SALVE
Für Alexander von Bormann
Der Dichtersammler A von B
Hat Pfeile die Menge im Köcher.
Gern schießt er sich zum Friesentee
Im Hegewald einen Rosenlöcher.
Im Umkreis von hundert Reimen spürt er
Der Trüffelrüffel A von B
Noch den grünsten Rühmkorf in spe
Und ist ihm milder Richter.
Von Vineta bis Ninive
Hält er seine Nußschale trocken
Der Muskatmatrose A von B
Und schürzt die Artischocken.
Der goldne Pfeil versilbert im Köcher.
Beim Löffeltennis im Novemberschnee
Frieren die Einschußlöcher.
Richard Pietraß liest im Mauerpark Berlin 2019 aus dem Band Freigang.
beurlaubt für seine irdische Rolle, erfährt sich Richard Pietraß als Schauender und Grenzgänger seiner Endlichkeit im Unendlichen. Kindsköpfig nähert er sich der Schönheit der Welt, trauert um die verlorenen Gefährten seines Gastspiels in wechselnden Systemen unter den Augen von Stiefvater Staat und Leibmutter Natur.
Verlag Faber & Faber, Klappentext, 2006
Dass die fünf Abteilungen des Bandes durch konzentrierte, höchstens dreisilbige Wortfügungen mit ihren spezifischen Adhäsions- und Kohäsionskräften überschrieben sind, mag der Stringenz der Titelwahl geschuldet sein. Dafür hält sich der Kompositeur in den Gedichten selbst schadlos und verleiht seinen Widerwortbildungen Opulenz. So, wenn die Rede geht: „Machorkas Heimwehschleifen // Sieh den Wegrandpostenstand“, wenn „Stotterwetten der Platanen“ beschworen werden oder wenn die Sonne des Sprechers „Nackenschlagbuckel“ wärmt. Die auffällige Liebe des Dichters zum Kompositum bezeugt Spieltrieb und dialektische Weltsicht gleichermaßen. Denn die Zusammenfügungen eröffnen neue Sinncharaden, wie sie auf Bindungen aufmerksam machen, die man nicht vermutet hätte, kurz: Im Freigang der Worte, der Sinne, der Reflexion sind die Haftungsbedingungen immer schon einbeschlossen. Was das Kompositum zusammenzieht bzw. -sieht, kann dann das Gedicht bestimmt im Formgang und lustvoll in seinen Wendungen entfalten.
Das Titelgedicht nimmt einen Besuch im Antwerpener Tiergarten zum Anlass, die forcierte Denaturierung der Natur und Enthumanisierung der Menschenwelt in die Groteske zu führen. Die Zoogänger – „Maulaffen strömten herdenweis hinein. / Posenjäger warfen ihre Pixelspeere / Auf Pinguin und Schwartenschwein“ – wie das eingehegte Tier – „Noch das Okapi / Erkannt am Strichcode seiner Modelbeine“ – werden in ihrer Rest-Kreatürlichkeit, in ihrem Verfallensein gegenüber technischen Apparaten und künstlichen Paradiesen auf gleicher Ebene betrachtet. Das sprechende Ich nimmt sich nicht aus:
Mißmutig biß ich in die schwarzen Stäbe
Und spürte meinen Raubtierspeichel rinnen.
Die daktylisch beruhigt im Versmaß daherkommenden Schauerlichkeiten der Gefangennahme werden unterstrichen wie konterkariert durch Anrufungen der Lyrikgeschichte und durch Schlusswendungen, die, wie nicht selten in Pietraßens Gedichten, eine versöhnlich-ungefähre Pointe bereithalten. Denn natürlich rekurrieren Verse wie: „Die Flamingos schienen noch zu schlafen / den Kopf im Kleid, ein Bein versteckt / Und seihten schon das trübe Wasser / Und träumten noch, wie Freiheit schmeckt“ auf Stefan Georges „meine weissen ara…“, und natürlich vermögen die ironisierenden Endverse: „Die Löwin zeigt dem Löwen sich geneigt. / Du schläfst im Zug und schürzt die Sehnut“ die scharf beleuchteten Verstörungen nur wenig zu relativieren. Das kunstfertige Verstreben natürlicher und zivilisatorischer Entitäten hat jeher Methode bei Pietraß, es bildete immer schon das Gerüst für die Ausfallschritte, die Unabsehbarkeiten ahnen lassen und damit das Unheimliche ins Gedicht holen. Das Eröffnungsgedicht des Bandes, Freiwild, führt dies nicht nur exemplarisch vor, sondern grundiert gleichsam den gesamten Band:
Einander überlassen, Natur der Natur
Lagen wir im Andrang der Elbe, des Bluts.
Die Kiefer strählte das Blau, und der Falke
Ein gejagter Pfeil, schoß herab
Daß wir wie Schnäbler
Zusammenzuckten, herzschlaglang.
Wo Busch den Baum den Busch begrub
Warn wir uns Jäger, Beute; Flut.
Der gejagte Pfeil des Widerspruchs durchquert alle Gemarkungen. der lyrischen Territorien, die als ,Freiwild‘, ,Totentanz‘, ,Kriegspfad‘, ,Schatzbrief‘ und ,EJShechte’ ausgewiesen werden. ,Totentanz‘ etwa versammelt Tiergedichte, in denen der Mensch als Jäger der Kreatur gegenübertritt, bis er als Vernichter selbst zum Gejagten und als Gejagter zum Selbstvernichter depraviert: „Abendrot kehrt gegen mich den Speer. / In dir beginne ich mich selbst zu morden“, heißt es schneidend in „Blauwal“, das im Übrigen einen bitteren Epilog zum Gedicht „Fontäne“ aus dem Pietraß-Erstling Notausgang aus dem Jahre 1980 bildet. Und fürwahr: Die Kette der Todesarten, die die Gedichte in den Endversen auffädeln, erweist sich als menschengemachte Fessel der Fatalität: „Kreuz ich Deine Zirkelschritte / Rädert dich Asphalt“ („Mistkäfer“), „Dein Schneegebiß macht mich nicht bange. / Es tötet dich mein Silberblick“ („Gorilla“), „Trutz von Wiesenhügel / Geköpft von einem Spaten“ („Maulwurf“). Das Gedicht „Gepard“ wird gerahmt von den Zeilen: „Da schnellst du hin, ein Pfeil aus Sonnenflecken“ und „Kühl sucht eine Kugel dich im Flug.“
Den Flug des Pfeils auf dem ,Kriegspfad‘ verfolgend, lässt eine ,Morgendliche Rede‘ einhalten, die selbstredend auf Brechts „Morgendliche Rede an den Baum Green“ aus der Hauspostille rekurriert. Brechts Respektbezeugung gegenüber dem Baum, dem es gelang, „so hoch heraufzukommen / zwischen den Häusern“, fungiert als freundliches Schattenbild zum Abholzungsszenario, das Pietraß anheim gibt:
Die Morgensonne stach mir ins Genick
Als mir ein Urlaut in die Ohren fuhr.
Es war, als schrie um Hilfe die Natur.
Doch gings nur einer Pappel an den Kragen
Wie hieß es noch in Brechts „Pappel vom Karlsplatz“:
Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz
Daß man sie noch immer hat!
Die wenig trostreichen Auskünfte über das zutiefst gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur, einschließlich seiner eigenen, werden zumeist von einem lyrischen Sprecher gegeben, der sich verantwortlich einbegreift, indem er dezidiert in der ersten Person Singular auftritt. Dieses exemplarische „Ich“, das durch die prosodische Strenge des Versbaus und die vielen intertextuellen Verweise in seiner Gattungsverpflichtung – in literarischer wie anthropologischer Hinsicht – ausgezeichnet erscheint, wird allerdings freigängerisch konterkariert durch Gegenreden individueller Behauptung des Dennoch und Trotzdem:
Da bin ich, mit allen Himmeln gewaschen.
Landregen spült mir den Schalkschädel weich.
Die Löcher wachsen in den Taschen.
Ich singe, also bin ich reich.
Poesie als polyphone Bereicherung des Lebens gegen die eindimensionalen Zurüstungen des Utilitarismus zu halten, ist eine Grundfigur gerade der deutschen Poesie seit Gryphius, die auch Pietraß in allen seinen Schaffensphasen würdigte. Der hochgemute Nachfahre der Romantiker sieht sich als „Bankrotteur (…) / Der seine Baisseblicke weiden ließ“ („Binzer Schatzbrief“), seine „Canossaaktien fallen / in den Bilanzenkeller“ („Halbzeit“). Die Zumutungen der neoliberalen Gesellschaftsseuche hinterlassen ihre Spuren im halb spöttisch, halb melancholisch verdrechselten Vokabular der Marktideologen. Das Dennoch und Trotzdem hakt sich noch in den Liebesgedichten fest, die nicht nur die Genüsse des Erotischen zu singen wissen, sondern auch die Enttäuschungen, Entfremdungen, Verletzungen. Der gejagte Pfeil, hier sind es „Wirrer Arme, wirrer Beine. / Schlangenpfeile her und hin.“ („Die Leviten“)
Binnen- um Endreim, Wortwechsel um Wortdrechsel – mein Neuwortfavorit ist der palimpsestiöse ,Haxenkessel‘ aus „Siegerstraße“ – erschafft der Freigänger Spielräume des Poetischen. Schlusshin bleibt gar der Pfeil im Köcher, wenn wir das dem „Dichtersammler“ Alexander von Bormann entbotene „Salve“ aufnehmen. Das Gedicht endet:
Der goldne Pfeil versilbert im Köcher.
Beim Löffeltennis im Novemberschnee
Frieren die Einschußlöcher.
Heißen wir also die neuen Gedichte von Richard Pietraß willkommen, die auf uns kommen wie die zitierten Verse: Kunstfertig, sybillinisch, tiefenscharf.
Peter Geist, Park, Heft 62, November 2007
– Der Dichter Richard Pietraß, der vor wenigen Wochen seinen 60. Geburtstag feierte, hat sich, aber vor allem seine Leser, mit dem neuen Gedichtband freigang reich beschenkt. Das lyrische Ich des stillen Beobachters und nimmermüden Wortschöpfers genießt die Freiheit einer Landschaft – weiß aber auch um das Gängelband, an das es gebunden ist. In der DDR gab Pietraß die Reihe Poesiealbum heraus. –
„Worte ich bin müd“, heißt es in einem 1982 entstandenen Gedicht von Richard Pietraß aus dem Band Spielball. Und weiter:
Mein Mund so leer.
Trotz der bereits vor mehr als zwanzig Jahren artikulierten Wortmüdigkeit hat Pietraß für seinen neuen Gedichtband freigang genügend Worte gefunden. Schön, dass ihm auch die Fähigkeit nicht abhanden gekommen ist, diese Worte zu nachdenklich stimmenden Versen zu vereinen.
Die Skepsis, von der in der eingangs zitierten Zeile die Rede ist, findet sich auch in den neuen Gedichten wieder, denn der Dichter wird immer wieder an das Stundenglas erinnert – Lebenszeit verrinnt. Aber es hat den Anschein, als würde im Bewusstsein der vergehenden Zeit die verbliebene noch intensiver erlebt werden, als wäre Pietraß noch offener für die Schauspiele, die ihm Fauna und Flora eröffnen.
Stumm ereignet sich das Erblühen der Natur und von schweigsamer Gelassenheit sind die Tiere, wenn sie sich in den zoologischen Gärten zeigen. Diese stummen Zeugen nimmt Pietraß in den neuen Gedichten in Augenschein. Angesichts der Schauspiele, die der Dichter auf seinen Freigängen erlebt, erscheint das eigene dichterische Tun fragwürdig. Bedarf es noch der Worte, wo es doch der Natur so unnachahmlich gelingt, beredt im Wortlosen zu sein?
Der Freigang offenbart auch seine Doppelbedeutung. Zwar ist das lyrische Ich, das sich in die weite Landschaft begibt und Städte bereist, frei, aber es ist zugleich gefangen. Entwichen aus so mancher Zelle spürt es Zwänge und weiß um das Gängelband, an das es gebunden ist. Der ins Offene führende Freigang – Pietraß fordert indirekt auch dazu auf, ihn zurückzuverfolgen. Als Gefangener der eigenen Herkunft trägt der Freigänger seine Zelle mit sich herum, er wird sie nicht los, wo immer er auch weilt.
Die Gedichtbände von Pietraß haben programmatische Einworttitel: Notausgang (1980), Freiheitsmuseum (1982) Spielball (1987) und Schattenwirtschaft (2002). Sie korrespondieren miteinander und erklären sich gegenseitig. In dieses vom Autor geknüpfte Titelnetz fügt sich freigang nahtlos ein.
Der langjährige Herausgeber des Poesiealbums, der vor wenigen Wochen seinen 60. Geburtstag feierte, hat sich, aber vor allem seine Leser, mit dem neuen Gedichtband reich beschenkt. Pietraß ist ein stiller Beobachter und nimmermüder Wortschöpfer, dessen „Schalkschädel“ immer gut ist für anregende Hintersinnigkeiten.
Wenn es etwas gibt, das aber so gar nicht in unsere prosaische, nur an die wirtschaftliche Verwertbarkeit denkende Zeit paßt, in der Telefongespräche mit Kontakt verwechselt werden, dann ist das Lyrik. Lyrik ist vielleicht unser letzter Luxus; vollkommen überflüssig fürs Überleben; unentbehrlich fürs Leben.
Zugegeben: ich selbst habe mit Lyrik und Gedichten von Hause aus auch nicht viel am Hut – erst als ich vor Jahren „Der Club der toten Dichter“ gesehen hatte, flackerte meine Liebe zur Lyrik auf, um jedoch bald wieder zu erlöschen, weil viel zuviele meinten, nur möglichst unverständliche Sätze in tunlichst sinnfreie Stücke zerhacken zu brauchen, untereinander zu schreiben, den Kommastreuer drüber – und fertig wäre das Gedicht. Erst durch freigang, dem Gedichtband des 60jährigen Schreyahn-Stipendiaten Richard Pietraß, ist meine Liebe zur Lyrik neu entflammt.
Es geht darin um alles, um endgültigen Abschied, um das Schicksal von Toastkrümeln, um Erich Mielkes Liebe und um Ampfersuppe, um Bären, Bier und Waterloo – mit einem Wort: es geht immer um Leben und Tod, so wie es auch im Leben selbst in jeder Sekunde um Leben und Tod geht.
Pietraß macht nicht diese Art Lyrik, die einem die Poetenseele dauernd um die Ohren haut; seine Gedichte sind persönlich aber nicht privat, berühren, ohne aufdringlich zu sein. Die Wehmut, die bisweilen in ihnen steckt, wird nie unerträglich, weil stets kindsköpfig ringelnatziger Witz durch das brillante Wortgewebe flimmert. Das ist richtig gutes Handwerk, was Richard Pietraß da abliefert; durchgearbeitete, gefeilte, konzentrierte Sprache, die das Mühsame der Arbeit nicht dem Leser aufhalst, sondern in all ihrer Strenge leicht bleibt. Und in fast jedem Gedicht steckt eine – mindestens sprachliche – Überraschung. Aus Sachsen stammend, in Berlin lebend, versöhnt Pietraß preußische Disziplin mit sächsischer Lebenslust.
Und manches verstehe ich nicht, oder noch nicht. Aber das ist das Schöne an Lyrik: sie erschließt sich nicht jedem und nicht immer sofort. Man muß ihr Zeit geben wie einer guten Suppe, die auch nicht zu beeilen ist.
Gegen-Stand
„Und ich sah des Lebens dünne Gärschicht / Ein Seidenlaken überm Nichts.“ – „Still stand ich zwischen allen Fronten…“ – „Ich singe, also bin ich reich.“ Es gibt wohl kaum noch einen deutschen Dichter der Gegenwart, der so oft ich sagt wie Richard Pietraß. Das ist immer noch und immer wieder verdächtig. Der Wiener Moderne, um sie pars pro toto zu nehmen, galt das Ich als ein durch ein Sprachpartikel zusammengehaltenes Bündel von Empfindungskomplexen. „Wir besitzen unser Selbst nicht…“, bemerkte Hofmannsthal in dem Dialog „Über Gedichte“ (1904).
Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen.
Die Skepsis gegenüber dem Selbst als Besitz und fester Größe stimulierte – über die Stimmungskunst des frühen Hofmannsthal hinaus – die Suche danach, woraus sich das Ich eigentlich zusammensetzt, aus welchen sozialen Rollen, psychischen Mustern, Sprachspielen… Sie richtete sich gegen die überkommene dichterische Praxis eines Egos, das sich als Herr im Hause fühlte und seiner Gedanken und Gefühle sicher war. So gesehen, ist das Ich in Pietraß’ Gedichten keineswegs ein Widerpart der Moderne, denn es ist keine fix und fertige Größe, sondern eine prekäre Existenz, die eintaucht in alle Wasser der Welt.
Andererseits sucht es den Kopf oben zu halten: das Ich als Wider-Stand – insofern mehr „als ein Taubenschlag“ (Hofmannsthal) – zu jeglicher Doktrin und Fremdbestimmung. Für das an ästhetischer Souveränität interessierte Schreiben in der DDR war charakteristisch – und diesem ist Pietraß, geboren 1946, verpflichtet –, daß sich bis zum Beginn der siebziger Jahre ein gewisser Grundkonsens hergestellt hatte: „Schreiben als Befreiung aus Vormundschaft“ (Peter Geist), mithin Ich-Behauptung, die sich durchaus als demonstrativer Zweifelsfall, in der Artikulation gebrochner Gefühle kundtun konnte.
Das lyrische Ich – eine Binsenweisheit, also unverzichtbar – ist nicht das empirische Ich mit Bauch und Bart, sondern ein Entwurf, eine Versuchsperson, eine Kunstfigur. Wiederum: Wenn es auch nicht das empirische ist, so ist es doch sein Blutsverwandter. Zumindest für Pietraß’ Gedichte trifft das zu.
Fächer
Freigang setzt die Reihe von Bänden fort, mit denen Pietraß über die Gedichtproduktion eines bestimmten Zeitraums Rechenschaft gibt: Notausgang (1980); Freiheitsmuseum (1982); Spielball (1987); Schattenwirtschaft (2002). Der Band gliedert sich in die Abschnitte „Freiwild“, „Totentanz“, „Kriegspfad“, „Schatzbrief“ und „Eishechte“: Akzentuierungen innerhalb einer chronologischen Anordnung der von 2000 bis 2006 entstandenen Gedichte. Sie bringt Abwechslung und schafft dem Gelegenheitsgedicht Raum, wie es sich beispielsweise Reisen verdankt („Antwerper Sonntag“ oder „Empfang“ beim Fürsten von und zu Liechtenstein, ein Text, der die Tradition des Herrscherlobs mit freundlicher Ironie aufruft).
Die Titel sind Komposita. Ihnen eignet ein metaphorischer Mehrwert. Und was für die Metapher gilt – sie vereint Bedeutungen, die erst im Nacheinander ausgelegt werden können –, trifft erst recht fürs Gedicht zu. Es ist ein Wink mit dem Fächer. Was auf diesem zu sehen ist, kann im Augenblick wohl geahnt, nicht aber in Gänze wahrgenommen werden. Das ästhetische Bild ist vielfältig, kann und muß auseinander gefaltet werden. Der „Wink“ stammt von Goethe; das Gedicht aus dem „Westöstlichen Divan“ bezeichnet das Wort als Fächer:
Denn, daß ein Wort nicht einfach gelte,
Das müßte sich wohl von selbst verstehn.
Doppelnatur
Freigang ist solch ein Fächer. Er lenkt den Blick auf Pietraß’ poetische Eigenart, wie sie sich im literarischen Feld der DDR herausbildete. Der Begriff des „aufrechten Gangs“, von Ernst Bloch, dem Hoffnungsphilosophen, bezogen, war nicht nur für Volker Braun – 1979 erschien dessen Gedichtband Training des aufrechten Gangs – ein Signalwort. Das mit ihm aufgerufene utopische Potential wird von Pietraß bewahrt und zugleich relativiert. Denn Freigang ist nicht schlechthin freier Gang, sondern eine zeitweilige Angelegenheit.
Der Begriff legt nahe: Lebensbedingungen sind Haft-Bedingungen. Das Gesellschaftlich-Soziale ist eine Dimension; die andere ist die natürlich-kreatürliche. Der Mensch ist, wie es im Gedicht „Vor Tag“ über den Baum heißt, ein „kosmischer Nomade“, ein Freigänger im Kosmos, einzigartig. Freigang wird zum Gleichnis individuellen, also befristeten Lebens, das aus dem Dunkel ins Freie und Helle tritt, um wieder im Dunkel zu verschwinden.
Diese existentielle Bestimmung, diese Natur-Gebundenheit wird in Pietraß’ Gedichten hautnah erlebt. Auf Gedeih und Verderb ist der Mensch ein Naturwesen – das der Natur gegenübertritt. Der dadurch möglichen Hybris, mit auftrumpfender Technokratie und der Ideologie des Machbaren Herrschaft über die Natur zu beanspruchen, galt insbesondere seit dem Gedichtband Spielball die Kritik des Dichters. (Das Buch erschien in der DDR nur unter Schwierigkeiten und wurde kontrovers diskutiert.) Explizit oder immanent wird eine Konzeption attackiert, die Fortschritt als ständige grenzenlose Verbesserung und Höherentwicklung begreift. Gegen ein gleichermaßen reduziertes wie idealisiertes soziologisches Menschenbild werden biologische und ethologische Paradigmen aufgerufen und fatale Evolutionsabläufe und -mechanismen in den Blick gerückt.
Freiwild
Naturzerstörung wird thematisiert in Gedichten wie „Die ferne Flut“, in dem Naturkatastrophe und Medienereignis sich überlagern; „Hornoer Berg“ als Abgesang auf ein Dorf, das der Braunkohle wegen von der Landkarte verschwindet; „Der junge Rhein“ als Gegenstück zum tradierten Stromgedicht in der deutschen Lyrik, insofern dem Symbol des Majestätischen das Bild des drangsalierten und gefesselten Flusses entgegengehalten wird. Der Vers „… als schrie um Hilfe die Natur“ – das Gedicht „Morgendliche Rede“ imaginiert das Ich als abgesägten Baum – könnte als Motto auch über dem Zyklus „Totentanz“ stehen.
Die gereimten strophischen Gedichte bieten eine überraschende Sicht des alten Motivs. Der Mensch tritt hier als täppischer oder skrupelloser Vernichter auf und bringt Fledermaus, Mistkäfer, Gepard, Gorilla, Blatthuhn, Maulwurf und Blauwal den Tod.
Abendrot kehrt gegen mich den Speer.
In dir beginne ich mich selbst zu morden.
Ich Tropfen trink die Ozeane leer
Und fahre hin im Schuppenpanzer meiner Orden.
(„Der Blauwal“)
Der unaufhebbare Zusammenhang von Leben und Tod, wie ihn das „Totentanz“-Motiv beschwört, erhält hier seine (natur)geschichtlich globale Dimension.
„Freiwild“, das Eröffnungsgedicht des Bandes, folgt im Gebrauch des Kompositums freilich nicht der herrschenden Sprachpraxis (und solche Neu- und Unideutungen sind charakteristisch für den Freigang von Pietraß’ Sprache). Es ist ein Liebesgedicht, das die Liebenden („Natur der Natur“) im gegenseitigen Einverständnis Jäger und Beute sein läßt. Die Doppelnatur des Menschen wird bedacht, das Doppelwesen der Natur, die den Menschen bedroht (oder gar vernichtet) und die ihn umfängt. Das in Hexametern verfaßte Gedicht „Brückenkopf“ wendet die militärische Bedeutung ins Friedliche. Die Schwalben, die ihre Nester an einer Brücke bauen, sind ein Brückenkopf des Lebens:
Schwalben unter der Brücke, überm Wasser, unterm Asphalt
Schlamm, vermengt mit Spucke, Zartes an Hartes gekrallt.
Liebesmahl
Der befristete Freigang wird pointiert von einem Vierzeiler ins Bild gesetzt:
Wir kommen von Nichts: wir gehen ins Nichts:
Staub, der sich an Staub rieb.
Vorher nichts. Nachher nichts.
Inzwischen hab ich dich lieb.
Gedichte wie „Kopfstand“, „Die Wiederwahl“, „Das Erwachen“, „Die Leviten“ (Freigang als Fremdgehen) messen die Spannweite der Liebe aus zwischen Begehren und Versagen, Erfüllung und Enttäuschung, Vereinigung und Scheidung. Nicht Nächstenliebe preisen sie, sondern Liebe zur Allernächsten: Beispiele einer schönen sinnlichen Liebes-Kunst, die ihren Gegenstand phantasievoll umspielt, ihre Bilder erotisch auflädt.
Versehrtheit, Verfall, Vergänglichkeit sind die Kehrseite der Lebensprallheit.
Schonungslos wird schön Gewachsenes mit Mißwuchs konfrontiert. Das Gedicht „Die Mißwüchsigen“ verweigert sich der Beschönigung und wohlfeilem Trost. Dem Voyeurismus, dem in der Beobachtung von Behinderten im Botanischen Garten nicht zu entgehen ist, entgegnet der Schluß des Gedichts: Das lyrische Ich, der schamlose Betrachter, denunziert sich selbst als unbrüderlich mit seinem auf Abel fallenden Kain-Blick, den Bruder fällenden Blick.
Der Tod führt den Menschen am „Gängelband“:
Du führst mich, Tod, an langer
Leine. Ich schick mich Zeilen
schindend drein. Wenn ich, mich windend
innehalte, holst du die Leine
eine Elle ein.
Dem Totengedenken gelten die Gedichte „Die frühen Gräber“ (Richard Leising und Karl Mickel erinnernd), „Der Obersee“ (für Christian Borchert) und „Abschied“ (der Schwester gewidmet). Im Gedicht „Suppenruf“ wird der Dichter zum orphischen Gastgeber. Die Toten werden zu Tisch gebeten zum Auferstehungsmahl, die Sippe zur Suppe:
Hört auf zu sterben, heute gibt es Ampfersuppe.
Kartoffeln und Eier brachte ich vom Markt.
Haltet ein! Reinigt Teller und Löffel. Seht
die Suppe dampfen, liebe Brüder, süße Schwester.
Schattenwirtschaft hieß Pietraß’ vorangegangener Gedichtband. Die Titelmetapher reicht vom existentiellen Aspekt der Verschränkung von Leben und Tod bis zur gesellschaftlich-zeitkritischen Dimension. Sie kann darüber hinaus als Sinnbild für Dichtung gelten. In Schillers Gedicht „Das Reich der Schatten“ ist nicht das Reich der Toten gemeint, wenn es heißt:
Fliehet aus dem engen dumpfen Leben
In der Schönheit Schattenreich!
Die Kunst wird als gesteigertes Leben dem gewöhnlichen Dasein entgegengestellt, dem damit unter der Hand eine mindere Existenz bescheinigt wird. Auch ohne es idealistisch auf die Spitze zu treiben, kann Schattenwirtschaft als Metapher für das dichterische Wort gelten, das menschliches Wirtschaften geisterhaft begleitet und als seine gesteigerte Erfahrung erlebt werden kann. Schon in Notausgang heißt es von ihm:
Immer ist es
der Schatten der Dinge
Zugleich gilt: Die Dinge
begegnen dem Wort
und gehen fortan
im Schatten
(„Das Wort“)
Gangarten
Daß Freigang ein durchgängiges Motiv im Werk von Pietraß ist, ließe sich mit vielen Beispielen belegen. Es dürfte wenig im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit sein, daß er wie kaum ein anderer der ostdeutschen Poeten das Leben mit der Berliner Mauer und damit die Misere des geteilten Landes in metaphorisch-atmosphärisch genauen Befunden zur Sprache brachte. Der 1998 in der Mariannenpresse erschienene Band Grenzfriedhof enthält diese – im weiten Sinne verstandenen – Mauer-Gedichte.
Das Eingeschlossensein der DDR-Bürger und die bescheidenen Möglichkeiten, ihm zu entkommen, haben Pietraß schon früh beschäftigt. Die Texte dazu, die teils in der DDR veröffentlicht werden konnten, teils unveröffentlicht bleiben mußten, sind ein eindringliches Zeugnis ihrer Psychohistorie. Dem Dasein im „Sumpf der Zwecke“ („Fremd“) und in der „Stickkammer / Getäuschter Hoffnung“ („Berliner Hof“) galt es zu widerstehen und – wenn auch nur zeitweilig – zu entkommen, nicht zuletzt durch den „Notausgang“ des Gedichts.
Freigang bedeutet Befreiung von drückenden Konventionen. Das Aber des Lebensmutes wurde beschworen, dem Einengenden der Verhältnisse der widersetzliche Lebensentwurf entgegengehalten:
Wir bauen kein Nest, keine Zelle des Staats.
Am Rande, am Rand ist immer Platz.
Am Rande lebend, sind wir hinten und vorn.
Die Spanne dazwischen heißt tragende Norm.
(„Frei“, 1977; aus dem Gedichtband Freiheitsmuseum). Zum anderen sahen sich Mut zum Eigenen und Übermut immer wieder im „Freilauf“ gebremst:
Läufe hindern mich: zu weit zu gehen.
Ich kann ihr lidloses Auge sehen.
(„Homo novus“, ebd.).
Das Programm des Freigangs wird auch gegenüber neuen gesellschaftlichen Verhältnissen behauptet, wie es das in der Tradition der Vagantenpoesie stehende Gedicht „Halbzeit“ demonstriert. Gemessen an den üblichen Vorstellungen von Wohlstand und Erfolg, bekennt sich der Dichter trotzig als Loser:
Da bin ich, mit allen Himmeln gewaschen.
Landregen spült mir den Schalkschädel weich.
Die Löcher wachsen in den Taschen.
Ich singe, also bin ich reich.
Nicht zu vergessen schließlich: Freigang ist die Gegenbewegung zum Gewaltmarsch, als den sich Geschichte vornehmlich darbietet. Ihre hinterlassenen Zeugnisse und Spuren, das „Brutrevier der Schattenalgen“, ruinierte Macht des Realsozialismus und hinterlassene Ruinen werden aufgesucht im Gedicht „Kriegspfad“. Hier freilich und gottseidank ist das „Kriegsbeil“ begraben, mit Verwunderung und Dank wird es vermerkt.
Kunstgriff
Kommen wir zurück auf das Ich, das spricht. Sein Erfahrungsmaterial bezieht es aus Leben und Erleben des Autors. Sehr oft gilt: Kein Gedicht ohne Erlebnis – Erlebnis als unmittelbare Begegnung mit der Realität verstanden, das einen charakteristischen Zug der Lebenswirklichkeit aufscheinen läßt. Der Terminus Erlebnislyrik ist eine fast außer Gebrauch geratene Kategorie. Modifiziert, kann sie jedoch dienlich sein, der poetischen Eigenart Pietraß’ näherzukommen. Denn es bleibt nicht beim punktuellen Erlebensfall.
Pietraß legt gleichsam Erlebnisstrecken an, Naturlehrpfade: das Ich als Vor-Gänger, auf dessen Spuren wir Sinnlichkeit und Sinn der menschlichen Natur erfahren. Langgedichte wie „Die untere Oder“, „Binzer Schatzbrief“, „Die Ostersee“ können hierfür als Exempel stehen. Oder das Titelgedicht „Freigang“, paradoxerweise ein Zoogedicht, in dem Tiere besichtigt werden, die nur davon träumen können, „wie die Freiheit schmeckt“.
In dem Panorama „Mein Waterloo“ wird das historische Schlachtfeld besucht, auf dem Napoleons Niederlage besiegelt wurde. Kriegsgetümmel damals und touristische Schlacht heute werden phantasmagorisch überblendet. Alles Gedankliche wird ins Beschaubare und Begehbare übersetzt: das Gedicht als Bilderpfad.
Kein Gedicht ohne Erlebnis. Das ist nur die halbe Wahrheit. Hinzugefügt werden muß sofort: Kein Gedicht ohne Spracherlebnis. Pietraß folgt Goethes Devise aus dem Westöstlichen Divan. „Dichten ist ein Übermut…“ („Derb und tüchtig“). Er nutzt die Geschenke der Sprache, folgt ihrer Magie, welche das die Anklangsnerven Reizende und das geistig Sinnfällige zusammenbringt oder gar -zwingt, läßt sich in freier Assoziation und Sprachlautlust zu übermütigen Eskapaden anstacheln.
Des Doppelbechers pappne Lippe
Preßte foppend meinen Fleimemund.
(„Binzer Schatzbrief“)
Ich schürzte meinen Sülzemund
Schmatzte, patzte, kam zum Satzausgleich.
(„Crédit Lyonnais“ – über eine in Konkurrenz mit anderen Poeten veranstaltete Dichterlesung in Lyon).
Der Spieltrieb entfaltet sich durch die Regel. Pietraß’ Gedicht weiß um die Tradition, ob es sich ihr nähert oder sich von ihr entfernt. Das lockere wie innige Verhältnis zu ihr zeigt sich im zwanglosen Umgang mit dem Reim. Er ist ein Sinnbild für das Sichsuchen und Sichfinden in Liebe. Er wird nicht erzwungen; stellt er sich ein, wird er willkommen geheißen.
Der Reim ist nur der Sprache Gunst
nicht nebenher noch eine Kunst.
(Karl Kraus)
Im Deutschen ist der Reim beziehungsweise der Endreim ein recht aufdringlicher Geselle. Dagegen wird der „unregelmäßige, über Strophenstock und -stein synkopisch springende Wanderreim“, so der Autor in einem Gespräch, ins Feld geführt. Da die Reime in unterschiedlichen Takt-Abständen einander folgen, tauchen sie gleichsam überraschend im Gedicht auf, wodurch selbst abgegriffene Reimwörter neuen Glanz gewinnen.
Diese Reimtechnik findet in „Der junge Rhein“ sinnvolle Verwendung. Ein Kabinettstückchen ist das vor allem mit Anfangsreimen arbeitende Gedicht „Dieb“. Seine Mechanik entspricht der Perfektion des Diebs; jeder Griff sitzt:
Umstreicht unsern Schlaf.
Lehnt an der Tür
Dehnt ihren Spalt
Dreht das Scharnier
Geht an die Wäsche
Wühlt in den Taschen
Fühlt meine Mäuse
Kriegt sie zu fassen
Schmiegt sich ins Dunkel
Weckt meinen Wahn
Schreckundschrei
Entweicht wie er kam
Teststrecke
Das Gedicht ist ein Freigang, ein Sich-Offenbaren; das lyrische Ich liebt und leidet, begehrt und verabscheut, jubelt und klagt stellvertretend. Ein Freigang mit Auflagen: Die Kunstfigur als Blutsverwandten begleitend, verlassen wir gewohnte Bahnen und sind angehalten, unsere Empfindungen angesichts verwickelt-verwirrten Welttreibens im Auf und Ab von Selbstvergewisserung und Selbstzweifel zu testen.
Jürgen Engler, die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006
– Ein Gespräch mit Richard Pietraß. –
Jürgen Engler: Das hier abgedruckte Gedicht „Korridor“ stammt aus dem Jahr 1979 und ist bisher unveröffentlicht geblieben. Warum?
KORRIDOR
Jemandsland.
aaaaaaaaaaaaNiemandsland.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJemandsland.
Zwischen Stein
aaaaaaaaaaaaaund Draht,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadem Unterstand
Metallischer Blicke,
aaaaaaaaaaaaaaaaaim Klicken des Hahn
Am Hundequadrat,
aaaaaaaaaaaaaaaaadem nicht mehr bestückten.
Nur Verrückte
aaaaaaaaaaaaazwischen Gärten,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaTürmen,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGüterwagen
Rechnen sich
aaaaaaaaaaaahier was aus.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Laubenöfen
Spucken Rauch.
aaaaaaaaaaaaaaTürmst du mir,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabrenn ich dir
Eine
aaaain das scheue Fell.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaWisse,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaich stell
Dich noch vor
aaaaaaaaaaader Wand.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSpitzmaus,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaratzschnell
Im Schatten
aaaaaaaaaarumpelnder
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaapumpelnder Schleuderwagen,
Magisch versiegelt.
aaaaaaaaaaaaaaaaHahnentriegelt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaStudienbewerber
Aus Schmölln
aaaaaaaaaaaund Greifenhagen,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Hand
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaam Abzugshahn.
Einmal,
aaaaaain Not,
aaaaaaaaaaaakrähten hier Bremsen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDa hielten
Reisende
aaaaaaaaReisende
aaaaaaaaaaaaaaaan Hosen und Hemden
Richard Pietraß: In der Festung DDR waren Grenzgedichte Tabugedichte. Hatte man deren mehrere, konnte man sie unmöglich alle in ein Manuskript bringen, ohne als Provokateur dazustehen. Immerhin sind in Notausgang und Freiheitsmuseum Gedichte wie „Drachensteigen“, „Annexion“, „Grenzfriedhof“, „Küste“, „Das Wäldchen“ und „Vom Mündel“ erschienen. Für andere wie „Sprengel“ und „Böser Traum“ mußte erst die Wende kommen. Sie wurden Ende 1989 nachgesetzt und noch in das Auswahlbändchen Weltkind aufgenommen, welches als eines der letzten Leipziger Reclambücher vor Einführung der D-Mark erschien.
„Korridor“ war für unsere Verhältnisse zu deutlich. Ende 1989 hatte ich es einfach vergessen, genauso wie einige Jahre später, als ich in der Kreuzberger Mariannenpresse Grenzfriedhof, ein mit Original-Lithografien versehenes Buch mit meinen Mauergedichten herausbrachte. Dafür hatte ich, zehn Jahre nach dem Mauerfall, sogar ein neues schreiben müssen. Nun habe ich es in meinen Mappen und Kartons nicht mehr finden können, nur noch als Titel in einem Jahresverzeichnis. Aber ich konnte es erstaunlich gut aus dem Gedächtnis rekonstruieren, so fest hat es sich mir eingeprägt.
Die kunstgeflickte Mottenfraßstelle – wird sie bemerkt werden? – harrt des Wiederauftauchens des verkramten Blatts. Wobei ich nicht sicher bin, welche Fassung sich behaupten wird.
Engler: Freigang, in diesem Jahr erschienen, setzt die Reihe von Bänden fort, die über die Gedichtproduktion eines bestimmten Zeitraums Rechenschaft geben: Notausgang (1980), Freiheitsmuseum (1982), Spielball (1987) und Schattenwirtschaft (2002). Zwischen den beiden zuletzt genannten besteht eine große Lücke (wobei man hinzufügen muß, daß in diesem Zeitraum schöne Sammelbände bereits vorhandener Texte erschienen). Dennoch: Was sind die Gründe für diesen Abstand?
Pietraß: Zunächst die Erfahrungen der Wende mit ihrer Umwertung aller Werte und dem Zusammenbruch beziehungsweise dem Schrumpfen der meisten ostdeutschen Verlage. Aufbau bestand zwar weiter, hat aber nach seiner komplizierten Privatisierung bis auf drei, vier Ausnahmen seinen Dichtern den Stuhl vor die Tür gesetzt. Mir widerfuhr dies spät, weil ich erst zehn Jahre nach dem Mauerfall mit einem neuen Gedichtband kam. Die Lektorin verdrehte die Augen, und es dauerte nicht lange bis zum kurzen Gespräch zum klammen Abschied. Vergrößert wurde die Lücke dadurch, daß ich schon im letzten DDR-Jahr kein Gedicht mehr geschrieben hatte und ebenso in den beiden ersten Jahren nach der Wende. War ersteres eine unmerkliche Ermüdung, kam mit dem Umsturz eine Phase, in der ich meine Kraft dafür brauchte, Zeuge sich überstürzender Ereignisse zu sein. So war ich eher Strudel als Sprudel: ein schwarzes Loch.
Engler: Das politische, soziale, auch Leibhaft-existentielle Bedrängtsein und Eingeengtsein einerseits und der Wunsch andererseits, dem zu entkommen, sind thematisch und motivlich eine Konstante in deinen Texten. Insofern ist Freigang – die Metapher verweist ja immer auch auf das Haftende, uns Anhaftende, also unseren Freigang und unsere Freiheit Einschränkende – eine weitere Entfaltung dieser vielfältigen Daseinszusammenhänge. Wie siehst du es selbst, das Verhältnis von Kontinuität und möglicherweise neuen Akzenten?
Pietraß: Meine Obsessionen kenne ich nicht in ihrem Ausmaß, ich ahne sie nur als brodelnden Teil meines Magmas. Dessen Ausbrüche reifen wieder und wieder heran. Schielten die Titel meiner ersten Gedichtbände Notausgang und Freiheitsmuseum auf das Druckventil, die Fluchtschleuse, den Winkelzug sowie auf das Museum als Vitrinensaal unseres Strebens, setzt Freigang mich in Bewegung, läßt er mich eigene Schritte tun. Erstaunt erkenne ich mich als Handelnden; freilich eingeschränkt im Rahmen der conditio humana.
Engler: Die Antwort, daß du diesen einen Text einfach übersehen und vergessen hast, bringt mich zu der Frage nach dem Verhältnis von Entwürfen und ausgeführten Texten. Wie entstehen deine Gedichte? Sie basieren sehr häufig auf einem greifbaren Erlebnis und wirken, als seien sie eine spontane Reaktion darauf Aber wahrscheinlich täuscht der Eindruck und sie sind das Ergebnis eines – im einzelnen oft mühevollen – Arbeitsprozesses?
Pietraß: Obwohl ich Vision höher schätze als Supervision, verdanke ich die meisten meiner Gedichte Erlebnissen, deren über sich selbst hinaus Weisendes ich erkenne und erfahrbar zu machen suche. Zugleich versuche ich, das Geheimnis zu wahren, das dem Gedicht Magie und Zauber verleiht. Mit anderen Worten: Das Erlebnis schenkt die Strecke, die Gesichte bringen sie zum Leuchten. Mühe? Der Schliff.
Engler: Nehmen wir zum Beispiel das Gedicht „Die Ostersee“. Das Wortspiel im Titel verrät es sogleich: Der Spaziergang an der Ostsee ist ein Osterspaziergang. Am Ende steht das Wort. Steht am Anfang also der tatsächliche Spaziergang (die Spaziergänge)? Durch die Macht des Wortes – durch Binnenreime, Assonanzen, Allusionen – reiht sich Vers an Vers. Aber es bedarf eben zuerst – „Sieh nur sieh“ heißt es bei Goethe – eines fassungsreichen Reservoirs an Wahrnehmungen?
Pietraß: Du bist mir dicht auf den Vers-Fersen. Tatsächlich hatte ich, als ich vor drei Jahren über Ostern auf Rügen war, Gelegenheit, angespornt durch eine mittägliche Grilleinladung nach Binz, meinen Gastweg von meiner Selliner Pension der Nase nach über das vorfrühlingshafte Hochufer zu nehmen. Daß dies zugleich ein Osterspaziergang war, beflügelte mich und steckte mir Licht um Licht auf, so daß ich mehrere Baumstümpfe brauchte, die andrängende Fülle von Einflüsterungen zu notieren und den schnell verstopften Fabulierspeicher freizumachen für immer Neues. So hinkte ich hin, als Diener zweier Herren: gepeitscht vom bürgerlichen Versprechen der Pünktlichkeit, irrgeführt vom sonnengezündeten Wortfeuerwerk. Bilder wie das der schaumgebornen Lämmer tauchten aus dem geschauten Moment. Selbst das ermüdende Auf und Ab wanderte mäandernd noch ins dünnschalige Ei des Gedichts.
Engler: Ein parodistischer Umgang mit der Tradition zeigt sich in Anspielungen auf (zumindest für Lyrikleser) geflügelte Worte: „Die Burg des Bibers / mit dem Stiefel suchend“ („Elbabend“ – Goethe: „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“); „Aufstand; welcher lange schlief.“ („Der Sturm“ – Georg Heym: „Der Krieg“); „Fremd streich ich ab…“ („Hornoer Berg“ – Wilhelm Müller: „Fremd zieh ich aus…“). Manchmal bilden sie den Ausgangspunkt des literarischen Spiels. Wohlgemerkt: Sie sind nicht die Keimzelle des Gedichts. nicht der Anlaß, wohl aber der Anlasser, damit das Ganze in Schwung kommt. Oder?
Pietraß: Zitate sind Startschüsse, Grußböller, Türöffner und nachwachsende Rohstoffe. Die Reibung an der Vorlage schafft die Betriebstemperatur, schlägt den Funken und läßt das Gedicht anspringen. Das verdichtete Erlebnis explodiert kontrolliert, verbrennt den Anlaß und stößt die Textwolke aus.
Engler: Erstmalig verwendest du die Form des Haikus. Warum erst jetzt, denn du warst erstens stets vom Sein und Geschehen der Natur fasziniert und hast zweitens immer auch schon den Langgedichten medaillonartige Kurzgedichte zur Seite gestellt? Und es fällt auf, daß du dem vorgegebenen Silbenschema 5/7/5 nicht sklavisch folgst.
Pietraß: Haikus kenne ich seit meinen Studententagen. Manfred Hausmanns Sammlung japanischer Gedichte Liebe, Tod und Vollmondnächte, um 1950 im Westen erschienen und wenig später bereits im zigsten Tausend vorliegend, hat mich als Leihgabe meiner Schwester über die Jahre begleitet, ohne daß ich auf den Gedanken verfallen wäre, es den fernen Meistern nachtun zu wollen. Zu exotisch und buddhistisch verwurzelt schienen mir ihre kanongepreßten Seelenblüten. Sie waren für mich eine Schule der Empfindsamkeit: unerreichbar, aber verfeinernd.
Erst als ich nun, vierzig Jahre später, in diesem Winter und Frühling, eine Reihe kleiner Naturfreuden hatte, kostbar und vergänglich wie im Dunkel entflammte Zündhölzer, besann ich mich auf die schlummernde Begegnung und begann mit dem Versuch, jene Momente in diese anmutige Fassung zu fügen. Da stand ich mit meiner Sterntalerschürze und erlebte das Glück von Himmelsgeschenken. Erst jetzt studierte ich, meine Mühen begleitend, das Wesen des Haikus und ermunterte im überschäumenden Blühen auch meine Leipziger Studenten, wie Bartenwale auf Krillfang zu gehen.
Die Ergebnisse reichten von Verweigerung bis zu erstaunlichen Gespürbeweisen für diese faszinierenden Gebilde, die, dadurch geschwächt, in Laienzirkeln Mode gewesen zu sein, doch erstaunlich robust sind. In Japan sind Haikus Volkssport mit pyramidaler Spitze. Die Silbenzahl ist ideale Vorgabe, ich scheue mich aber nicht, geringfügig abzuweichen, wenn Kraft und Natürlichkeit es zu fordern scheinen. Lies H.C. Artmanns „Nachtwindsucher“ und Tomas Tranströmers Dreizeiler aus seiner Zeit als Psychologe in einem Jugendgefängnis, und du wirst sehen, daß sie das Haiku in Europa ansässig gemacht und mit ihm den Elchtest bestanden haben.
Engler: Deine Bücher sind nach der Wende in unterschiedlichen Verlagen erschienen. Als Moderator der Reihe Dichterleben im Berliner Brecht-Haus und als Sekretär der Klasse Literatur der in Dresden beheimateten Sächsischen Akademie der Künste bist du mit dem Literaturbetrieb vertraut. Wie sieht es, wenn du auf die vergangenen 15 Jahre zurückschaust, mit den Produktions- oder besser: Distributionsbedingungen für die poetische Produktion aus? Sind sie besser oder schlechter geworden oder im wesentlichen gleich geblieben?
Pietraß: Die Klage um das Elend der Poesie ist so alt wie die Dichtung selbst. Dennoch verjüngt sie sich ständig und strahlt wie am ersten Tag. Vielleicht ist die materielle Demütigung ihr grausamer Jungbrunnen. Trotzdem wollen meine Gedichte und ich geliebt sein, bedürfen wir eines Echos, nicht zu verkümmern. Ohne eine gewisse Breite sind wir gefährdet wie ein Genpool unterhalb einer kritischen Größe. Darum braucht die Dichtung, jenseits der Existenzennot ihrer Hervorbringer, auch ideelle Förderung, nach dürren wenigstens normale Jahre.
Ich weiß nicht, wer und was zur Zeit warum und wie auf der Strecke bleibt.
Ich weiß aber, daß jeder Gedichtband von Rang ein Ereignis ist und gefeiert werden sollte. Hier klafft eine Lücke zur erzählenden Literatur, derer sich unsere Päpste und Päpstinnen samt ihren Kardinälen mit ungleich größerer Hingabe annehmen. Die DDR tätschelte und kartätschte ihr Weniges, das viel war. Nun darbt unser gemeinsamer Reichtum. Ich habe mein Leben, in gegensätzlichen Systemen, unter den Stern der Poesie gestellt und danke ihr das Beste.
die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006
FÜR RICHARD PIETRASS
Unsere Gedichte erkennt man an der Stimme.
Richard – sage ich – Geburtstag. Dein Geburtstag.
Ich übertrage ihn in die fremden Sprachen.
An der Grenze wechseln wir die Währung der Worte.
Die Wünsche reimen sich.
Ein Vogel widmet Dir
einen Flug
über den Junihimmel.
Ewa Lipska
Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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