Stehgeigen Balkonreigen
Seifenblasen über
Umarmten Lungen
*
Die Lippen- die Lappen-
Leserin verzweifelt an meiner
Marmormaske
*
Man sieht sich
Lispelt die Pest zweimal im Leben
Schwärzt den Rest
Richard Pietraß liest aus seinem Buch Coronaden und spricht mit Jürgen Engler beim Literaturforum im Brecht-Haus 2020 innerhalb der Reihe Shut down? Read on!.
– Coronaden von Richard Pietraß. –
Der Titel dieser Sammlung von 38 Haikus sowie der im Impressum versteckte Vermerk „Minima aus dem Minimum“ verweisen auf die Entstehungsbedingungen: die Corona-Zeit als Zeit eingeschränkten gesellschaftlichen Lebens. Manche Haikus in dem Bändchen reflektieren diese Situation direkt, andere indirekt. Entschleunigtes wird zugleich als intensives Leben evoziert. Nachdrückliche Welt- und Selbsterfahrung, Plötzlichkeit der Detailwahrnehmung ̶ eben dies sind Charakteristika des Haikus: Das Alltägliche erscheint im besonderen Augenblick als Außergewöhnliches.
Die Corona-Krise zwang und zwingt zum Nachdenken darüber, was der Mensch braucht und was nicht. Innehalten heißt, sich bescheiden und auf „Wesentliches“ zu konzentrieren. Freilich, die bedrängte und bedrohte soziale Existenz in Quarantäne ist die andere Seite vom Corona-Biedermeier: der Stresss von Home office und Kindererziehung, die Angst vor Isolation und Einsamkeit, die Sorge um Arbeitsplatz und Zukunft.
Dass Pietraßʼ Coronaden als Kunst der Stunde sich der „Gunst“ der Stunde verdanken, soll mit Gesagtem genügend bedacht sein. Denn der Autor schreibt schon seit mehr als anderthalb Jahrzehnten Haikus, nicht verwunderlich bei einem Dichter, dessen Schaffen auf die Naturgebundenheit des Menschen fokussiert ist. Verwunderlich ist eher, dass der 1946 geborene Lyriker relativ spät zum Haiku gefunden hat. In einem Gespräch 2006 in der Zeitschrift die horen nennt er den Grund dafür: „Zu exotisch und buddhistisch verwurzelt“ erschien es ihm, stets von der Gefahr kunstgewerblicher Klöppelei bedroht.
In dem von Dieter Lamping herausgegebenen Handbuch Lyrik vermerkt Andreas Wittbrodt:
Das Haiku ist eine aus dem Japanischen ins Deutsche übernommene lyrische Form, die sich im Wesentlichen durch drei Elemente auszeichnet: 17 Silben in der Form 5/7/5 Silben; eine gravierende Verspause, im Japanischen durch eine Partikel (jap. kireji), im Deutschen in der Regel durch einen Gedankenstrich versinnbildlicht; sowie eine Jahreszeit, in der Regel erzeugt durch ein dazu besonders geeignetes Jahreszeitenwort (jap. kigo).
Die bündige Zusammenfassung traditioneller Überlieferung hilft, die Form- und Sinnerweiterungen gegenwärtiger Haikus zu erfassen.
Eine weitere Handreichung für einen derart interessierten Minimalkurs, der pars pro toto drei Haikus aus dem Coronaden-Zyklus vorstellt, gibt Ezra Pound, der wesentlich die europäisch-amerikanische Rezeption des Haikus prägte In seiner Lehrschrift „Leseplan“ charakterisiert er die poetische Aufladung der Sprache mit den Begriffen melopoeia (Klang), phanopoeia (Bildlichkeit) und logopoeia (Sinn).
Phanopoeia
Stehgeigen Balkonreigen
Seifenblasen über
Umarmten Lungen
Das Haiku gehört zu den direkt auf Corona Bezug nehmenden: Es erinnert die Balkonkonzerte, die ̶ als eine Weise solidarischer Kommunikation ̶ einem sich aufopfernden medizinischen Personal öffentlich Dank bekundeten. Seine starke Wirkung bezieht es aus dem Assoziationskonglomerat Seifenblasen. Sie lassen, farbig schillernd, an die perlenden Töne der Musik ebenso denken wie an die lebensspendenden Luftbläschen. Und natürlich sind sie ̶ gerade im gegebenen Zusammenhang ̶ ein Symbol der Vergänglichkeit.
Das Szenisch-Anschauliche, die ganz gegenwärtige Wahrnehmung sind Charakteristika, die der Haiku-Anthologist Dieter Krusche mit Blick auf die deutsche Literatur als Ursache für den Erfolg dieser Form im Literaturgeschehen des 20. Jahrhunderts benennt. Das Haiku schließe eine Lücke im System unserer lyrischen Formen. Als nicht-reflexives, szenisch-anschauliches Kurzgedicht unterscheide es sich von gedanklich besetzten Formen wie Spruch, Sentenz, Epigramm, die schon lange einen festen Platz in der deutschen Lyriktradition einnehmen.
Die von Krusche gebrauchten Begriffe sind freilich mit Vorbehalt aufzunehmen. Das Szenisch-Anschauliche prägt das folgende Haiku:
Im wogenden
Gebüsch tschilpt windgewiegt
Ein Bällchen Hoffnung
Zumindest weitgehend: Die Formulierung „Bällchen Hoffnung“ übersteigt unmittelbare Anschaulichkeit. Noch ausgeprägter ist die Verschmelzung von Sinnlichkeit und Abstraktion im oben zitierten Haiku: Das Szenisch-Bildliche gleitet ins Szenisch-Gedankenbildliche. Das Haiku kann als Modell der Metapher gelten: Als Bild ist es, mit einem Male unsere Sinnes – wie Geisteskraft beanspruchend, anschaulich und unanschaulich zugleich.
Logopoeia
Die rosige Vitrine
Des Schinkenfleischers
Ein geschminktes Schlachtfeld
Pietraßʼ Bemerkung über die buddhistische Verwurzelung bezieht sich auf den Zen-Buddhismus, der in der westlichen Rezeption des Haikus eine große Rolle spielt. Er lehrt Gelassenheit, Nichtbegehren und Nichtwollen, erfahrbar im ich-losen Sich-Einlassen in die Natur und ihre Rhythmen ̶ ein Gegenentwurf zum mechanisierten Leben der Modern Times, um an Chaplins berühmten Film zu erinnern. Insofern ist der Eskapismus gesellschaftskritisch motiviert. Etwas anderes ist es, die modernen Zeiten, die industrielle Ausbeutung und Zerstörung der Natur, im Haiku selbst zu erfassen. Das hier zitierte ist ein schöner Beleg dafür, wie solch kritische und selbstkritische Sicht auf unsere Lebensweise unaufwändig im Haiku gelingen kann. Zumal das Kompositum Schlachtfeld lässt das präsentierte Bildchen (eidyllion) zur fragwürdigen Idylle werden. Das muss nicht ausbuchstabiert werden ̶ ein Hinweis auf die Zustände in der fleischverarbeitenden Industrie, wie sie die Corona-Krise unnachsichtig vor Augen führte, genügt durchaus.
Die Ausweitung des Gegenstands- und Themenbereiches des Haikus bedeutet auch, dass der strenge Jahreszeitenbezug (der traditionelle Ablauf Neujahr ̶ Frühling ̶ Sommer ̶ Herbst ̶ Winter) hinfällig geworden ist. Wirksam aber bleibt aus einsehbaren Gründen der Drang der Haiku-Dichtung zum Zyklus und damit zu einem größeren Ganzen. Durs Grünbeins Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus ist ein Beispiel dafür. Einen wichtigen Verweis für die zyklische Orientierung führt Yûji Nawata im Nachwort zu diesem Band an: Das Haiku war ursprünglich der erste Teil einer Kettenlyrik, die sich der Gelegenheit des Zusammensitzens und -dichtens verdankte.
Eine weitere Spezifik des Haikus kann am Text aufgezeigt werden. Der in eingangs aufgeführter Definition erwähnte Gedankenstrich könnte nach den beiden ersten Zeilen eingefügt werden. Ihn ernst zu nehmen heißt, die Bestimmung des Nichtreflexiven zu relativieren: Sie bedeutet lediglich, dass die Reflexion bzw. ihr Ergebnis nicht im Text selbst erscheint, sondern den Lesenden aufgegeben ist.
Melopoeia
Das scheintote
Chamäleon schleudert seine eingerollte
Reimzunge
Dieses Haiku mit der Silbenaufteilung 4/12/3 zeigt in besonderem Maße die Abkehr vom überlieferten Schema, wobei auch die beiden anderen Beispiele (7/6/5; 7/5/6) sich mechanischer Füllung verweigern. Pietraß beharrte seit jeher auf sinnvoller Gliederung. Er könnte sich auf linguistische Erkenntnis berufen: Der Informationsgehalt von 17 japanischen Lauteinheiten (sog. Moren), wie sie in der Silbenfolge 5/7/5 nachgebildet wird, entspricht annähernd dem Informationsgehalt von 10 bis 14 deutschen Silben. So ist eine Eins-zu-Eins-Nachbildung keineswegs zwingend ̶ wie die Unter- kann die Überbietung der Lehrbuch-Silbenzahl sinnvoll sein.
Die Zunge des Chamäleons, deren Länge sich in der zwölfsilbigen Mittelzeile entrollt, ist klebrig: eine Leim- und Reimzunge. Welche Bedeutung dem Reim, den Klängen und Anklängen zukommt, lässt sich am Schinken-Haiku mit seinen Stabreimen und Assonanzen, zumal den in-sistierend stechenden i-Vokalen (Vitrine, Schinken, geschminkt) exemplifizieren. Unter Reim ist selbstverständlich nicht der Endreim allein zu verstehen (Haikus sind ohne Endreim, in diesem Sinn reimlos, wobei Pietraß nicht auf sich zwanglos anbietende End- und Binnenreime verzichtet.) Reim ist jegliches klangliche Aneinanderhaften von Worten, das seltsame Verschmelzen von Lauten und Bedeutungen. Das Chamäleon-Haiku ist geradezu eine Allegorie des Gedichts: Eben noch scheintot, schleudert es, wird es gelesen und gehört, seine Reimzunge.
Jürgen Engler, Juli 2020
Zitierte Literatur
– Jürgen Engler: „Unterm Stern der Poesie. Gespräch mit Richard Pietraß“. In: die horen, Nr. 224 (51. Jg., 4/2006)
– Dieter Krusche: „Erläuterungen zu einer fremden literarischen Gattung“. In: Haiku. Japanische Gedichte, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 112008
– Yûji Nawata: „Wasser und Wolken ziehen wie immer dahin.“ In: Durs Grünbein: Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus, Insel Verlag. Frankfurt am Main und Leipzig 2008
– Richard Pietraß: Coronaden, Verlag SchumacherGebler, Dresden 2020
– Ezra Pound: „Leseplan“. In: Ezra Pound: Wort und Weise, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1971
– Andreas Wittbrodt: „Lyrik in der Schule“. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2011
ALTE IM HEIM
für Richard Pietraß
Verwahrt in schmucken Kisten
gespeist aus der großen Tüte
sie die wir niemals vermißten
geknebelt von unserer Güte.
Gerd Adloff
Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie.
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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