weil sie einen Klavierspieler suchten“. Zu Hause hatte man ein Klavier, zu Hause hatte er von klein auf Klavierspielen gelernt. Richard mit einem Vater, der das neue System wie das alte als ein Verhängnis ansah, ließ sich konfirmieren.
Er besuchte die Karl-Marx-Oberschule. In der einen Parallelklasse war Freund Thiele, in der anderen Irmtraud Morgner. Richard Leising wollte Chemiker werden. An Literatur gab es zu Hause nur Schund:
Im Flur stand eine Art Kommode mit Mutters und Großvaters Büchern. Courths-Mahler, Marlitt… Ich bin mir ziemlich sicher, daß mein Interesse an Literatur mit nichts anderem zu tun hatte als mit dem kindlichen Nachahmungstrieb. So, wie ich mir Klaviermelodien zusammensuchte, so schrieb ich. Ich hatte einfach das Bedürfnis, auch so schöne Sachen zu wollen, wie sie andere gemacht haben.
Der Siebzehnjährige durchstreifte 1951 wieder einmal die Buchläden. Vor einem Schaufenster blieb er verwundert stehen:
Da las ich Bertolt Brecht: Hundert Gedichte. Ich war doch gewöhnt, daß die Gedichtbände hießen Der Tau auf dem…, irgendsolchen Mist. Und da stand auf einem Band: Hundert Gedichte. Da hab’ ich gedacht, das darf doch nicht wahr sein. Da zählt einer. Das muß ich haben. Ich hab’ die Erstausgabe noch heute.
Damit war es um den angehenden Chemiker geschehen. Die Verehrung für Brecht hält an bis heute wie auch die für seine Klassenlehrerin Charlotte Emmerich, die zwar Mathematik an der Oberschule in Chemnitz’ unterrichtete, aber „außerordentlich an Musik und Literatur interessiert war“. Richard Leising erinnert sich, wie Charlotte Emmerich ihn, den Fünfzehnjährigen, nach Hause einlud und ihm Bücher zusteckte, Thomas Mann und Rilke. Leisings Lehrerin ging mit ihrer Tochter und ihrem Sohn später in den Westen. Der Sohn ist Wolfgang Emmerich, Professor an der Bremer Universität und Experte für DDR-Literatur, die Tochter ist Leisings Adresse in Schliengen. „Damit Sie auch einige Zusammenhänge kennen“, sagt Richard Leising zu mir.
Während der Oberschulzeit kam das Berliner Ensemble zu einem Gastspiel nach Chemnitz:
Da erschien der Herr Brecht selber mit dem Puntila im Operettenhaus der Stadt. Seitdem wollte ich zum Theater.
Der achtzehnjährige Abiturient bewarb sich mit einer Arbeit über Mutter Courage beim Deutschen Theaterinstitut in Weimar, das 1954 dem Leipziger Theaterinstitut angeschlossen wurde. Von 1952 bis 1956 studierte Leising in Weimar und Leipzig Theaterwissenschaften. „Der 17. Juni 1953 gab mir noch nicht allzu viel zu denken“, sagt Leising.
Das geschah 1956 und natürlich 1968. Der Antistalinparteitag in der Sowjetunion war ein unendlicher Hammer und Ungarn ein erschreckendes Datum.
Die Atmosphäre am Leipziger Theaterinstitut stellt Leising so dar:
Einer der Studenten hatte zwei, drei Bändchen Kafka vertrauensselig in der Gegend herumgeliehen, bis es ruchbar wurde. Da gab es Wandzeitungsartikel pro und kontra, natürlich meistens kontra. Es gab eine Wahnsinns-Kafka-Debatte, die von den Offiziellen so mißfällig vermerkt wurde, wie wenn man sich für Brecht interessierte. Das ist ganz einfach zu erklären: Der oberste Welttheatertheoretiker war Herr Konstantin Sergejewitsch Stanislawski. Das war das heilige Buch des Russischen an den Ausbildungsstätten. Das Wort Stanislawski war heilig wie das Wort Materialismus. Wer Intellektualität, Abstand und Episches – o Gott – auf die Bühne bringen wollte, war schlicht konterrevolutionär. Es war Wahnsinn. Ulbricht verdammte die Farbe Grau.
Als Leising 1956 die Hochschule verließ, war er Kandidat der SED und suchte nach einem Weg, der Vollmitgliedschaft zu entkommen:
Angesichts der Ereignisse dieses Jahres habe ich, wenn nicht gewußt, so doch gefühlt, daß dieses Land, das bis dahin mein Land war, daß dieses Land es nicht fertigbringt und fertigbringen wird, dahin zu gelangen, wohin wir es haben wollten, wohin wir es erträumten.
Richard Leising bekam seine erste Anstellung als Dramaturg am Theater in Crimmitschau und nach einem dreiviertel Jahr seine fristlose Entlassung aus formalen Gründen, die er provoziert hatte, weil ihm die Zustände in der Bühnenbürokratie unerträglich erschienen. 1958 wurde er Mitarbeiter am Leipziger Zentralhaus für Volkskunst in der Abteilung Künstlerisches Wort, wo er Lehrbriefe für Regisseure von Laienspielgruppen schreiben mußte und Lehrgänge gab. Das Volkshaus erlebte er als eine Burg wildentschlossener Brechtianer:
Das war unser Vorteil. Das hat uns in keiner Weise zu Jasagern gemacht.
Zwar hatte Leising Brechts der Niederschlagung des Aufstandes 1953 zustimmendes Telegramm, dem Ulbricht durch Kürzung die Einwände genommen hatte, geschmerzt, aber er ist sich noch heute sicher, daß ein Brecht, der länger als bis 1956 gelebt hätte, sein Wort gegen die Fehlentwicklung in der DDR erhoben hätte:
Ich halte mich nicht für ermächtigt, solchen Personen Versagen vorzuwerfen. Ich möchte mich nicht sehen nach was weiß ich wieviel Jahren Emigration. Sie wollten nicht nur ihr Leben in der DDR zu Ende leben, sondern auch ihr Lebenswerk unter Dach und Fach bringen. Bei Großschriftstellern wie Brecht und der Seghers versteh’ ich das. Es muß eben rund und abgeschlossen sein.
Mehr sich als mir stellt sich daran anschließend Leising die rhetorische Frage:
Was wäre Brecht, wäre er nicht der marxistischen Dogmatik aufgesessen?
Und er meint den Stückeschreiber:
Der Lyriker Brecht ist ja mehr oder weniger ungebrochen geblieben.
Vom Zentralhaus der Volkskunst wechselte Leising zum Friedrich Hofmeister Verlag, der die Literatur für das Laientheater herausgab. Mit der Übernahme des kleinen Verlages durch Henschel gelangte Leising als Lektor 1960 nach Ostberlin und geriet ein Jahr später in die erste große kulturpolitische Bruchsituation der DDR. Die zweite war 1976 die Ausbürgerung Wolf Biermanns.
Am 30. September 1961 wurde am FDJ-Studententheater der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande uraufgeführt. Mit Karlshorst verband sich nach dem Zweiten Weltkrieg die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches. Mit Karlshorst sollte sich nun die bedingungslose Kapitulation der jungen Protagonisten des sozialistischen „Sturm und Drang“ verbinden. Die Kapitulation einer Generation von Autoren, die dachte, nach dem Bau der Mauer im SED-Staat nun sagen zu können, was an Kritik zu sagen war, ohne benutzbar zu sein für die Propaganda des Westens.
Heiner Müllers Werk wurde von der SED als „konterrevolutionäres, antikommunistisches und antihumanistisches Machwerk“ eingestuft und nach der Uraufführung abgesetzt. Richard Leising als Lektor des Hofmeister-Verlags, in dem das Stück für die Aufführung ausgedruckt war, geriet in den Bereich jener, die das System dafür verantwortlich machte, daß es zu der Uraufführung hatte kommen können. Eigentlich hatte Leising am Tag nach der Uraufführung in Karlshorst eine Diskussion über das Stück moderieren sollen. Da wußte er bereits von Festnahmen, von Verhören, von Wohnungsdurchsuchungen.
Er lehnte es ab, angesichts der Forderung, Stück und Aufführung zu verurteilen, die Diskussion zu leiten. Er wandte sich besonders dagegen, daß man auch die Laienkünstler mit Repressalien bedrohte. „Ich war nicht bereit, irgend etwas zu bereuen oder zurückzunehmen“, sagt er.
Ich habe beim Verlag von mir aus gekündigt. So bin ich dem Einsatz zur Bewährung, wie er B.K. Tragelehn widerfahren ist, entkommen. Wenn ich nämlich geblieben wäre im Verlag, hätte man den Kohleeinsatz für mich als eine Art Erziehungskur durch praktischen Kontakt mit der Arbeiterklasse begründet.
Ungefährlich war Leisings Situation auch jetzt noch nicht: Bei den üblichen Parteiüberprüfungen im Verlag hatte er vor dem Müller-Eklat hinhaltenden Widerstand geleistet:
Ich hatte denen meine politischen Bauchschmerzen dargelegt. Es gab ein ziemliches Entsetzen und vier Einvernahmen. Dann wurde ich als Kandidat gestrichen.
Seit 1959 war Leising Vater einer unehelichen Tochter. 1960 heiratete er eine Heilgymnastin und wurde Vater von zwei weiteren Töchtern.
„Schulden waren gar nicht zu umgehen“, sagt Leising.
Ich ließ den Kuckuck unter den Tisch kleben, damit es meine Frau nicht gleich sieht. Wir konnten monatelang keine Miete zahlen. Die Wohnungsverwaltung stellte uns mit einem Riesenschreiben im Hausflur an den Pranger: „Es ist nicht im Sinne der sozialistischen Errungenschaften, daß die Familie die Miete nicht bezahlt.“
Wann, wann endet, ach wann
Das Krähen der Verleugnung
Und das Flüstern der Silberlinge?
Wer, wer wird es sein, wer
Der mich anzeigt
Du oder der
Wer.
Die Ermächtigten versammeln sich
Der Name wird fallengelassen
Die Zeit wird bestimmt.
Eure Macht über mich, das ist eure Macht über mich
Das ist sie.
Wenn ihr mich aufgetrieben habt
Wenn ihr mich habt
Dann tut das eure
Nur schlagt mich nicht
Nicht.
Solltest, Bruder, du mich verraten
In deiner Folter
So jammerst du mich
Die aber preisgeben ohne die Folter
Die aber preisgeben ohne Not
Die werden ausgestoßen sein
Und da werden viele ausgestoßen sein
Auch ich?
Im Sinne des Systems, in dem es offiziell keine Arbeitslosigkeit gab, in dem Leising aber praktisch arbeitslos war, war er ein „asoziales Element“. Ein Strafdelikt. Aus der Bedrohung half Leising ausgerechnet ein Zollbeamter des Grenzkontrollpunktes Marienborn heraus: Horst Bergemann, Jahrgang 1924, Leiter der Laienspielgruppe an der „Staatsgrenze West“. Bergemann, den Leising auf einem Lehrgang des Zentralhauses für Volkskunst geschult hatte, lud den Arbeitslosen ein, am Grenzkontrollpunkt letzte Hand an eine Aufführung zu legen.
Aus der Hilfeleistung wurde eine Dauermitarbeit bis 1968. Horst Bergemann, seit 1983 pensioniert, erinnert sich:
Wir haben Richard sogar in eine Uniform gesteckt. Mannschaftsdienstgrad. Damit er sich frei bewegen konnte. Er sollte die Grenze riechen und sehen. 1968 bekam ich einen Anruf aus Berlin. Wer denn so etwas zulassen könne, ein solcher Mann an der Nahtstelle zum Klassengegner? Ich bekam Befehl, Richard innerhalb einer halben Stunde aus dem Grenzobjekt zu befördern und ihn in den Zug nach Berlin zu setzen. Keine Fragen stellen, weg damit, Genossen, hieß es.
Richard Leising sagt:
Horst Bergemann und ich sind freundschaftlich verbunden geblieben.
Horst Bergemann sagt:
Richards Wirken war segenbringend. Richard erarbeitete mit uns Brechts Ausnahme und die Regel und eine Brecht-Revue mit dem Titel Von der Freundlichkeit der Welt. Für beide Programme bekamen wir die Silbermedaille der Arbeiterfestspiele. Wenn Richard bei uns arbeitete, schlief er immer bei mir im Hause in Beendorf.
Schaut man aus Bergemannns Haus, so sieht man eine riesige Salzhalde vor sich. Seit 1966 gehört das Kalibergwerk zum atomaren Endlager Morsleben.
Der gebürtige Magdeburger Horst Bergemann, im Zweiten Weltkrieg Soldat in der Panzerdivision Großdeutschland, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Chor sang, und der gebürtige Chemnitzer Richard Leising, der, wenn er gut drauf war, jährlich ein Gedicht von sich für vollendet ansah. „Von Menschen seiner Art, die behutsam mit dem anderen umgehen, gab es wohl zu wenige in der DDR“, sagt Bergemann über Leising.
Wer die Menschen belehren wollte, wie es geschehen ist, wer sie verbessern wollte, der hat sie nur schweigsam gemacht.
Angeschautwerden: Es enthüllt Sehnsucht und Angst in einem, daß ich nämlich im Blick des anderen identifiziert werde als der, der ich selbst bin. Der Blick des verfolgenden Systems, dessen Verfolgung zugunsten eines guten Ziels er anfangs nicht sehen wollte und über das er schrieb:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Es müßte ganz schnell Kommunismus sein.
Der „Prager Frühling“ von 1968 erschien Leising, wie er sagt, wie „eine Widerlegung der Hoffnungslosigkeit, der Verzagtheit, der man spätestens seit 1961 anheimgefallen war“:
Da lagen im Tschechischen Pavillon in der Friedrichstraße Zeitungen und Flugblätter herum, für die man, wären sie bei uns entstanden, ins Gefängnis gegangen wäre.
Leising erinnert sich, wie er beim Besuch eines Freundes im vogtländischen Reichenbach sah, wie die Panzer Richtung tschechische Grenze rollten, und wie er sich innerlich weigerte, sich einzugestehen, was da geschah.
Der vor dem Erfrieren gerettete Schwan in seinem Gedicht „Bodden“ stimmt keinen Schwanengesang an:
Dann wartet er auf was
Dann kackt er das Wasser grün
Dann kippt sein Hals über den Wannenrand
Dann verreckt er…
In der „Langfristigkeit des Ansehens der Dinge“ gibt es allein die „Kontinuität des Schmerzes“, die er in den „Schüssen“ sieht, mit denen sich Kleist, Majakowski, Hemingway „usf“, wie er schreibt, töten:
Von allen Worten die letzten
Genosse Regierung
mein Leichnam:
Hier!
Ich will den bleiernen Schlusspunkt setzen…
Wo denn sterb ich, und wie? und wie lange…
Richard Leising hat den Weg aufgenommen vom Schweigen ins Schreiben und vom Schreiben ins Schweigen. Jedes Gedicht, das er schreibt, präludiert das Thema aller anderen: der Mensch in seiner Einsamkeit, der sich wehrt, in seinem Schatten zu versinken. Im Ausgeliefertsein will Leising vor sich bestehen:
Und dieses Land darin ich leben will
Aber muss…
Angeschautwerden: Richard Leising, seit 1966 geschieden, findet noch einmal einen Blick, in dem man sich selbst geschenkt wird. Als Dramaturg am 1969 neugegründeten Kindertheater in Magdeburg lernte er die Schauspielerin Melitta Jahoda kennen:
Sie war Tänzerin am Staatlichen Dorfensemble mit Sitz Prenzlau. Jede Tänzerin muß einmal aufhören. Sie war des Herumziehens müde.
Richard Leising und Melitta Jahoda heirateten. 1973 erhielt Leising ein neues Engagement als Dramaturg am Berliner Theater der Freundschaft, ebenfalls ein Kindertheater. Einen Monat war er an seiner neuen Arbeitsstelle. Da erhielt er aus Magdeburg den Anruf:
Melitta Leising ist tot. „Sie hatte eine dünne Stelle an der Halsschlagader. Sie war gerissen“, sagt Richard Leising. Sie wurde vierzig Jahre alt. Tod im September 1973.
In der Verfinsterung jener Zeit versuchte ihm der Regisseur Karl Friedrich Zimmermann Halt zu geben, der 1978 ans Magdeburger Kindertheater ging und über den Richard Leising sagt:
Er ist durch die DDR ermordet worden.
Und:
Es war die entscheidende Freundschaft meines Lebens.
„Die Eltern von Karl Friedrich Zimmermann waren alt und krank. Sie lebten in Gießen. Er wollte sie besuchen, und er wollte raus, einmal in die Welt“, erinnert sich Leising.
Er hat Besuchsanträge gestellt. Man hat ihn zur Polizei zitiert, man hat ihm Hoffnung gemacht, aber dann abgelehnt, ihn wieder hinzitiert und auf Jahre später vertröstet und so fort.
Marianne Janietz, die Frau Zimmermanns, sagt:
Er hat das Bittstellergefühl als entsetzliche Demütigung empfunden. Er glaubte, nicht mehr seinen Beruf ausüben zu können. Er ist in Gewächshäuser gegangen und hat gefragt, ob er dort arbeiten könne.
Marianne Janietz erinnert sich daran, wie für ihren Mann schließlich doch alles klar zu sein schien für die Reise:
Er hatte die Koffer gepackt. Sie standen im Zimmer, auch Geschenke. Und dann kam das Nein.
Er fiel um und starb im Krankenhaus, 43 Jahre alt. Tod im Februar 1986.
Im Gedicht „SEPTEMBER 1973, FEBRUAR 1986“ gedenkt Richard Leising seiner Frau Melitta und seines Freundes Zimmermann:
Du bist nicht da
Aber ich sehe dich nicht kommen
Die Züge, die Autos, die Straßenbahnen
Leer
Die Straße ist es
Würdest du festgehalten irgendwo
Du rissest dich los, brächest
Aus zu mir, von weitem
Wüsste ich, du kommst
Nichts weiß ich, nichts kommt
Was bleibt mir als zu denken
All mein Gedanken, die ich hab
Die denken, du bist tot
Mehr nicht denken
Das bleibt mir
Und wird kein Traum sein
In dem du nicht da bist
Aber da ist kein Traum
Die Bühnenbildnerin und Graphikerin Regine Blumenthal sagt:
Richard Leising war für mich ein versunkener Garten Zärtlichkeit. Die Melitta war seine Erde.
Die Dramaturgin Marianne Janietz, Ehefrau Zimmermanns, sah Richard Leising ewig gefährdeter als ihren Mann:
Mein Mann war verzweifelt darüber, daß der Freund immer wieder versank im Alkohol.
In sein Tagebuch schrieb er:
Der Bruder schafft es nicht.
Es ist ein hartnäckiger Kampf, den Leising führt:
Der Bruder rettet den Bruder vor dem Irrsinn
Da gefriert der Retter zu Fels…
Ein Kampf, der Leising an den Rand des Todes zwingt, um seinem Werk zur Existenz zu verhelfen. Wenn Marianne Janietz an Richard Leising denkt, dann ist es dies:
Diese Stille, diese Konzentration. Und dann kommt so etwas Genaues über seine Lippen. Die Art, wie er nachfragt, zwingt zu Präzision. Nicht aus Neugier holt er aus dem andern alles raus. Es ist sein Denkprozeß. Eine Eigenart, die mir in ihrer Schönheit gefiel. Die beiden Männer machten die Nacht zum Tag, diskutierten in einer Intensität, in der ihre Leiber zu zerfallen und die Köpfe immer größer zu werden schienen.
Karl Friedrich Zimmermann wurde in Kropstädt bei Wittenberg im Fläming beerdigt, und Richard Leising hielt die Trauerrede. Am Grabe sahen die Eltern Zimmermanns ihren Sohn wieder. Klar, daß sich Leising nach der Beerdigung betrank. „Ich saß auf dem Bahnhof und beschimpfte die Transportpolizei“, sagt er. „Er hat politisch geschimpft“, sagt Marianne Janietz.
Sie haben ihn verhaftet und nach einer Nacht laufen lassen.
Leising hängt die Geschichte niedriger:
Die haben mich in die Ausnüchterungszelle gesperrt.
In einem Gedicht „An L.“ schreibt Karl Mickel:
… Ein Torkeltanz
Krachend
Lachen die Harmlosfröhlichen auf ihrer Stange
Unsereiner ein Mal
Muß sich brechen den Hals
Der Regisseur Hermann Schein, Jahrgang 1946, erinnert sich:
Der Verlust Zimmermanns saß tief. Richard Leising entzog sich immer mehr. Es war ganz schwierig, Kontakt zu ihm zu halten. Er tauchte von heute auf morgen ab. Er war für viele nicht faßbar. Da er so introvertiert war, ließ man ihn in Ruhe. Mir schien es so, daß immer eine Angst in ihm war, sich nicht zu genügen. Etwas Gültiges zu schaffen, das war bei ihm eine Sache auf Leben und Tod. Er war dabei sein eigener Maßstab. Er schlug sich mit Minderwertigkeitsgefühlen herum, obwohl er wußte, wer er war. Er hat es dann nicht geglaubt.
Hermann Schein, der in Berlin Regie führt in einer von Leising erarbeiteten Szenenfolge nach Victor Hugo mit dem Titel Ich heiße Gafroche, sagt:
Leising hatte ein hohes soziales Gefühl. Die Aufgabe des Staates bestand für ihn darin, sich für einzelne zu verwenden. Er hat die Auflösung der DDR innerlich herbeigesehnt und das System gehaßt, mit Recht gehaßt.
Berndt Renne, der in Ostberlin kaltgestellte Regisseur, der im Westen inszenierte, nach der Wende Intendant in Rostock wurde für kurze Zeit und heute in der Uckermark Pferde züchtet – und der zweite große Freund Leisings ist, sieht ihn so:
Das Zurückziehen, die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, ist stärker entwickelt als jede kämpferische Pose. So ist das Verhältnis des Künstlers zur Macht für ihn auch immer ein Problem von Angst, Furcht, auch vor Lüge, Korruption. Er hat früh gespürt, daß Schorf auf der Seele Blühen von Poesie nicht leichter macht. Er hat sehr viel Energie darauf verwendet, zumindest seine Seele blank zu halten…
Laßet uns saufen
und laßt uns vergessen
diesen blutigen Spaß ungeheuer
laßet uns saufen und laßet uns fressen
Helden sind selten und Helden sind teuer
Richard Leisings Tochter Renate, die mit dem Vater 1987 zur Beerdigung der Großmutter nach Siegen fahren durfte, erinnert sich daran, wie die Behörden die Besuchsgenehmigung bis zur letzten Sekunde hinauszögerten. Sie hört noch heute, was der Vater damals sagte:
Unsere Behörden beschäftigen sich mit uns so sehr, daß wir gar nicht mehr trauern können.
Und doch hatte Leising seine kranke Mutter noch ein letztes Mal sehen dürfen. Zwei Jahre zuvor war es ihm geglückt – nach mehreren abgelehnten Anträgen.
Sarah Kirsch schreibt:
Und als ich Leising das letzte Mal sah…, da war ich schwanger und habe herzhaft gelacht. Er stand in seiner Wohnung und ich auch, weil die Tür gar nicht verschlossen war, und er schüttete Wasser, einen ganzen Eimer voll, mit kleinen Schwüngen succedan in den Ofen. „Iss nicht durchgebrannt, ich muß weck“, sagte er damals.
Er mußte „weck“ und ist geblieben. „Ich werde zurückgehen ins Land“, heißt es bei ihm im Gedicht:
Es ist nicht so, dass ich schweige
Ich kann nur nicht sprechen
Leising – „Er ist euch / Hin“ wie sein schneller Mann Karl Kahn. „Klimm ich auf zum Tode mich zu werfen“, heißt es an anderer Stelle.
Steig ich rückwärts wieder ab ins Leben.
Oder:
Immer wieder aus allen Richtungen Gehetzte… Die Welt diese Hölle mit Himmel…
Den Fall der Mauer verschlief Richard Leising, gerade seit einer Woche zu Besuch bei seinem Verleger Kristof Wachinger in Ebenhausen. Er war zu den Endarbeiten an seinem Lyrikband gekommen. „Wachinger weckte mich morgens in seinem Haus: ,Die Mauer ist gefallen‘“, erinnert sich Leising, auch an seine Antwort:
Verarschen kann ich mich selber.
1992 erhielt Leising in Leonberg den Christian-Wagner-Preis für seinen Gedichtband Gebrochen deutsch aus dem Jahre 1990. „Ich will mit Kristof Wachinger und bei ihm ein zweites Bändchen machen“, sagt er mir heiter im März 1997.
Wenn es drei Bände werden, bin ich zufrieden.
Im Gedicht „ABENDLIED“, das er Renate Moser in Schliengen gewidmet hat, schiebt er die Gefährdung von sich:
Was geht da vor mir hin
Gen Abend lang und länger
Es ist mein schwarzer Sinn
Der wache Doppelgänger
Der geht da vor mir her
So leicht als ich bin schwer
Mein böser Bruder Sänger
Noch stummer als ich bin.
„Wenn es eine Hoffnung gibt, kann sie so nicht mehr genannt werden“, sagt Richard Leising. Vom Jahr 1989 spricht er als dem Jahr der Befreiung, wie es das Jahr 1945 für ihn gewesen ist. „Ich habe einen grundsätzlichen Haß gegen das, was Leben verhindert oder vernichtet“, sagt er, und nun spricht der eigene Vater aus ihm. Seine Geburtsstadt Chemnitz hat Leising seit 1983 nicht mehr besucht. Er sagt:
Die Stadt gibt es nicht mehr.
Aber die Erinnerung:
Nach Rotluff fuhr die drei raus, zu Hermlin die acht auf den Kasberg.
Richard Leising ist seit 1990 Frührentner. Sein Posten am Theater wurde „abgewickelt“. Er sagt:
Mir geht nichts so sehr auf den Geist wie die DDR-Nostalgie.
Bei einem Stipendiatenaufenthalt im westfälischen Künstlerdorf Schöppingen schrieb er die Fortsetzung des Gedichtes „Vom alten Weib“, das Ulbricht galt. Nun hat Leising Erich Honeckers Ende im Auge, im Gedächtnis die Schlagzeile eines Boulevardblattes, die er bei sich in der Berliner Wohnung angebracht hat:
Honecker: Nur sein Herz lebt noch
Weh! uns ist er fortgegangen
Und die Rücken bleiben krumm
Die wir sein Hymne sangen
Stehen nunmehr stumm herum
Richard Leising spricht von Martin Luther und dem Urtext seiner Übersetzung des Neuen Testaments:
Wenn du willst, daß einer dir nichts tue, dann tue auch du es nicht. Das ist für mich von grundlegender Moralität.
Er liebt Goethe und zählt diese Zeilen zu seinen, wie er sagt, Amuletten:
So hienan denn! hell und heller,
Reiner Bahn, in voller Pracht!
Schlägt das Herz auch schmerzlich schneller,
überselig ist die Nacht.
Dann:
Schillers Prosa, und der Dramaturg jauchzt über den Aufbau seiner Stücke.
Bei Schopenhauer entzückt ihn dessen Humor. Er findet sich in Brechts Satz wieder:
Eure Mission seid ihr selber.
Gegenüber Thomas Mann ist er „duldsam“ geworden:
Ein Unterhaltungsschriftsteller, nicht negativ, wunderbar unterhaltend.
Er sagt:
Wenn es nicht so hochfahrend wäre, würde ich Pascal und Kafka erleuchtet nennen.
„Zu Gott weiß ich nichts zu sagen“, sagt er.
Man muß von ihm erwischt werden, muß ihn erfahren haben. Das ist mir nicht passiert. Pascal ist es geschehen. Ich frage mich, ob der Geist auch reale Existenz hat wie die sogenannte Materie. Vielleicht ist die Musik, die klingt, solch eine Realität.
Von allen Komponisten steht ihm Haydn am nächsten.
Was ich besonders liebe, ist sein Humor. Mozart hat mehr Witz, und Mahler kann die Hölle komponieren und das Verstummen!
In Schliengen spricht Leising von Johann Peter Hebel:
Vor seiner Prosa kann man hinknien.
Kellers Grüner Heinrich, erste Fassung, geht ihm durch den Kopf:
Das Lob des Herkommens.
Und er spricht vom Schmerzensmann Ernst Barlach. Auch einer, der nach Colmar schaute und schrieb:
Wer kann die Grünewaldsche Passion empfinden, der nicht weiß, was Verstoßensein heißt.
*
Richard Leising starb am 20. Mai 1997 in seiner Berliner Wohnung. Gefunden wurde er drei Tage später. Die Obduktion ergab als Todesursache eine doppelseitige Lungenentzündung. Am 11. Juni wurde Richard Leising auf dem Städtischen Friedhof in Berlin-Weißensee, Roelckestraße 48–51 beerdigt.
Zur Beerdigung Bertolt Brechts kam das gesamte Politbüro der SED. Bei der Beerdigung Heiner Müllers mußte der Friedhof wegen Überfüllung geschlossen werden. Bei der Beerdigung Richard Leisings war der Kreis klein.
Zur Frankfurter Buchmesse 1998 erscheint ein zweiter Gedichtband im Verlag Langewiesche-Brandt. Nun als Nachlaßband, herausgegeben von Sarah Kirsch. In einem der letzten Gedichte Richard Leisings heißt es:
… ich
Wenn ich sterbe, sagtest du, will sein
Ein Wind und weg damit.
Nichts sollte bleiben.
Aber es muss noch das Dach gedeckt werden.
Aber das macht die Worte nicht unwahr.
Ihr setztet den neuen Schornstein.
Die Ziegel, die alten, schlugen
Kollernd herab ins Gras.
Ich sammelte und stapelte sie an der Hauswand.
Das ist nun der Lehm, dachte ich,
Aus dem du bist, der du wirst.
Und es ging mich nichts an.
Jürgen Serke, aus Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR, Piper Verlag, 1998
INNEREIEN
Dann geht ein Installateur am Waldhaus vorbei
dann ist der Jäger in der Gegend hier neu
dann lauscht der Jagdmann mit seinen Segelohren
dann hat er sein Fernglas wohl verloren
dann hört er ein Schnarchen und wimmerndes Klein
dann tritt er die Tür am Waldhause ein
dann kommt er wie ein Sonderkommando ins Zimmer
dann robbt er und hechtet und wütet unvermutet
dann treibt der Jäger es noch eins schlimmer
dann sieht er den Terroristen im Omaklamotten
dann juckt ihm die Nase allergisch von Motten
dann setzt er den rettenden Fangschuß an und
dann
dann steckt er sich ein Zigarette an
dann raucht sie, tja
dann wäre eigentlich das Rotkäppchen dran
dann aber geht’s nicht richtig los
dann ist Wolfes Bauch riesengroß
dann kommt das rote Mädchen raus
dann zwei Riesen, Aschenputtel,
dann die drei der 7 Zwerge
und ein Dutzend böse Feen
dann muß der Jäger sich übergeben gehn
dann ist da noch einer im Bauch am weinen
will oder will nicht erscheinen, worauf
dann Dornröschens samt Schloßhof erscheint
und der Jäger herzlich weint
Peter Wawerzinek
Lieber Autor der Seite,
ich würde gerne mit ihnen über die allzu oft unberücksichtigten Werke von Richard Leising sprechen. Meine Freundin, Frau Renate Luderer ist und war wohl eine wichtige Person im Leben eines Lyrikers, der bis heute viel zu wenig Anerkennung erfährt. Ich finde die Art und Weise Ihrer Berichterstattung sehr einseitig, vielleicht möchten Sie sich gerne mit mir in Verbindung setzen. Ich würde mich freuen, Dirk Voltz