ABENDLIED
Was geht da vor mir hin
Gen Abend lang und länger
Es ist mein schwarzer Sinn
Der wache Doppelgänger
Der geht da vor mir her
So leicht als ich bin schwer
Mein böser Bruder Sänger
Noch stummer als ich bin.
Für Renate
– In der DDR stand er im Schatten – und nun? Ein Lyriker ist zu entdecken: Richard Leising. –
Was bleibt? Keine Frage wurde 1990 häufiger gestellt als diese, wenn die Literatur aus vierzig Jahren DDR zur Debatte stand. Nur: Nach der literarischen Qualität wurde dann selten genug gefragt, wo es augenfällig darum ging, poetische Terrains als politische zu besetzen. Dabei hätte es doch tatsächlich Literatur von Rang zu besichtigen gegeben.
Zum Beispiel die des Dichters Richard Leising. Ihn konnte bislang im Westen nur kennen, wer sich die Mühe machte, Lyrikanthologien aus der DDR zu durchstöbern, oder wer schon 1975 ein unscheinbares Poesiealbum mit der Nummer 97 ergattert hatte.
Leising ist der Anti-Becher der DDR-Lyrik. Johannes R. Becher hat Hunderte, nein: Tausende von Gedichten geschrieben. Leising? Kaum mehr als vierzig. Von Becher gehören höchstens zehn in eine gute Anthologie, von Leising: fast alle. Und, siehe da, die Herausgeber der gelungenen Sammlungen haben das auch längst gemerkt. Schon in Endler-Mickels In diesem besseren Land (damit meinte man damals, anno 1966, noch die DDR, jawohl!) finden sich mehrere Leising-Gedichte, und in der 1990 veröffentlichten Anthologie Deutsch in einem anderen Land (Edition Hentrich) stehen sogar neun. So ist es recht, und doch muß der Ruhm des Versemachers Leising in diesem unseren Lande erst noch begründet werden. Jetzt, endlich, geht das, weil sein Bändchen mit 35 Gedichten da ist – übrigens in Bleisatz, schön gedruckt und noch schöner gebunden.
Leisings Buch beginnt mit dem Gedicht „Vom schnellen Mann“. Das ist Karl Kahn, der sich verflüchtigt, in Luft aufgelöst hat. Rufen, so heißt es, nützt nichts, „Er ist euch / Hin.“ Das könnte man auch vom Autor sagen. Bis zum bitteren Ende hat er in der DDR gelebt, „gebrochen deutsch“, mit einem „Herzen voll / Fröhlicher Kälte“, „entglitten jeder Macht“. Das war nicht immer so. Was für Träume und Hoffnungen hat Richard Leising, das Arbeiterkind aus Chemnitz vom Jahrgang 1934, in die DDR investiert! Theaterwissenschaft hat er studiert (insgeheim immer ein Schüler Brechts) und Theater, vor allem für junge Leute, in Crimmitschau, Magdeburg und, seit 1973, in Berlin gemacht.
Aber seine künstlerischen Ideen waren wenig gefragt, seine Theaterbegabung lag brach. Natürlich war er Marxist, und noch in den sechziger Jahren konnte er die DDR „dieses Land“ nennen, „darin ich leben will / Aber muß“. Davon ist wenig oder nichts geblieben, statt dessen: die Trauer, die Bitterkeit. Indem Leising seine Gedichte nicht in zeitlicher Folge anordnet, sondern bunt mischt, wird man immer wieder darauf gestoßen, daß da einmal etwas anderes war als Resignation, eben ein Traum und die Lust zu leben. „Einzig Sinn des Lebens ist zu leben / Sinnlos über alles war der Tod“, heißt es rückblickend auf die sechziger Jahre. Mittlerweile, 1988, kann der Betrachter dem seinerzeit beobachteten Vorgang des Särgeabladens in der Stadt mehr abgewinnen als damals. Der Tod hat, angesichts der Schrecken des Lebens, den seinen verloren. „Ich weiß keinen Weg, und den gehe ich“, heißt es einmal.
Wovon schreibt Leising? Er schreibt, vor allem in den früheren Gedichten, von alltäglichen Gegenständen und kleinen Leuten: von den Großvätern, die Schmied und Ziegler waren, von einem keifenden alten Weib, von einem Kohlenträger – aber auch von einem Schwan, der stirbt, vom leisen Abendwind, vom Orion am Himmel oder von den Vögeln, die den Morgen einsingen. Große Gedichte wie „Bodden“ oder „Mulackstraße“ sind so entstanden. Mit fortschreitender Lebenszeit schreibt Leising auch mehr von sich: skeptisch, ohne Illusionen, mutlos oft, aber nicht ohne Selbstbewußtsein. Wie der geschätzte „Harry Heine“ will er die „Molke unterm Rahm“ sein. Die materialistische Sicht auf die Dinge hält sich durch, so scheint mir, aber nie geht es, wie bei Biermann oder Volker Braun, um den großen geschichtsphilosophischen Entwurf. Vielmehr ist der Blick auf die flüchtigen Bilder geheftet, und je näher die Gedichte Leisings an die Gegenwart heranrücken, desto mehr dominieren die Motive der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit.
Und wie schreibt Leising? Das Erbe Brechts ist unübersehbar, mehr noch: unüberhörbar. Leising liebt, wie Brecht, das Gestische, das Vorgangshafte im Gedicht. Er hat nicht ein paar Standardformen über die er routiniert verfügt. Kein Gedicht ist wie das andere. Für jeden neuen Gegenstand, für jede neue „Gelegenheit“ schafft er sich die passende Form. Erzählende Gedichte arbeiten mit parataktischen Langzeilen, reflektierende können kurz, und kürzer als kurz, sein. Zeilenbrechungen stehen immer genau da, wo sie – poetisch – hingehören. Am schönsten aber sind Leisings fallende Rhythmen, vor allem die schweren Trochäen – die metrische Korrespondenz zu seinem „schwarzen Sinn“, den er seinen „wachen Doppelgänger“ nennt.
„Die Bilder bleiben nicht“, weiß Leising, den Adolf Endler einmal liebevoll einen „poeta minor“ genannt hat. Seine Gedichte bleiben vielleicht schon.
– Richard Leisings lyrisches Minimum. –
BODDEN
Wenn das Eis in den Bodden kommt
Kommen die Schwäne in den Bodden
Dann hocken sie auf dem letzten Wasser
Dann zieht das Eis Kreise um sie
Dann frieren die Kreise zu
Dann machen sie schlapp
Dann sterben sie
Schnell
So der Anfang eines Gedichts, der den genannten Schwänen nicht viel Raum und dem Dichter wenig Atem lässt, der Einkreisung des Eises, der Umzingelung und dem Klammergriff des Winters Trotz zu bieten. Wenn erst einmal das Eis in den Bodden gekommen ist, laufen die weiteren Ereignisse nun wie am Schnürchen, also gesetzmäßig ab – und es dauert nicht lange und die Schwäne sind tot.
Dieses so wenig tröstliche Gedicht lässt sich nicht unter dem Zeichen des Wechsels der Jahreszeiten weiterdenken, das einzig Zyklische in dem Gedicht bleibt der Kreis, und der macht sich seinen Reim aufs Eis und taugt nicht zum Neubeginn, sondern zum Fokus, zur Engführung. Erstaunlicherweise konnte dieses Gedicht schon 1975 veröffentlicht werden: im Poesiealbum Heft 97, der einzigen selbständigen Publikation des Dichters in der DDR. Dabei war Leising kein unbekannter Autor dort – schon in der 1966 erschienenen Anthologie In diesem besseren Land, die die Dichter und Herausgeber Adolf Endler und Karl Mickel zu einem dichterischen Manifest zusammenschnürten, war er mit Gedichten vertreten – und er war in guter Gesellschaft, Peter Huchel, Bertolt Brecht, Erich Arendt – aber auch Volker Braun, Sarah Kirsch, Heiner und Inge Müller waren in der Anthologie versammelt. Dennoch bleibt Leising der unbekannteste Dichter der sogenannten „Sächsischen Dichterschule“, die all jene neuen Stimmen der 1960er Jahre in einer losen Gruppierung vereint, auch in einem freundschaftlichen Sinne – und Karl Mickels Gedicht „Bier. Für Leising“ erklärt nur die eine Hälfte: „Maulfaul schreibfaul bist du“. Das schmale lyrische Werk zweier Gedichtbände und weniger publizierter Einzeltexte und Übersetzungen am Ende seines Lebens scheint Mickels Aussage recht geben zu wollen. Dabei ist Leisings Biographie phänotypisch=äußerlich kaum abzuheben von etlichen seiner Dichterkollegen.
Leising, 1934 in Chemnitz geboren, studierte von 1952 bis 1956 Theaterwissenschaft in Weimar und Leipzig. Als Dramaturg in Crimmitschau wurde er aufgrund politischen Eigensinns bereits nach einem ¾ Jahr fristlos entlassen, 1958 wurde er im Leipziger Zentralhaus für Volkskunst, in der Abteilung Künstlerisches Wort wieder angestellt, anschließend arbeitete er als Lektor im Friedrich Hofmeister Verlag, einem Verlag für Laientheaterliteratur, der 1960 durch den Henschel Verlag übernommen wurde. Doch auch hier schied er in Folge der Umsiedlerin-Affäre 1961 aus dem Verlag aus: Heiner Müllers brisantes Stück war im Hofmeister Verlag ausgedruckt worden, und Leising wurde für die Uraufführung mitverantwortlich gemacht, nach der der Autor Müller, der Regisseur B.K. Tragelehn und das Stück selbst als „konterrevolutionär, antikommunistisch, antihumanistisch“ abstempelt waren. Leising lebte ohne festes Einkommen am Rande des Existenzminimums und schlug sich als Fernsehdramaturg, Kritikenschreiber für Theater der Zeit, freier Lektor und Mitarbeiter einer Laienspielgruppe in Marienborn durch. 1969 ging er als Dramaturg an das neugegründete Magdeburger Kindertheater. 1973 wechselte er ans Theater der Freundschaft in Berlin. Nach dem plötzlichen Tod der zweiten Frau 1973 geriet Leising in fortschreitende Alkoholabhängigkeit. Bald nach dem Mauerfall, 1990, wurde ihm aufgrund von Stellenabwicklung am Theater gekündigt, er ging in Frührente. Erst 1990 erschien der langjährig vorbereitete Gedichte-Band Gebrochen deutsch bei Langewiesche-Brandt, obwohl Sarah Kirsch erste Kontakte mit dem Verleger schon 1978 vermittelt hatte. 1992 erhielt er für diesen Band den Christian-Wagner-Preis, ein Umstand, der ihm eine Weile „Freihändigkeit“ in finanzieller und existentieller Hinsicht bescherte, wie er in der Laudatio formulierte. 1997, im Alter von 63 Jahren, starb Leising an den Folgen einer Lungenentzündung. Schon diese wenigen äußeren Daten und Fakten vermögen nur schwer die Brüche und Ungeradlinigkeiten dieses Lebens zu verbergen – und kaum ein Text, der nicht seine Spuren davon ins Kenntliche trägt.
Wenden wir uns also wieder den Texten zu. Die Fortsetzung des Gedichtes „Bodden“, in dessen erster Strophe die Schwäne am Ende „schnell“ gestorben sind, lautet:
Dann kommen neue
Dann kann man hingehen
Dann kann man sich einen Schwan greifen
Dann kann man ihn in die Waschküche schleifen
Dann kann man das Wasser in die Wanne schütten
Dann kann man ihn hineinsetzen
Dann kann man ein Feuer machen
Dann kann man das Wasser anwärmen
Dann kann man ihm zu fressen geben
Dann kann man ihm zu fressen geben
Dann kann man ihm Fische und Brot geben
Dann frisst er nicht
Dann kann man ihm Fische und Brot geben
Dann kann man ihm Pudding und Kirschen geben
Dann kann man ihm was man hat geben
Dann frisst er nicht
Dann kann man ihm gute Worte geben
Dann frisst er nicht
Dann wird sein Hals dürr
Dann kann man zusehen wie sein Hals dürr wird
Dann kann man zusehen wie sein Hals gelb wird
Dann schnieft er nicht mehr beim Näherkommen
Dann wartet er auf was
Dann kackt er das Wasser grün
Dann kippt sein Hals über den Wannenrand
Dann verreckt er
Dann muss man ihn herausnehmen
Dann muss man ihm die Daunen herausreißen
Dann muss man ihn in die Grube schmeißen
Dann muss man sich die Hände waschen.
Anders als bei Peter Wawerzinek, der eben diesen Vorgang der winterlichen Überlebenshilfe für Schwäne in der autobiographischen Erzählung Das Kind, das ich war beschreibt und von einem Gelingen berichtet, sind bei Leising die Schwäne nicht zu retten, weder als Gattung noch als Einzelexemplar. Allen Möglichkeiten und Varianten zur Rettung zum Trotz antwortet der Schwan mit trauriger, grundloser Verweigerung, die nur konstatiert, nicht behoben werden kann. Eine Zwangsläufigkeit, der „man“ weder mit kindlichem Einfallsreichtum noch mit geduldiger oder praktischer Empathie begegnen kann, so dass am Ende nur bleibt, sich die Hände zu waschen. Diese letzte Handlung, scheinbares Zeichen der Hygiene, kann immerhin für sich die symbolisch-moralische Unbeteiligtheit am „Verrecken“ einfordern. Die räumlich halboffene Situation des Boddens – von Landzungen ist der Zugang zum offenen Meer abgegrenzt –, verschärft der Winter zur geschlossenen Lage, das Gedicht verengt sich damit zum Verschlussbild einer Gesellschaft am ‚Gefrierpunkt‘: Die Bemühungen für ein Überleben werden zu Zeichen der Vergeblichkeit, der Rückzug in die private Badewanne ändert nichts an der Tödlichkeit des Ausgangs, die sich als alternativlose Wahl zwischen „Verrecken“ und „Erfrieren“ herausstellt.
Doch nicht nur die Schwäne stecken fest, auch die Menschen haben alle Hände voll zu tun, um zu überleben:
Es leidet, o Herr, deine Erde
An Untergehenden
Keinerlei Mangel!
heißt es im „Gesang der Rudersklaven bei Sturm“. Sie schwingen sich auf zu einem Gebet, doch im umgekehrten Sinne: „Noch kannst du wenden / Von uns dein Angesicht“ – flehen sie ihren Gott an um Nichtbeachtung, denn Aufmerksamkeit „von oben“, aus göttlicher Sphäre, bedeutete Untergang. Sie flehen um ihr bisschen Leben, das der Schlussvers als ein Leben „Auf der Galeere!“ offenbart, und setzen ihr Ausrufezeichen dennoch zur Bekräftigung ans Ende des Lieds.
In dem Gedicht „Tod des Zimmermann“ wird Leising deutlicher in Bezug auf die Befugnisse ‚von oben‘ und die realen Machtverhältnisse im Land:
Sie haben ihn nicht fahren lassen
In diese unschuldige Stadt Gießen
Hingehalten ihn über ein halbes Jahr
Eine Vorladung ein NEIN, eine Vorladung ein VIELLEICHT
Meinen Bruder, meinen Bruder
Den Herzkranken, den Epileptiker
Der zu den Eltern wollte und überhaupt mal raus
[…]
Der zu sicher war, zu entspannt war er
Entspannt durch Vertröstung
Vor der Vorladung, 7.2.1986
Da fiel er um, da kam er ins Krankenhaus
Da war er 3 Uhr 35 Uhr tot
Was blieb mir da von mir
[…]
Sie haben ihn mir weggenommen
Ermordet durch Hinhalten, durch Folter
Diese Mörder, diese Folterer
Keine Gnade ihnen
Und keinen Tod, keinen Tod.
Die realen Hintergründe zwingen Leising zum Klartext, einer seiner engsten Freunde, der Regisseur Karl Friedrich Zimmermann, ist genau wie im Gedicht beschrieben gestorben, die Fakten sind vermerkt: Datum und Zeitpunkt des Todes und die Ursachen, die klar die Schuldigen benennen und damit den Tod zum Mord werden lassen. Dieser Text, dem vor diesem Hintergrund die Mehrdeutigkeit der Lesarten fehlt, beginnt als faktischer Bericht, wird zur Anklage der Mörder und schließt mit dem Fluch, dass es aus ihrer Verdammnis keinen Ausweg geben möge. Das Eigentliche, den Verlust des ‚Freundes und Bruders‘, vermag das Gedicht nur mit Leerzeilen zu fassen, von denen das lyrische Ich umlagert ist: „Was blieb mir da von mir“, heißt es, nachdem der Tod festgestellt worden war. Die Grenzen des Ichs werden unkenntlich in dem Verlust, in der Auflösung, und nur in diesem negativen Gebet, in der Verwünschung – die sich wie ein Echo des Gebets der Galeerensklaven liest –, findet es noch einmal zu sich und zur Stimme zurück.
Dass angesichts solcher Erfahrungen dieses Leben kaum anders errungen/ertragen werden kann als in dem bloßen Versuch, der sich als Versuch ausweist, ist allen Gedichten eigen: „Das Leben ist kein Leben, aber der Tod ist der Tod / Ich weiß keinen Weg, und den gehe ich.“, schreibt Leising in „Der Rabe. Tragikomische Legende“ – ein Gedicht nach dem Stück von Carlo Gozzi, das er für das Theater bearbeitet hatte und das eine weitere Desillusionierungsstation in seiner Biographie bildete. Denn auch hier eckten Dichter und Regisseur bei der Aufführung an der Berliner Volksbühne 1981 so heftig an, dass der Regisseur Berndt Renne fortan nicht mehr in der DDR inszenieren durfte und damit ein weiterer endgültiger Abschied anstand.
Der Versuch zu leben wird fortan auch zum Selbstporträt des Dichters. Das Gedicht „Die Schüsse“ malt eine Ahnengalerie anderer zum Leben schwer tauglicher Dichter: Nr. 1, Heinrich von Kleist. Kleists Abschiedssatz an die Schwester: „Die Wahrheit ist dass mir auf Erden / Nicht zu helfen war.“ wird erwidert von Nr. 2, Majakowskis „bleiernem Schlusspunkt“, den ebenfalls die Kugel setzte:
Genosse Regierung
mein Leichnam:
Hier!
Ich will den bleiernen Schlusspunkt setzen
Rede
Genosse Mauser
zu mir.
Und das lyrische Ich kann nicht anders, als sich einzureihen als Nr. 3 in die Linie der Vorgänger:
Und nicht auf den grünen Hügeln
Und nicht im Männerdunst des Bürgerkriegs
Und nicht durch den Stier
Und im Grappa nicht
Und nicht in dem dunklem Meer
Wo denn sterb ich, und wie? und wie lange.
Auffälligerweise steht hier ein Punkt am Ende des Verses, kein Fragezeichen, das nach der Zukunft fragt, das Sterben wird damit zur Aussage für die Gegenwart, es ist schon im Gang und hält an – kein bleierner Schlusspunkt durch die Kugel, nur ein Zeichen im Bleisatz in der Textur des Blattes. So zieht die Sprache ihre Schlüsse daraus, sie ist es, die allein aus dem Tod noch heraushalten kann, der das Sterben endigt, eine Weile lang – wenngleich die Beispielreihe im Gedicht fortgesetzt wird: Nr. 4 und 5 müssen nicht einmal ausgeführt werden, die Ziffern werden dabei zur zeichenhaften Signatur, die in diese Linie gestellt, aussagekräftig genug ist. Das heißt, die Biographien dahinter können abgekürzt, aber in ihrem tödlichen Ausgang nicht aufgehalten werden: „usf.“ ist der lakonische Ausklang, das Ich nur eines von vielen. Heißt bei Brecht der letzte Eintrag in dem Gedicht „Orges Wunschliste“ 1956, also kurz vor seinem eigenen Tod, noch: „Von den Leben die hellen. / Von den Toden die schnellen“– ist bei Leising das (übrige) Leben bereits verlängertes Sterben. Bleibt nur: „Von allen Worten die letzten“ zu suchen – und also die gültigen zu finden. Auch ein Umstand, der erklärt, warum er so zögerlich mit der Herausgabe seiner Gedichte war. So wenig, das er für fertig hielt und schließlich aus der Hand und dem Verleger gab. „Vom Minimum“ ist eines dieser wenigen Gedichte, das seinem eigenen – höchsten – Anspruch genügte. Darin werden die Vögel bestaunt und fast beneidet angesichts ihrer außerordentlichen „Leistung“ morgendlichen Gesangs:
Noch ist der Tag nichts als ein klammes Niemandsland zwischen
Osten und Erde, doch flugs wird der Habenichts lauthals gerühmt von
Tausenden Vögeln! Auch wo der Himmel verbaut ist, etwa in
Leipzig, es reicht, dass sie da sind – und? Sie lassen sich hören!
Irgendwas braucht bloß Baum zu sein neben den Steinen, gleich geht’s
Rund!
Fast vergisst das Gedicht über seiner Begeisterung und Eloge auf die Vögel, dass auch der Dichter ja singt und auf ebenso „fraglich bequemem Dachfirst“ „Töne“ hat, auch wenn der Anlass noch so schwer zu erahnen ist wie etwa jener blasse Morgenstreif zwischen „Osten und Erde“ oder der Himmel noch so verbaut sein mag. Töne zu finden, Worte, ist dabei keine Kleinigkeit, sondern eben „besondere Leistung“, die das Minimum garantiert, das zum Überleben vonnöten ist. Auch dieses frühe Gedicht nahm Leising in seinen Gedichtband Gebrochen deutsch auf, dessen Titel bereits von der Mühseligkeit des Sprachbesitzes zeugt. „Gebrochen deutsch“ formuliert mit den Brüchen und zugehörigen Bruchkanten die Fragmenthaftigkeit dessen mit, was mitunter nur schwer (mit Sprache) greifbar ist. Wer „gebrochen“ spricht, muss sich der Bedeutung und jedes einzelnen Wortes immer wieder rückversichern, stetig, ständig. Die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Worten fehlt, aber auch: mit der Identität. Gebrochen spricht, wer idiomatisch Fremder oder Ausländer ist – in dem, was andere Heimat nennen, ist hier einer nur gebrochen zu Hause. Und auch das hat vor allem mit der einen Hälfte Deutschlands zu tun.
Leising wehrt sich: Distanziert und ironisch beschreibt er die Gattung und ihre spezielle Artenausprägung der DDR in dem Gedicht „Homo sapiens“:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Er will auch sein Rettich und Eisbein
[…]
Er braucht fürs Leben ein Ideal
Etwa drei- bis viermal.
Zu einem richtigen Arbeiterstaat
Gehört ein richtiger Kartoffelsalat.
Vom niedrigen Materialismus weg!
Man würzt seinen Senf mit Speck.
Und wenn auch die Redensarten sich betont fröhlich ihrem mitunter holprigen Reim überlassen, ist die Kritik dahinter nicht zu überhören. So auch im Gedicht „Bankett“:
Da stehn Die da und stehen da Die saufen
den Sekt des volkes Diese
Fressen
aus der hand ihm
den Caviar
Durch Großschreibung am Versanfang erhält das Gedicht seine Doppelbödigkeit – denn so kann Fressen auch zur Beschimpfung werden, die in Wut umschlägt: „aus der Hand ihm den Caviar“ wäre dann Imperativ und Aufforderung zur Revolte – als groteske Überbietung der Büchner’schen Formulierung, dass der Hunger das einzig revolutionäre Element in der Geschichte sei.
Dennoch bleibt es in den Gedichten existentiell, auch oder gerade wenn sich dieses Leben in ein scheinbar heiteres Gewand hüllt. So formuliert Leising in dem Gedicht „Esse“:
Kletter ich den heißen Schornstein hoch
Stieg um Stiege eisern an den Ziegeln
Klimm ich auf zum Tode mich zu werfen
In Fabrikhof runter und zerstieben
Krieg zu tun hier oben mit der Angst ich
Ruf um Hilfe wimmernd mit Sirenen
Kommt die Feuerwehr auf schräger Leiter
Steig ich rückwärts wieder ab ins Leben.
Hier wird das Pathos der wild entschlossenen Geste und des hohen Tons – „auf zum Tode“ – ironisch gebrochen mit dem umgangssprachlich vorgestellten und quasi apostrophierten Ergebnis: „In Fabrikhof runter“ und dem Wimmerton der Angst, der im Hilferuf kulminiert und den augenblicklich die Sirenen ablösen. Doch ins Leben zurück kehrt das lyrische Ich „auf schräger Leiter“ (=der umgekehrten Himmelsleiter) und rückwärts – die Blickrichtung bleibt dem Himmel zugewandt. Die Bewegung wird damit ambivalent – fast ein Vertigo-Effekt in Zeitlupe, der nur durch den Pragmatismus des lyrischen Ichs verhindert wird, der ihn zudem vom berühmten Benjamin’schen „Engel der Geschichte“ trennt.
Dennoch, und das ist auffällig, obwohl Leising das Jahr 1989 als „Befreiung“ erlebt, wechseln die Gedichte nicht ihren Tonfall. „Wenn es eine Hoffnung gibt, kann sie so nicht mehr genannt werden“, formuliert er im Gespräch mit Jürgen Serke. In dem Nachlassband Die Rotzfahne, dessen größerer Teil nach 1990 entstandene Gedichte versammelt, wird Bilanz gezogen, doch Bilanz bedeutet in dem Fall keine Zäsur. Die beiden Gedichtbände, die sich wie zwei „eineiige Zwillinge“ im Erscheinungsbild ähneln, bilden auch inhaltlich zahlreiche Anschlüsse und Kongruenzen. So enthalten beide Bände Gedichte aus allen Schaffensjahrzehnten, frühe Gedichte werden in den 1990er Jahren fortgesetzt, Themen nur variiert, nicht abgeschlossen. Eines der ersten Gedichte trägt den Titel „Auch ich“:
Auch ich trug es stolzgeschwellt, das Hitlermesser
Ein ganzes Jahr und wenig mehr
Das mit der Blutrinne in der Klinge, ich trug es
Ehe ich es vergrub in die Erde bei Floßmühle
Als da die Russen kamen mit Liedern
Die ich mitgrölte, auch ich
So die erste Strophe der Selbstkritik, in der das lyrische Ich nicht zimperlich mit sich ist:
Ein guter Mitwerfer gut mitlaufend, Mitbesitzer
Der einzig wissenschaftl. Weltanschauung, auch ich
Später mein Schweigen, ich kleidete es
In edle Wendungen, ich trug, bau auf, bau auf
Meinen Stein herbei zur Mauer, auch ich
Mitpächter war ich eines Meters Todesstreifen
Bin ich wahr, wenn ich in der Vergangenheit rede?
Von vielem bin ich frei, in nichts von Schuld
Und es ist wohl nichts als Glück,
dass ich keinen verriet.
Mitläufer, Mitwisser, Mitschweiger – hier bekennt sich einer zu (den Taten) seiner Vergangenheit – und, das ist das Ungewöhnliche daran, er erkennt sie nicht als vergangen, sondern thematisiert ihre anhaltende Gültigkeit in der Gegenwart – in einem ähnlichen Sinn wie etwa Franz Fühmann in seinem Ungarntagebuch Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens diese Erkenntnis für sich formulierte. Die Fahne, an die nun gedacht wird, ist nicht länger politisch aufgeladen, sondern es ist jene, die dem zweiten Gedichtband Leisings ihren Titel gibt: Die Rotzfahne:
Die mit dem Schweiß, die mit den Tränen.
Die mit den roten Flecken
Vom Ketchup der Currywurst […] Zum Weinen die
Zum Schluchzen unentbehrlich
Pressen in den Händen
Genau diese Taschentuchfahne wird in einem anderen Gedicht „auf halbmast“ gesetzt, als Trauer- und Kapitulationszeichen in einem; „Halbmast“ – damit reimt das letzte Wort den Titel des Gedichtes: Leben als Altlast. Hier nimmt das Leben seinen Weg: „Aus dem Mief in die Kälte / Das hält kein Schwein aus“ und führt geradewegs in „die Zukunft ohne mich“: „Bald lache ich wieder, nichts lacht / Blanker und ausgiebiger als ein Schädel“.
Die Rechnung von „Soll und Haben“ (so der Titel eines anderen Gedichtes von 1990) kann daran nichts ändern, es ist ein Schreiben vor allem auf den Tod zu, selbst wenn sich die Tage die Waage halten:
Es ist mir wieder ein Tag Leben gegeben worden
Und wieder ist mir ein Tag Leben genommen worden.
Mein Leben ist um diesen vergangenen Tag länger gewesen
Und mein Leben ist kürzer geworden mit dem vergangenen Tag
[…]
Wird mein Leben verlängert nur dass es kürzer werde?
Soll ich sagen Amen?
Das Fragezeichen birgt einen letzten Rest Rebellion, Einspruch gegen die scheinbare Nivellierung, doch behalten nicht alle Texte diese Geste bei. In anderen Gedichten ist das lyrische Ich weniger stark, wie etwa in dem Gedicht „Rückfall“, das die eigene Alkoholabhängigkeit thematisiert:
Meine Augen sehen mich nicht mehr
Verglast von dem Schnaps
Dem zuschlagenden, übelriechenden
Dem teuren
So hilft vielleicht nur der „Psalm Tausendneunhundertvierunddreißig für Richard Leising“ (= sein Geburtsjahr), in dem das eigene Ende imaginiert wird als
ein Tod, der ein schmutziger Tod sein wird, ein schmählicher, ein schäbiger. Und wird werfen einen schmutzigen, schmählichen, schäbigen Schatten auf das Gute, das du vielleicht gemacht, höre, und gesagt wird werden, es kann nicht gut gewesen sein, es ist nicht gut und es wird nicht gut bleiben angesichts solchen Endes.
Das Bild solch drastischen Endes malt sich der Autor selbst – im Sinne einer Widmung und didaktischen Ansprache, die Ermahnung im ersten Vers „Wenn du nicht Einhalt tust“ dabei auch ja nicht zu überhören; und eine letzte Selbstermutigung bleibt das kleine Wort „höre“ im zitierten Vers 6.
Ein Dreivierteljahr später ist Leising gestorben. Das lyrische Minimum war nicht länger zu verteidigen, Leisings „Kunst der Schutzlosigkeit“ hat ihn an die eigenen Grenzen geführt. Bleiben also die Gedichte eines Autors als (ihre eigenen) Verlustanzeigen zurück, Gedichte, die zeitlebens „Schmuggelware waren für diejenigen, die zu lesen wußten“ – sie bleiben haltbar.
Und wird kein Traum sein
In dem du nicht da bist
Aber da ist kein Traum
Kristin Schulz, aus: Stephan Krause/Friederike Partzsch (Hrsg.): „Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen“. Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90, Frank & Timme, 2012
FÜR RICHARD LEISING UND KARL MICKEL
Hell strahlt eurer Glieder Asche, von Faltern
aaaaaim Gebüsch umflügelt, von Gewittern
aaaaaaaaaadampfgebügelt. Wortlos geht der Mund zur Flasche.
aaaaaaaaaaHeulend reißt der Wolf den Rachen. Von Krumenhänden
aaaaaaufgehügelt, psalternd im Gespräch
beflügelt, heil strahlt eurer Glieder Asche.
Richard Pietraß
Schreibe einen Kommentar