Richard Pietraß: Spielball

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Pietraß: Spielball

Pietraß/Pietraß-Spielball

DIE SCHATTENALGE

Wo nichts mehr fruchtet, im toten Winkel
auf der Kehrseite der Medaille
hat sie ihr stilles Auskommen.

Unterm Schlußstrich, auf dem Konto
des Bankrotteurs, in der Brüterlagune
unterm Wüstensand: Reflex aller Tiefschläge.

Wachstum wie der Schatten selbst, im Gefolge
des nichtigen Lichts. Ihr Wappen: die Geduld.
Ihr Zepter: der Schlegel einer Trommel.

Mitglied keiner Nahrungskette, unverdaulich
herbizidresistent. Wäre sie verwertbar
die Menschheit wäre abermals gerettet.

So aber faßt sie Fuß, wo selbst die Bakterien
wenig Neigung zeigen, Kolonien zu gründen.
Im tickenden Schatten blattloser Eisenstämme

In Betonsilos, Meilen unter dem Meer.
Unbeirrbar sich vermehrend, wächst sie
Vom Ende der Welt auf uns zu.

 

 

 

Die in den Gutachten als „Warngedichte“

klassizifierten Texte wurden am 8.8.1985 zur Druckgenehmigung eingereicht. Nach langen Diskussionen über die Herausnahme mehrerer Gedichte erhielt das Manuskript am 21.7.1986 die Druckgenehmigung für den Produktionsplan 1987. Voraussetzung dafür war dann lediglich die Herausnahme der Gedichte „Ermannung“ und „Aderlaß“; sie wurden zwei Jahre später in den Band Was mir zum Glück fehlt (Frankfurter Verlagsanstalt) aufgenommen. „Aderlaß o Kaderspaß“ heißt eine der Zeilen des zweiten Gedichts.

Christine Horn, Hausnotiz. Handschriftliche Stellungnahme, 18.9.85.

„Diese Lyrik problematisiert und äußert sich in Metaphern und Bildern, denen ich schwer folgen kann […].“

Kurze Bemerkungen zu Richard Pietraß. Typoskript, DIN A 5 mit roten Unterstreichungen und Randbemerkungen von Klaus Höpcke. Der Schreibmaschinentext ist mit A unterzeichnet; dies ist Arno Lange (ZK der SED).

„Ich kann mich eigentlich nur dem Gutachten von Mathilde Dau voll anschließen. Der salto mortale am Schluß – wenn mit dem einzigen Argument „Belastung durch die Hypothek nichtpublizierter Werke“ für die Veröffentlichung plädiert wird – wirkt fast komisch (oder peinlich), denn das ganze Gutachten spricht eigentlich deutlich gegen die Publikation. Und mit überzeugenden Argumenten.
Sozialistische Positionen kann ich nicht entdecken. Auch die weltanschaulichen Überlegungen bei der Umweltproblematik sind m.E. nicht von unseren Positionen getragen. Immerhin macht die DDR was für den Umweltschutz – und nicht wenig. Warum also nur Pessimismus und Fatalismus. Überhaupt: das Menschenbild. Der Mensch dieser Gedichte ist ausgeliefert, entfremdet, nicht sozial aktiv, kein Mensch mit sozialistischen (oder gar kommunistischen) Positionen. Allerdings muß man auch – der Gerechtigkeit wegen – sagen, daß keine antisozialistischen Positionen artikuliert werden.“

„Das finde ich auch. K. Hö.“ lautet der handschriftliche Kommentar.

Klaus Selbig an Klaus Höpcke. Hausmitteilung der HV vom 2.12.1985 mit handschriftlichen Bemerkungen Höpckes.

„Diesem fundierten Gutachten von Dr. Dau, die übrigens aus bestimmten Gründen anonym bleiben möchte, stimmen wir im wesentlichen zu und empfehlen in Übereinstimmung die Gedichte „Vom Mündel“, „Aderlaß“, „Das Schlachthaus“ sowie zusätzlich „Lautpaß“ und „Hohe Schule“ und „Agonie“ nicht mit in den Band aufzunehmen. Wir sind uns gleichzeitig im klaren darüber, daß der Band damit nicht optimal ist, die Herausnahme des einen oder anderen Gedichts höchstens die Grundtendenz schwächen, sie doch nicht beseitigen kann.
Sollten wir der Entscheidung folgen, das Manuskript zu veröffentlichen, ausschließlich der erwähnten Gedichte, müßte der Verlag angehalten werden, von einer repräsentativ erscheinenden Ausstattung Abstand zu nehmen.
Wir bitten um Kenntnisnahme und Abstimmung“

Zur Frage der Ausstattung notiert Höpcke: „Daß so ein Anhalt nötig ist, erscheint mir symptomatisch.“ Und auf der Rückseite bemerkt er: „Mir scheint nach Lektüre des Gutachtens [von Mathilde Dau] eher; daß wir auf eine Entscheidung zugehen, diesen Band nicht zu machen.“

Eine Marginalie von Klaus Höpcke. Auf einem Faltblatt, in das Stellungnahmen zu Volker Braun, Uwe Kolbe und Richard Pietraß eingelegt waren, notiert Klaus Höpcke mit roter Schrift:

„Danke. 7.7.86
+ Heiner Müller,
,Germania‘?“

Richard Pietraß: Spielball. Druckfahnenkopie der nicht genehmigten Titelei von 1986. In der Copyright-Ausgabe mußte der Druckfehler „1982“ korrigiert werden. An dieser Stelle blieb in der ersten Auflage 1987 die Korrektur „1986“ erhalten.

aus Ernest Wichner und Herbert Wiesner (Hrsg.):  Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und ,Ästhetik‘ der Behinderung von Literatur. Ausstellungsbuch, Literaturhaus Berlin, 1991

 

„und wärs auch Wortspiel, es schafft sich Wahrheit“

Fragt man danach, worin sich der Spielball von den ersten beiden Lyrikbüchern des Autors unterscheidet, dann fallen allein schon bei einem Vergleich, der die Analyse einzelner Gedichte vorerst noch ausspart, zwei Besonderheiten auf.
Notausgang (1980) und Freiheitsmuseum (1982) hat Pietraß unter dem Titel „Postscriptum“ und „Lesezeichen“ poetologische Selbstaussagen nachgestellt, die Auskunft über sein dichterisches Wollen geben. Im „Postscriptum“ von 1980 heißt es am Schluß:

Schließlich: die mich kennen, werden sagen: dich trafen wir fröhlicher. Ich muß ihnen recht geben und eingestehen, daß es mir nicht gelingt, beide Seiten meines Wesens gleichermaßen einzubringen. Und womöglich benötige ich nur eine Stütze für das schwächere Bein, wie vielleicht auch meine Gedichte eher von den Schwächeren, Gezeichneten gebraucht werden.

Diese Sätze ähneln einer Captatio benevolentiae, wie sie in früheren Zeiten vor allem Erzähler an ihre Leser richteten, bevor sie ihnen ihr Werk zur Lektüre öffneten. Bei Pietraß läßt das „Postscriptum“, das vor allem denen gilt, die ihn „kennen“, eher auf das Wissen um die eigene Unvollkommenheit schließen, äußert er sich doch über die mangelnde „Geschlossenheit“ und den zuwenig erkennbaren „persönlichen Stil“ in seinen Gedichten. Als Maßstab dafür, was als „persönlicher Stil“ angesehen werden könne, galt damals offenbar die Fähigkeit, das eigene Ich im Zwiespalt seiner Erfahrung im Gedicht zur Sprache zu bringen, wobei das lyrische Ich aussprechen sollte, was dem empirischen Ich als charakteristisch für seine Person, also die beiden „Seiten meines Wesens“ erschien. Die Captatio galt im Grunde dieser Autorintention, die im Schlußsatz auf die Leser projiziert wird: Schwäche und Gezeichnetsein. Hier offenbart sich ein Autor, der im Rückblick auf seine in den siebziger Jahren entstandenen Gedichte den Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit als aktivierende Erfahrung für künftiges Tun bilanziert.
Die ersten Sätze des „Lesezeichen“ genannten Postscriptums zum 1982 erschienenen Band Freiheitsmuseum erweisen sich als eine Verlautbarung, die nicht mehr die Person des Dichters betrifft, sondern zu bestimmen versucht, was Kunst ist und was Literatur vermag. Pietraß schreibt:

Die Kunst als ein Reich der Freiheit ist zugleich Museum, angefüllt mit unbegrabbaren Hoffnungen wie mit dem Bodensatz der Geschichte. Für unsicheren Lohn beschäftigt es mich als einen seiner Wahrsager und Nachlaßverweser.

Damit begründet er im nachhinein die Überschrift seines Buches, in dem man diesmal ein das Zentralthema fixierendes Titelgedicht vergeblich sucht, und er signalisiert ein Kompositionsprinzip, das verwirklicht, was er im „Postscriptum“ von 1980 noch als zuwenig ausgebildet angesehen hat: „Geschlossenheit“. Die Zwischentitel des Bandes Freiheitsmuseum – sie lauten „Die Kunst zu leben“, „Homo Novus“ und „Die Bilder“ – verweisen übereinstimmend auf das ideelle Zentrum. Die einstige Frage nach dem „persönlichen Stil“ ist einer viel ernsteren gewichen, die das Hervorbringen von Kunst und das Selbstverständnis des Dichters in weitaus größere und lebensentscheidende Zusammenhänge hineinstellt, für die sinnschwere Begriffe wie „Reich der Freiheit“, „Hoffnung“ und Wahrheit („Wahrsager“) stehen. Pietraß setzt gleich mehrere „Reiche“ zueinander in Beziehung: das der Kunst und das der Geschichte, das der Moral und das der Ästhetik, das der Träume und das der Traumen. Der Blick in den Spiegel gilt dem eigenen Gesicht nur so weit, wie sich darin ablesen läßt, was zur allgemeinen Erfahrung im Zusammenleben der Menschen geworden ist: die „Suche nach Bindung“ und das Bemühen, „bedrängende Abhängigkeit“ abzuwerfen. In geschichtsphilosophische Termini gesetzt, intendiert diese Spiegelprobe des Schriftstellers, das „Doppelgesicht des Fortschritts“ als „das des Befreiers und greisen Sklavenhalters“ zu begreifen. Damit hat sich Pietraß eine Aufgabe gestellt, die in den achtziger Jahren auch im Schaffen anderer DDR-Schriftsteller zu einem dominierenden Thema geworden ist.
Seinem Band Spielball hat der Autor ein Motto aus einem Buch Ernst Meisters vorangestellt:

und wärs auch
Wortspiel, es schafft sich
Wahrheit.

Und es gibt Gedichte genug, die als programmatische Selbstaussagen ihres Verfassers verstanden werden dürfen. „Gesang“ gehört zu ihnen:

Nicht wie der Buffo, im Bretterstaub stehend
Sondern wie die Lerche im Aufflug, im Niedergehen.

Kein Papagei sein, der in Medien prahlt
Sondern die Stunden verkünden, unbezahlt.

Nicht wie der Sperling, der von der Dachrinne pfeift
Daß der Wohlstand steigt und steigt.

Noch wie die Nachtigall, die in Koloraturen versteckt
Was uns unschönen Tages erschreckt.

Sondern wie der Kuckuck, der in Schwefelluft schreit
Was uns vom Abreißkalender bleibt.

Wie die Drossel, wie der Bluthänfling
Wie Singschwan und Lachmöwe, pestberingt.

Die auch anaphorisch sichtbar gemachten Negationsformeln weisen kritisch ab, wofür eine moralische Legitimation nicht mehr erbracht werden kann. Danach wird im jeweiligen Verspaar mit der adversativen Konjunktion „sondern“ am Beispiel bestimmter Vogelarten das Gegenbild entworfen. Worin Pietraß seinen Auftrag sieht, ist mit dreifachem Sinnakzent unmißverständlich angezeigt: „die Stunden verkünden“; nicht mehr verstecken, was an „unschönen Tagen“ Erschrecken hervorruft und darauf aufmerksam machen, „was uns vom Abreißkalender bleibt“. Von der Zukunft also ist die Rede, vom Überleben der Menschen unter politischen, ökologischen und moralisch-kulturellen Bedingungen, die in diesem Gedichtband vehement zur Sprache gebracht werden. Der „Gesang“ des Dichters (gemeint sind wohl auch die Vogelstimmen) charakterisiert die Lebensprobleme für Mensch und Tier gleichermaßen negativ mit Vokabeln wie „Schwefelluft“ und „pestberingt“.
In „Fontäne“, dem Schlußgedicht seines ersten Bandes, hat sich der Dichter mit dem Blauwal verglichen (in den Anmerkungen heißt es dazu: „Blauwal: durch rücksichtslosen Fangabschuß vom Aussterben bedrohtes Meeressäugetier“). Bereits in Freiheitsmuseum gilt sein Interesse in Gedichten wie „Homunculus“ und „Klon“ jenen Eingriffen in die Natur des Menschen, von denen in Spielball in großen und komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen die Rede ist. Das annoncieren auf Lebewesen und Naturdetails bezogene Gedichttitel wie „Die Schattenalge“, „Tiergarten“, „Auwald“, „Hackreihe“ und „Durch die Blume“ ebenso wie solche, die anzeigen, was die „Stunde zu verkünden“ hat: „Agonie“, „Amok“, „Fallinie“ und „Fluchtpunkt“, Die Größenordnung der Probleme, die sich bei der Lektüre zunehmend deutlicher zeigt, benennen vor allem zwei Gedichttitel, die den Erdball meinen: „Globus“ und „Spielball“.
Das Titelgedicht ist diesmal nicht eines unter vielen (wie „Notausgang“, nach dem der erste Lyrikband von Pietraß benannt wurde), sondern ein Schlüsselgedicht, dessen Bestimmungswort „Spiel“ als Grundwort für alle vier Zwischentitel des Buches dient (sie heißen „Schattenspiel“, „Muskelspiel“, „Taschenspiel“ und „Linienspiel“) und auch mit dem Signalwort übereinstimmt, das schon im Motto des Buches genannt wird: „Wortspiel“. In dem „Spielball“ überschriebenen Text hat dieses Wortkompositum jene Bedeutungsvalenzen eingebüßt, die es von Hause aus einst besaß. Nichts mehr erinnert an die Leichtigkeit und Unverfänglichkeit des kindlichen Ballspiels. Durch die Vertauschung seines Platzes als Grund- bzw. Bestimmungswort ist der Ball zum Objekt geworden, einbezogen in ein Kalkül, das auf Naturbeherrschung und menschlichen Wohlstand angelegt zu sein scheint. Pietraß entwirft ein geradezu atemberaubendes Panorama möglicher Eingriffe in den Haushalt der Natur, dessen Gigantomanie allein schon durch die bloße Aufzählung maßlos und beängstigend wirkt:

Die Andengletscher mit Ruß einstauben
Ihr Schmelzwasser in die Wüste schnauben
Ins Auge des Sturmes Splitter säen
Dem Meer eine Ölhaut überziehen
Silbernadeln in Hagelwolken spießen
Blitze hindern niederzuschießen
Nebel am langen Hebel wegdrücken

Irtysch und Tobol in den Aralsee heben
Den Überfluß ins Kaspische geben
Den Ob aus dem Jenissei entschädigen
Sich der letzten Schwellen entledigen…

Wie die anschließenden Verse zeigen, bleibt keine Region auf dem Erdball verschont. Nicht nur Flüsse werden umgeleitet auch „Kontinente rücken“, Pole schmelzen und Klimazonen geraten aus dem Gleichgewicht. Das Bild scheinbarer menschlicher Allmacht ist in Wahrheit ein Schreckbild, das ein selbstmörderisches „Spiel“ zeigt. Mag die eine oder andere Vision aus dem Bereich der Sciencefiction ausgeborgt worden sein, der Dichter faßt, was er zeigt, am Schluß nicht nur in einen Konditionalsatz („wenn es gelänge“), sondern wechselt mit den drei letzten Worten in das Präsens unmittelbar bevorstehender Verwirklichung hinüber („und es gelingt“). Was in diesem Text als globales „Weltbild“ (so auch im Gedicht „Globus“) vor Augen geführt wird, wenn sich der Blick auf Städte, Länder und Kontinente richtet, bestätigt sich meist auch in solchen Gedichten, in denen Pflanzen, Tiere und Menschen gezeigt werden, deren Ordnung durch menschliche Eingriffe oder Veränderung ihrer natürlichen Lebensbedingungen zerstört wurde, so daß sie entweder vom Aussterben bedroht sind („Durch die Blume“) oder für andere Lebewesen zu einer Bedrohung werden wie die Schattenalge oder die Ratte. Vor allem die in der Gruppe „Muskelspiel“ vorgestellten Gedichte geben Auskunft darüber, wo und wie die menschliche Natur durch soziale Faktoren, moralisches Versagen und den Tieren vergleichbare Verhaltensweisen („Hackreihe“) beschädigt werden konnte und in zunehmendem Maße Ersatzbefriedigungen an die Stelle natürlicher Wünsche treten. Nicht von ungefähr sind einige dieser Texte Liebesgedichte, die Enttäuschung statt Erfüllung verheißen. Und es sind Frauen („Die Vierzigerin“, „Ophelia“), die Klagen dieser Art aussprechen. Gedichte wie „Plauspiel“, „Spielplan“ und „Hohe Schule“, die der „Taschenspiel“ überschriebenen Gruppe zugeordnet sind, korrespondieren, wenn auch stofflich in anderen Bereichen der Wirklichkeit angesiedelt, mit einer Wirklichkeitssicht, die überwiegend Bedrohung und Gefährdung wahrnimmt, sowohl für die Natur im allgemeinen Sinne des Wortes als auch für die gesellschaftliche Natur des Menschen. Das „Doppelgesicht des Fortschritts“, von dem 1982 bei Pietraß noch die Rede war, ist zu einem einseitigen Schreckbild geworden, in das „Fortschritt“ als geschichtsbestimmende Kraft nicht mehr einschreibbar ist, weil ausgespart bleibt, was eine dialektische Wirklichkeitssicht rechtfertigen könnte: schöpferische Arbeit, gelungene Anstrengung und geglücktes Werk. Wenn die menschliche Geschichte nur noch als unaufhaltsam einem katastrophalen Endpunkt zutreibend und als „Spielball“ großer Mächte gesehen wird, läßt sich auch der Zeitpunkt absehen, an dem vollends eliminiert wird, was eine dialektische Wirklichkeitssicht, die das „Doppelgesicht des Fortschritts“ zeigen möchte, noch immer kenntlich machen müßte. Im Schreckbild mag sich die schlimmstmögliche Wendung der Geschichte dem Leser als Warnung mitteilen, ohne Hoffnung auf Zukunft wird es nur die halbe Wahrheit zeigen, so wie sich der Glaube, daß die Kunst „ein Reich der Freiheit“ und „zugleich auch ein Museum, angefüllt mit unbegrabbaren Hoffnungen“ sein könne, als ein Versprechen erweist, das am Ende doch nicht eingelöst werden kann.
Daß Pietraß seine Kunst als ein „Reich der Freiheit“ begreift, äußert sich in seinem dritten Gedichtband noch deutlicher als in den beiden voraufgegangenen im Umgang mit Sprache, für den der Terminus „Spiel“ zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Das gilt für die vorgefundene, weitgehend gesprochene Sprache, wie sie im Dichterwort oder im Sprichwort überliefert wurde, ebenso wie für die eigenen Sprachschöpfungen, die oft durch literarische Vorlagen anderer Dichter inspiriert wurden. Was Enzensberger einst „Entstellung“ nannte (mit dem Ziel, die durch absichtlich verfälschende Sprachgebung verdeckte Wahrheit an den Tag zu bringen), ist auch für Pietraß fast schon zu einer Pflichtübung geworden, der er sich in den meist spruchartigen Gedichten hingibt. Daneben stehen jedoch auch Gedichte, in denen die Sprache nicht zuerst der Logik des Gedankens folgt, sondern der Binnenreim bestimmt, wie der Endreim beschaffen sein muß. Bei derartigen Klangkonkordanzen entstehen Aussagesätze, die sich herkömmlichem Lyrikverständnis weitgehend entziehen und stellenweise an Christian Morgenstern erinnern. Das gilt zum Beispiel für den Text „Börse“:

Dem Kehllaut der Meise fehlen Beweise.
Das Doppelkinn verspielt den Gewinn.
Gramm und Minute sputen die Rute.
Am Meilenstein ruht das Überbein.
Das Hundeherz friert unterm Nerz.
Glückstandarte wird die Hasenscharte.
Das Minimum geht um.

In diesem Gedicht führt die Sprache (hier vor allein durch die Personifizierung von Dingen) nahezu ein Eigenleben. Auf diesem Weg folgt der Lyriker – schon im zweiten Gedichtband erkennbar – Mustern und Methoden der Literatur des 20. Jahrhunderts. In Freiheitsmuseum erprobt er in einem Gedicht mit der Widmung „Für Welimir Chlebnikow“ neue Möglichkeiten wortspielerischer Sprachkreation durch die Reduktion auf perfektives Verb (Ausgangswort „Aufgeschlupft“, Endwort „Himmelgebimmelt“). Nun stehen solche Sprachspiele unter dem Schutzpatronat von Hans Arp, der wie Chlebnikow einer der Gründer jener Schulen und Gruppen war, die der Dichtung neue und ungewohnte Wege eröffneten. Bei Arp – und darin folgt ihm Pietraß – ist es ebenso die Lust am Wortspiel wie auch die Sehnsucht nach einer Spielwelt, die nicht mehr den Abläufen und Festlegungen der Wirklichkeit zu folgen braucht. In einem seiner Gedichte setzt Pietraß dem dadaistischen Wortkünstler ein Denkmal, an dessen Bauweise dieses Verfahren studiert werden kann. Es heißt, im Titel eine Moralmaxime antiker Philosophie umkehrend, „Arpe diem“:

Starb Hans Arp
Erwarb er Ruhm
Eine Sonnenblume

Warb Hans Arp
Um Gottes Bart
Den Flaum der Roggenkrume

Darbt Hans Arp
Im Arpophag
Als gesalbte Muhme

Arpt Hans Arp
Der nichts verargt
Als Schattenuhren Runen

An diesem Text ist vieles originell, wenngleich nur für Leser wirklich verständlich, die zu durchschauen vermögen, was hier „gespielt“ wird. Schon im Titel ist der auf wertschaffende Arbeit und nützliches Tun zielenden Maxime (so könnte man sie zumindest heutzutage lesen) die Spitze abgebrochen worden. Durch die Elimination eines einzigen Buchstaben (das c in carpe) entsteht ein neuer und obendrein noch das Gegenteil meinender Sinn, nämlich so wie Arp den Tag zu verbringen. Also lustvoll arbeitend, Sprache schöpfend, der Faszination von Klang und Bild folgend. Der Verfasser des Gedichts verfährt dann auch so und zeigt, wie eine „Arpade“ (so der Titel des zweiten auf Arp bezogenen Gedichts) entsteht. Dabei wandelt er das Eingangsverb jeder Strophe so oft ab (immer dem Stammvokal a folgend), bis das im Titel imperativisch gebrauchte Verb in seiner konjugierten Form erscheint und in der Anfangszeile „Arpt Hans Arp“ jener A-Dreiklang wieder entsteht, mit dem das Gedicht in der ersten Strophe begonnen hat („Starb Hans Arp“). Dabei formt Pietraß Gebilde, wie sie auch beim Dichter der „Wolkenpumpe“ entstanden sein könnten, vor allem die gesalbte Muhme“ könnte sich mühelos in dessen Raritätenkabinett einreihen. Für die Wortbildung „Arpophag“ (statt Sarkophag) gehören die Urheberrechte jedoch ganz allein dem Nachfahren Richard Pietraß.
In dieser Sprachwelt kann man für Augenblicke (auch des Vergessens) jene „Freiheit“ gewinnen, die der Autor in der wirklichen Welt mehr und mehr schwinden sieht. Als Fluchtpunkt hat sie Pietraß sicher nicht gedacht, wohl aber als einen Raum, in dem aufbewahrt wird, was den zerstörerischen Kräften der wirklichen Welt standhält, von denen im übergroßen Teil der Gedichte dieses Buches gesprochen wird. Diese Hoffnung zumindest hat der Dichter noch nicht aufgegeben, denn in einem seiner spruchartigen Gedichte heißt es:

WENN ICH DEM SCHWARZEN SUD
entgehe, übersteht mich Poesie.
Was ich berühre, spitzen Munds
sie bezwingt es, sie.

Klaus Schuhmann, aus Siegfried Rönisch (Hrsg.): DDR-Literatur ’86 im Gespräch, Aufbau Verlag, 1987

Spielball von Richard Pietraß

In mehr als einer Hinsicht

ist der Gedichtband Spielball (Berlin und Weimar 1987) ein charakteristischer Vertreter seines Genres. Er steht – ungeachtet zweckpessimistischer Unkereien von „Verinnerlichung“ oder „Weltflucht“, wie sie uns von gewisser Seite gern nahegelegt werden – für die nach wie vor nicht abreißende Tradition der DDR-Lyrik, sich Fragen von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung zu stellen und dabei vor dem „großen Gegenstand“ keineswegs zurückzuscheuen. Er steht aber zugleich für die international verbreitete Tendenz, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die politischen Konstellationen in der Welt von heute mit tiefer Skepsis zu beobachten. Der Autor – das ist das zentrale Anliegen seiner Texte – legt den Finger auf solche Punkte, an denen sinnfällig wird, wie die Gefahr einer globalen Katastrophe für Mensch und Natur „vom Ende der Welt auf uns zuwächst“ („Die Schattenalge“, S. 9). Er tut dies jedoch auf eine Weise, die seinen äußerst gediegen gestalteten Band auch in anderen gestalterischen Belangen deutlich von den Arbeiten vieler Zunftgenossen abhebt. Neben Eigentümlichkeiten der Themenwahl und des Blickpunkts, von dem aus die Welt reflektiert wird (dazu später), fällt vor allem eines ins Auge: Pietraß ist ein Meister, ja, ein Perfektionist des spielerischen Umgangs mit allen sprachlichen und prosodischen Mitteln, die lyrischer Poesie Musikalität, Esprit und klanglich-bildhafte Prägnanz verleihen. Die Möglichkeiten „gebundenen“ lyrischen Sprechens werden mit einer verstechnischen Brillanz und einer vielfarbig schillernden Klangfülle entfaltet, die man schon (im besten Sinne des Wortes) „kulinarisch“ nennen muß.
Die hohe Sprachkultur des Verfassers tritt uns hier nicht zum erstenmal entgegen. Im vorliegenden Band erhält sie aber dadurch ein höheres Gewicht daß sie sich in einer krassen Gegenläufigkeit zu den Bildern von „Barbarei“ bewegt, die uns in den Texten zumeist vermittelt werden. Bevorzugtes Thema ist die Vision von „Endzeit“ in ihren verschiedenen Spielarten, die sich aus dem „Hochrechnen“ bestimmter (nicht aller) Entwicklungstendenzen unserer Epoche ableiten lassen. Düstere Perspektiven gewinnen bedrohliche Gegenwärtigkeit, am eindringlichsten vielleicht im Gedicht „Auwald“ (S. 10), in dem die vier apokalyptischen Reiter durch die makabre Szenerie einer sterbenden Naturumwelt „trappeln“ (die magisch-volksliedhafte Lautmalerei der Schilderung des gespenstischen Reiters in Bürgers „Lenore“ klingt hier an). Auch sonst spart Pietraß nicht mit dem Ausmalen des Schreckens, ob nun in der kleinen, durch die „Hackordnung“ geregelten Hierarchie der Hühnerwelt („Hackreihe“, S. 33) oder im gefährlichen Auseinanderdriften ganzer Kontinente („Die Drift“, S. 82), die ihrerseits als Opfer einer maßlosen Umgestaltungswut vorgestellt werden, zu der sich menschliche Produktivität pervertiert hat.
Pietraß bekennt sich also zum Typus des „Warngedichts“ als einem erprobten, legitimen Mittel, die poetische Verallgemeinerung von Wirklichkeit in eine Richtung zu treiben, die dem Leser mit der ganzen Kraft dichterischer Phantasie genau das vorführt, zu dessen Verhinderung er aufgerufen ist. Die Gefahr einer solchen künstlerischen Strategie liegt darin, daß sie eine Atmosphäre von Unausweichlichkeit, von lähmender Aussichtslosigkeit evozieren könnte. Hierzu entwickelt und erprobt Pietraß eine Gegenstrategie. Er versucht die Schwere und die Tragik, das Düstere und die Hoffnungslosigkeit der von ihm gezeichneten Bildwelt durch den artifiziellen Faktor des „Spielerischen“ poetisch, ästhetisch-weltanschaulich „in die Schwebe“ zu bringen, der schonungslos aufgedeckten Härte in den „Objekten“ durch die heitere, „gelöste“ Souveränität der lyrischen Subjektivität zu begegnen, wie sie sich nicht zuletzt in der Meisterschaft der Formbeherrschung äußert.
Ich gestehe, daß mich dieses Vorgehen fasziniert, weil ich darin einen interessanten und aufschlußreichen Versuch sehe, einer ganz bestimmten Traditionslinie ästhetischen Denkens zu folgen (von Friedrich Schiller über Charles Baudelaire bis zu Peter Hacks), der „Kunstautonomie“ der künstlerischen Gestalt selbst in ihrer „formalen“ Eigenständigkeit, einen großen Teil der Last utopischer Erwartungen und humanistischer Hoffnungen anzuvertrauen. Für unseren Autor hieße das konkret: dem verhängnisvollen, kaum noch lenkbaren (wie es scheint) Entwicklungsgang materieller Produktion, die auf das „Chaos“ totaler Destruktion zusteuert, in Gestalt kunstvoll vergegenständlichter dichterischer Produktivität ein Medium entgegenzuhalten, in dem menschliche Wesenskräfte gleichzeitig zu „freier“ Entfaltung und zu strenger „Bändigung“ in ebenso lockeren wie festgefügten Formen gelangen. Ich gestehe aber auch, daß ich diesen Versuch nur zum Teil für gelungen halte. Am ehesten funktioniert der poetisch überzeugende Schwebezustand zwischen „heiterer Kunst“ und „ernstem Leben“ (Schiller) noch dort, wo mit den Mitteln der Satire oder der sarkastischen Invektive eine ästhetische Distanz erzeugt wird, die ein Absinken in Verzweiflung verhindert und aktive Haltungen befördern kann – den eigenständigen Beitrag des Lesers natürlich vorausgesetzt.
Das gilt, so empfinde ich es, selbst für Gedichte, gegen die ich auf der politischen oder philosophischen Ebene scharf polemisieren würde: etwa „Vom Mündel“ (S. 56f.) oder auch das Titelgedicht (S. 79f.). Die sachliche Ungerechtigkeit der gegenständlichen Konturen, die sich im Text modellieren, wird aber in der Tat – so paradox das klingen mag – durch das Moment von „Unernst“, von spielerischer Heiterkeit und poetischer Formulierungslust, partiell wieder „aufgehoben“, in gewisser Weise „ausgeglichen“, ohne etwa ästhetisch harmonisiert zu werden. In anderen Fällen sehe ich das Konzept des bewußt betriebenen künstlerischen ,Spiels‘ ganz offensichtlich an seine ,Grenzen‘ stoßen. Für mich sind sie dort erreicht, wo das Streben nach heiterer Souveränität umschlägt (oder doch umzuschlagen droht) in die Ästhetisierung des Schreckens, des Bösen und des Häßlichen. Hier und dort verselbständigt sich das Makabre („Das Abendmahl“, „Das Schlachthaus“, „Kopf Schwanz“), oder die „verspielte“ Tonart tritt in eine allzu unangemessene Diskrepanz zu Thema und Gegenstand des Gedichts („Agonie“, „Die Arche“, „Stechuhr“, „Schwarzer Tag“). Die Fotos deuten ebenfalls in diese Richtung.
Hinzu kommt, daß Pietraß offenbar so stark auf die Tragfähigkeit der „artistischen“ Subjektivität seiner Poesie baut und dieser außerdem noch einen so hoch über dem „irdischen Gewimmel“ schwebenden Blickpunkt zuweist, daß in der Welt selbst, wie er sie schildert, der „subjektive Faktor“ nahezu ausgespart bleibt. Das gilt für gesellschaftliche Strukturen ebenso wie für soziale Bewegungen oder schlicht und einfach für die Sichtweise dessen, der in die elementaren Probleme des werktätigen Alltags materieller Produktion höchst persönlich (und oft sehr widerspruchsvoll) verwickelt ist. Wird hier die Not des zwischen den „Sesseln“ Sitzenden (wer immer ihm den „Laufpaß“ gegeben hat) zur Tugend erhoben? Neben der doch recht anrüchigen Formel „Artist auf freier Wanderschaft / Mehr als das Ziel gibt Spiel mir Kraft“ (S. 3 7) steht aber ein Gedicht wie „Globus“ (S. 50), das uns wieder davon abhält, seinen Autor als einen Vertreter jenes „höheren Zynismus“ zu nehmen, für dessen Existenz in der Geschichte bürgerlicher Literatur wir Verständnis aufbringen, um zugleich zu betonen, wie ungemessen eine solche Haltung heute wäre. Dafür spricht jedenfalls alles, was Pietraß an Wirklichkeit unserer Epoche in sein Gedicht geholt hat.

Rudolf Dau, Weimarer Beiträge, Heft 1, 1988

 

Noch einmal zu Spielball

Es ist mir ziemlich ärgerlich, daß sachlich-gegenständliche Erwägungen mich zu einer Polemik ausgerechnet gegen Rudolf Dau nötigen. Denn sollte ich nicht wissen, daß ich besser daran täte, ihn zu beschweigen? Was er indessen über die Pietraßschen Spielball-Gedichte befindet (vgl. Weimarer Beiträge, 1/1988, S. 92–94), ist von einer Art, daß ich auf mich und mein Wissen keine Rücksicht nehmen kann. Hier gilt’s der Kunst, habe ich mir, zitierend, zu sagen; und deren Angelegenheiten sind jedenfalls ernstliche.
Und ernstlich, Freund Dau, tut auch Richard Pietraß das Seine, um das künstlerische Talent, welches ihm eignet, so zu steuern, daß es ihn nicht in allzu dünnluftige Höhen hinaufflügelt. Da lautet eines Ihrer einprägsamen Bonmots, Pietraß weise seiner Poesie „einen so hoch über dem ,irdischen Gewimmel‘ schwebenden Blickpunkt“ zu, „daß in der Welt selbst, wie er sie schildert, der ,subjektive Faktor‘ nahezu ausgespart bleibt“. Ein arger, Arges feststellender Satz. Doch wie denn? Hätten Sie nicht, entgegen Ihrer Mitteilung, „Das Abendmahl“ gelesen, nicht „Saus und Braus“, nicht „Planspiel“; nicht „Agonie“, „Die Arche“, nicht „Nähe“? Oder wäre Ihr Begriff dessen, was Sie als „subjektiven Faktor“ apostrophieren, ein zeitungsfromm bereinigter? Fehlt Ihnen also der Kampf um die Erfüllung der Exportpläne, das Ringen um die Senkung der Selbstkosten, die Ernteschlacht von Genossenschaftsbauern? Und pendeluhriges Kopfschütteln, wenn Ihnen einer die „Sessel“ vorhielte?, jene aufkündigenden, sitz- und standfesten, die Ihnen so unbekannt sind? „Dann prüften dreimal zwei Männer, ob das Mündel / das Mündel ist“: Ach, ich frage schon gar nicht mehr.
Aber ganz abgesehen von Ihrer keusch-kategorischen Begrifflichkeit, dieser Artist, dem Sie zunächst ein Zu-hoch-Schweben und im folgenden dann auch ein Dazwischen-Sitzen attestieren, ist de facto weder ein Schweber, noch ein Sitzer. Er ist, wie deutlich soll er’s denn eigentlich noch machen?, ein Wanderer, fahrender Gesell, von Ort zu Ort Ziehender. Der die Erde und die Menschen und die Vögel liebt, der auf Freundlichkeit aus ist – und den das, was ihm begegnet, häufig genug beunruhigt. Er fährt mit dem Zug (meinetwegen an Petersroda, dem umzäunten Dorf bei Bitterfeld, vorbei) und sieht, daß das Wäldchen, welches auf „rekultivierter“ Fläche dürftig heranwächst, ein gleich wieder versperrtes ist, ein Schilderwäldchen, das die Nestsuchenden mit einem kalten „Halt! Hier wird…“ zurückweist. Er kommt an den Nacktstrand; und die Wahrnehmung geht ihm nach, daß denjenigen, die hier „ihr Bett gemacht“ haben, der „Brodem eines Kantinenjahrs“ erst einmal die Küsse vergällt. Er hält sich, mit offenen Sinnen, in den Schlafstädten auf; und allenthalben die Zeichen von Erschöpfung, der liebefeindlichen, die ihm begegnen:

Schlaf ein Laß sein
Morgen gehts besser
Schlaf ein Laß Nein
Morgen schneidts Messer

Und deren Lust sich auszehrt, die Müdgewordenen, Opfer von tötenden, abtötenden Vollzügen, dem Wanderer legen sie sich auf die Brust – wie sich ihm der „maustote“ Bussard auf die Brust legt, der überfahrene Maulwurf, das tote Holz.
Nein, der Friedfertige, der in diesen Gedichten sich ausspricht, ist jedem Von-obenherab abhold. Und wenn etliche Texte als menschheitliche „Warngedichte“ gelesen werden können, so sind auch sie die Verse nicht eines teilhabelos orakelnden Türmers, sondern eines schmerzlich Betroffenen, welcher Beobachtungen, Wahrnehmungen, Informationen verarbeitet, die Lebens- und Weltsorge aufkommen lassen: Der Unbestuhlte, er hängt an dieser Welt mit allen Fasern, und um so inniger, da es doch ein Stuhl gerade nicht ist, was ihm die Welt ausmacht. So bedrängen und bedrücken ihn die Gewaltakte, die ihr – und in ihr – geschehen, ganz unmittelbar, die mächtigen Zu- und Eingriffe der Pyro- und Hydromanen, die Betonierungen, Verbunkerungen, Vernutzungen. Und welch ein Fehlurteil, den Text „Das Schlachthaus“ als ein Gedicht zu bewerten, in dem sich „das Makabre“ verselbständige! „Makaber“, oder besser: erschrecklich ist der perfekt industrialisierte Vorgang, der da ins Bild kommt – und der Menschen zu Hochleistungsspezialisten im Töten deformiert:

Die Messer gehen im Vierteltakt…

Oder „Kopf Schwanz“:

Der Schoß wirft
Legionen von Tätern
von Opfern von Tätern.

Eine bittere Wahrheit, allerdings, die dieses Gedicht unterbreitet, und der Text präsentiert sie provozierend bitter, wie die Schlußwendung belegt:

Im Geheimfach
des Schädels der Erbschlüssel
ein flammendes Testament

Doch wie? Auch hier eine Verselbständigung jenes „Makabren“; eine „Ästhetisierung des Schreckens, des Bösen und des Häßlichen“?
Freilich, Sie wollen, Freund Dau, auf den „höheren Zynismus“ hin, den Sie schließlich aus Ihrer Beuteltasche herauslassen. Wobei Sie das Begriffsinstrument natürlich nur vorzeigen; noch, so geben Sie zu verstehen, ist der lesende Zuständige bereit, den eigentlich fälligen Urteilsspruch milde auszusetzen. Und Sie verweisen den in seinem ästhetisch-ideologischen Seelenheil Gefährdeten auf sein „Globus“-Gedicht:

Weltbild, geschrumpft
auf das Maß einer Kuhhaut…

Hier liege der Ansatz fürs erwünschte Weiterschreiben – dagegen gerade nicht im „Anrüchigen“ der „Formel“:

Artist auf freier Wanderschaft
Mehr als das Ziel gibt Spiel mir Kraft.

Nun gut, ich möchte höflich bleiben. Aber sagen muß ich jetzt dennoch, daß der Zynismus, wenngleich kein „höherer“, entschieden auf Ihrer Seite anzutreffen ist.
Pietraß und sein „Spiel“verhalten. Wäre es denn nicht seine Aktivitätschance?, seine Möglichkeit tapfer-menschlichen Gegenwirkens gegen die Zwänge und Vorgänge, die das Subjekt herabwürdigen, es einkreisen, das Netz dichter weben? Spielerisch lösendes Gelächter als Notwehr:

Daß drei, links zwei drei vier, um fünf rechte Winkel
sich Zeichen machen. Zum Lachen! Zum Lachen!

Spielerischer Spott als Reaktion auf Bedrängnis:

Ich stünde halstief in der Tinte
Glubschte der Oktopode, der mein fintiges
Visum sah. Und schränkte die Arme.
Oder sei ich Spottes Sohn.
Da war ichs schon.

Zungenspiele, den „Himmel“ pflügend, weil die Erfahrung drückender Stummheit zu kompensieren war:

Die Vaterstadt, Punkt auf der Flucht
Vom Kriegsgott für mich ausgesucht.

Wer ohne Habe hierher kam
Dem sah mans noch den Kindern an.
Nach stummem Leid ein stummer Frieden…

(Ich denke mir die sächsische Kleinstadt Lichtenstein als jenen „Fluchtpunkt“, der Pietraß dazu trieb, einen anderen zu suchen. Und wüßte man nicht, wie Umsiedlerfamilien behandelt wurden an den Orten, da sie aufgenommen werden mußten?) Das „Ziel“ aber, im „Spiel“ ist es ja aufgehoben – oder besser: Ein Ideal ist’s; denn allzu „Ziel“bewußten hat Pietraß doch wohl mit einigem Recht zu mißtrauen gelernt.
Bei Peter Rühmkorf lese ich:

Lassen wir es denn damit bewenden, daß der Reim in jedem Falle in geselligem Vergnügen wurzelt und daß er gut daran tut, diese Herkunft niemals vergessen zu machen.

Und weiter:

… nichts Edleres hat er im Sinn als den Zusammenhang des tragisch Getrennten, fatal Auseinandergerissenen, umständehalber Zerteilten wenigstens für einige Atemzüge lang als möglich erscheinen zu lassen.

Nun gibt es auch das triviale Reimgedicht; da wird der kurrente Reim zum Raster. Wenn Pietraß aber dem „Spiel“ huldigt und dabei wiederum vor allem das Reimspiel seine Sache sein läßt, so zwingt er den Reim doch einem ganz und gar „irdisch“ Widerspenstigen ab; was sich wirklich nicht reimen will, es ist ungerastert vorhanden in den Pietraßschen Gedichten; und das spielende Subjekt also nimmt dieses Widerspenstige sich vor: an ihm seine auf „Geselligkeit“ und Aussöhnung gerichtete künstlerische Phantasie zu bewähren. Ein „Perfektionist“, der da am Werke sei?, einer, der „verstechnische Brillanz“ bezeuge?, sozusagen ein trillernder Kanarienvogel? Ach was! Der stets aufs neue die zerrissene und zertretene Sprache nach den ihr verbliebenen Möglichkeiten absucht, Organ freundlicher Näherung zu sein, wäre doch wohl zuvörderst als ein unverdrossener Erdenmensch zu entdecken, der alle seine Kunstfähigkeit aufbietet, um den „Lockruf“ seiner „Seele“ (Rühmkorf) im Gedicht sinnlich wahrnehmbar zu machen. Und das „Spiel“, welches ihm „Kraft“ gibt, sollte es nicht dasjenige eines Freispielens und zugleich Hinspielens auf etwas sein?: auf diesen Traumzustand?:

Das Bündel bäumt sich, träumt. Umarmen, Umarmen.
Umarmen
?

Bernd Leistner, Weimarer Beiträge, Heft 7, 1988

 

Aufgefordert,

erste Gedanken nach dem ersten Lesen des neuen Buches von, Richard Pietraß zu äußern – und soviel ist sicher: ich muß, will und werde es mehrmals lesen – aufgefordert, überdies, das Buch als Schriftsteller und als Wissenschaftler zu beurteilen, möchte ich mit einer doppelten Einschränkung beginnen. Ich bin kein Lyrikspezialist, obwohl ich gelegentlich selbst Gedichte geschrieben habe, und vermag die vorliegenden deshalb nur subjektiv zu bewerten. Ich kann zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, speziell zum Verhältnis von Bioökologie und Lyrik, das im neuen Werk Pietraß eine entscheidende Rolle spielt, nur subjektive Meinungen, keine fundierten Urteile formulieren, obwohl ich erst kürzlich eine Anthologie Windvogelviereck. Schriftsteller über Wissenschaften und Wissenschaftler (Berlin 1987) herausgegeben habe, worin übrigens ein Beitrag Pietraß, der sich mit sehr ähnlichen Fragestellungen wie Spielball beschäftigt, zu den bedenkenswertesten zählt.
Meiner Ansicht nach gehört Pietraß zu den originellsten, ja, ich scheue das Wort nicht, zu den bedeutendsten Lyrikern der „mittleren Generation“, der heute etwa Fünfunddreißig- bis Fünfundvierzigjährigen. Das aus mehreren Gründen: Zum einen gibt es unter diesen nur wenige wie ihn, die eine solche Fülle von lyrischen Formen – vom reimlosen, metrisch ungebundenen Vers über eine Vielzahl von metrisch gebundenen Ausdrucksformen bis hin zu lockeren und schließlich auch strengen Reimformen, seine Spezialität, die Binnenreime eingeschlossen – kennen, anwenden und auch wirklich beherrschen. Zum anderen gibt es darunter kaum Lyriker, die so souverän wie er mit den Mitteln von Sarkasmus, Ironie, Satire, Scherz, Spott umgehen können, ohne je in bloßem Humor zu versacken; schon der Titel des neuen Bandes zeugt ja von dieser Fähigkeit. Schließlich ist er einer der kenntnisreichsten Dichter seiner Generation: Er ist nicht nur mit einem Großteil der wesentlichen nationalen und internationalen Lyrik vertraut, wie sowohl seine langjährige Herausgebertätigkeit beim Poesiealbum als auch seine kongenialen Übersetzungen, besonders aus dem Englischen, beweisen und wie es aus mancherlei Bezügen des neuen Bandes zu erschließen ist, er hat sich ebenso mit einer Fülle neuester wissenschaftlicher Forschungsergebnisse auseinandergesetzt, auf seinem ursprünglichen Arbeitsgebiet, der klinischen Psychologie, ebenso wie auf Gebieten der Biologie, der Verhaltensforschung, der Ökologie, der Ökonomie des historischen Materialismus – bis hin zu den Ansätzen des neuen Denkens. Früchte solcher Auseinandersetzungen finden sich auch in seinen früheren Gedichtbänden Notausgang (1980) und Freiheitsmuseum (1982), die neue Sammlung repräsentiert wie in manch anderer, so auch in Hinsicht der Welthaltigkeit eine neue Qualität. Dabei ist die eigentümliche Mischung von Professionalität und Naivität, mit der Pietraß derlei Wissen aufnimmt, spielerisch verarbeitet, umformt, assoziativ bereichert und in ungewohnte Zusammenhänge stellt, bemerkenswert; nur wer auf einem so soliden Wissensfundament baut, kann sich einen so freien Umgang mit den Fakten erlauben.
Noch eine weitere, hinzugewonnene Qualität ist mir wichtig. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, Pietraß habe den Bereich seiner Lyrik gegenüber dem früher erfaßten deutlich eingeengt. Während dort so allgemeine Gegenstände wie „die Kunst zu leben“, oder der „homo novus“ (in Freiheitsmuseum) im Mittelpunkt standen, wird nun, schon durch die Verwendung der „Spiel-“Metapher – „Schattenspiel“, „Muskelspiel“, „Taschenspiel“, „Linienspiel“ lauten die Abschnittsüberschriften –, angezeigt, daß das Pathos des Nachtfahrers, Trösters, Mutmachers, Sehers zurückgenommen wird. „Bin ich ein Seher? / Biege ich Worte wie Eisen? / Im Pupillenschweißen / Die Welt zum Vers?“ heißt es in Notausgang, zwar als Frage formuliert, doch als eine, die auf Bejahung aus ist. Jetzt finden sich solche – schönen – Zeilen:

WORTE, ICH BIN MÜD. Mein Mund
so leer. Seht, wie stumm
die Melde blüht. Was will ich mehr.
(S. 69)

Was wie Resignation klingt, ist jedoch zunächst Anzeichen einer zunehmend wirklichkeitsnahen, sich konkretisierenden Weltsicht. Die drei Bände Pietraß’ stellen in dieser Hinsicht geradezu Stufen dialektischer „Selbstaufhebung“ dar: Während der erste das Zufällige, dem Autor biographisch und erlebt Zugefallene aufhebt (wie das fast entschuldigend klingende Postskriptum gesteht), vollzieht der zweite die Aufhebung durch Generalisation, zuweilen auch durch Abstraktion; Metaphern wuchern und laufen oft unscharf ineinander, konkrete Beobachtungen und Sachverhalte werden mit Bedeutungen befrachtet, auch überfrachtet. Der dritte, neue Gedichtband hebt das Werk des Lyrikers auf ein wiederum neues Niveau: Es erreicht eine nun nicht mehr private, sondern gesellschaftliche Konkretheit, das geringste Kraut wird zum Anlaß großer, gültiger Gedanken, Globales, Lokales und Triviales spielen in den Gedichten ineinander – wie in der Realität. Die allgemeinen Floskeln haben Bildern von allgemeiner Bedeutung Platz gemacht. Die Einengung auf überwiegend ökologische Gegenstände ist also nur scheinbar, die „Spiel“-Metapher verringert keineswegs den oft tödlichen Ernst des Behandelten – todernste Spiele sozusagen.
„Alles Geschehen in unserer Welt gleicht einem großen Spiel, in dem von vornherein nichts als die Regeln festliegen. Ausschließlich diese sind objektiver Erkenntnis zugänglich. Das Spiel selbst ist weder mit dem Satz seiner Regeln, noch mit der Kette von Zufällen, die seinen Ablauf individuell gestalten, identisch. Es ist weder das eine noch das andere, weil es beides zugleich ist, und es hat unendlich viele Aspekte…“, heißt es in dem bekannten Buch Das Spiel von Nobelpreisträger Manfred Eigen und Ruthild Winkler. Den Gleichnischarakter des Spiels hervorhebend, untersuchten auch marxistische Philosophen, so Herbert Hörz (vgl. etwa sein Buch: Zufall – Eine philosophische Untersuchung, Berlin 1980), auf neue Weise, mit neuen Einsichten die Dialektik von Notwendigkeit und Zufall. Das hat nun ganz unmittelbar mit dem Hauptthema Pietraß’ zu tun, und zwar in verschiedener Hinsicht:
Erstens hat sich die Sicht auf die Offenheit der Zukunft stark gewandelt. Natürlich betonten schon die Klassiker sehr deutlich, daß weder die Zukunft biotischer, noch gar gesellschaftlicher sei. Doch verführte der – berechtigte! – Stolz auf den geistigen Besitz einiger grundlegender historisch-materialistischer Gesetze manchmal dazu, auf eine im wesentlichen doch vorausberechenbare gesellschaftliche Zukunft zu hoffen. Das hat sich spätestens seit der weltweiten Diskussion globaler Probleme, von denen das der Erhaltung des Friedens alle anderen dominiert, radikal geändert.
Damit hat sich, zweitens, eine paradoxe Situation herausgebildet: Die Welt kann am Eingriff des Menschen zugrunde gehen, aber ohne Eingriffe des Menschen, läßt man die gegenwärtige Entwicklung einfach laufen, wird sie gewiß zugrunde gehen. Demnach ist die Weltgesellschaft dazu aufgerufen, die Folgen aller möglichen Eingriffe sorgfältig zu bedenken und solche, die ein, wenn auch noch so geringes, globales Risiko bergen, möglichst auszuschließen, andererseits aber globale ökologische und ökonomische Eingriffs-Instrumentarien zu entwickeln, um negative Entwicklungstrends aufzufangen.
Drittens: Da die Folgen globaler Eingriffe wie negativer Entwicklungstrends für den einzelnen oft gar nicht und für die Gesellschaft zu spät bemerkt werden, hat die Literatur hier eine wichtige Aufgabe: Zu warnen, zu verdeutlichen, sich den Sinnen Entziehendes erlebbar und damit bewertbar zu machen; solche Vor-Wertungen mit entwickeln zu helfen ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen von Literatur! Ihr widmet Pietraß einen großen Teil seines Talents und seiner Texte. „Die Überlebende“, „Das Zeichen“, „Planspiel“ beispielsweise enthalten Warnungen vor Kriegsgefahren, „Die Schattenalge“, „Durch die Blume“, „Nature morte“, „Klima“, vor allem aber das Titelgedicht „Spielball“ warnen vor unüberschaubaren globalen Eingriffen in die Natur. Das hier indirekt zitierte Beispiel sowjetischer Schriftsteller, welche die Umleitung der großen sibirischen Ströme mit verhindern halfen, macht auf die Möglichkeiten des literarischen Dialogs unter sozialistischen Wirkbedingungen aufmerksam.
Und Viertens: Billigt man der Literatur das Recht und die Pflicht zu, theoretische und praktische Vorhaben und Resultate der Wissenschaften versuchsweise zu bewerten, so muß man doch zugleich akzeptieren, daß sich die Wertung des einzelnen Schriftstellers zwar immer aus gesellschaftlichen Wertungen speist – und zwar nicht nur aus gesellschaftlich bereits akzeptierten, sondern auch aus Kontroversen, Stimmungen, Bedenken, Ängsten –, aber doch stets individueller Vorschlag bleibt, auch wenn er gesellschaftlich wirksam wird. Man sollte solche Vorschläge nicht überschätzen, indem man ihre direkten politisch-praktischen Wirkungen überschätzt, man sollte sie aber auch nicht unterschätzen. Die Künste sind ein „Sensorium“ der Gesellschaft und artikulieren, was sonst leicht überhörbar bleibt – zu unser aller Schaden. Dafür liefern Pietraß’ Gedichte eine Vielzahl brillanter Beispiele. Man muß folglich Schriftstellern ebenso wie Wissenschaftlern, Technikern, Politikern das Recht, Unrecht zu haben, zugestehen. Die Irrtümer der Schriftsteller können lästig, die der Wissenschaftler, Techniker und Politiker jedoch tödlich sein. Wer vom Schriftsteller dieselbe Sachkenntnis wie von Wissenschaftlern erwartet, begeht damit einen doppelten Fehler: Er glaubt, mangelnde Sachkenntnisse müßten zu falschen Wertungen führen, was so generell keineswegs der Fall ist, und schlimmer: Er glaubt, mit hinreichender Sachkenntnis müßten sich alle gesellschaftlichen Entscheidungen begründbar treffen lassen, ein technizistischer Fehlschluß mit möglicherweise fatalen Folgen. Zumal grundlegende ethisch-moralische und politisch-ideologische Wertungen ohnehin nicht deduktiv, sondern nur im demokratischen Selbstverständigungsprozeß der Gesellschaft gewonnen, er-lebt werden können, wobei die Literatur eine wichtige Rolle spielt.
„WAS INS NÄCHSTE JAHRHUNDERT SAGEN / Das schon in der Tinte sitzt. / Todesdatum, vorgetragen / Feuerstein, keilumblitzt.“ lautet das abschließende Gedicht, des Bandes, es umreißt zugleich eine seiner problematischen Seiten. Der hier wie in manchen anderen Gedichten anklingende elegische Grundton negiert, daß die Literatur auch die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des positiven Eingriffs in die Natur und die Gesellschaft zu artikulieren vermag. Es geht mir nicht darum, einige modisch-pessimistische Töne (etwa in „Die Schattenalge“, „Der Tiergarten“, „Das Zeichen“, „Morpheus Lied“ und anderen), die Wandervogel-Naturfreunde (etwa in „Freilauf“) oder manchen hübsch formulierten Antiintellektualismus anzukreiden („Bibliothèque Nationale“:

Doktoren imstande Haare zu spalten
stehen und können die Tinte nicht halten…
, S. 58).

Ich glaube keineswegs, daß Literatur realisierbare Vorschläge künftiger positiver Weltveränderungen zu machen in der Lage ist. Aber sie kann die Atmosphäre für solche Vorschläge schaffen helfen.

Schmerzte herznah ein Loch, verkrochst du dich nicht
Suchtest mit Eifer du Zeichen: ein Haar, ein Mal
Mein frohes Gesicht.
(„Leibgericht“, S. 48)

Zugegeben, auch ich suchte solche Zeichen. Im nächsten Band hoffe ich sie zu finden.

John Erpenbeck, Weimarer Beiträge, Heft 1, 1988

 

Der Anlaß für dieses „Für und Wider“

ist schon an sich bemerkenswert: Ein Gedichtband wird zum Gegenstand nicht der Interpretation, sondern der Meinungsäußerung. Das war lange Zeit nicht mehr Usus, auch weil die Lyrik bei uns eine Neigung zur Implosion der Bedeutungen aufwies. Immer schwerer wurden die Worte, Bilder bargen das Bedeutete, der Text tendierte zum „schwarzen Loch“. Der vorige Gedichtband von Richard Pietraß, Freiheitsmuseum (1982), machte da keine Ausnahme, wie Peter Böthig in seiner Rezension (Weimarer Beiträge, 9/1984) gezeigt hat, die als Metakritik einer sprachkritischen Intention angelegt war. Der Gedichtband, von dem hier zu sprechen ist, geht dagegen mit Themen um, die dem Alltagswissen angehören. Die viel zitierten „drei Zeitbomben“, die den Erdball bedrohen, sind die Hauptgegenstände der Gedichte und ein lyrisches Subjekt, das sich nicht totstellen will und kann.
Gedichte, die Wegmarken der ökologischen Krise abstecken, wie das Titelgedicht „Spielball“ (S. 79), verarbeiten Tatsachen. Sie bedürfen keiner erklärenden Interpretation. Jeder kennt diese oder ähnliche Informationen, wie sie im Text zusammengetragen und verarbeitet sind. Alle aufgeführten Maßnahmen waren als Verbesserungen geplant; sie sollten Naturgegebenheiten korrigieren, damit sie menschlichen Absichten besser dienen. Das Gedicht muß nichts tun, als die Linien auszuziehen bis zu dem Punkte, an dem alle diese an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gemachten Pläne miteinander kollidieren. Aus den gedanklichen Folgerungen entsteht – auf dem Papier vorerst – ein Chaos. Der Teufel sitzt hier nicht im Detail, sondern in den Wechselwirkungen. Sowjetische Schriftsteller hatten keinen geringen Anteil daran, daß das Ob-Jenissei-Projekt aufgegeben wurde, nach welchem die sibirischen Ströme umgelenkt werden sollten, um nicht mehr ungenutzt ins Eismeer zu fließen. Die Fachleute sahen die Wüsten am Kaspischen Meer bewässert; sie waren blind für den ökologischen Haushalt eines halben Erdteils. Diese Blindheit ist vielleicht spezifisch, ein Produkt der Arbeitsteilung.
Denkbar ist, daß die Akribie, mit der in Spielball Indizien für Gefahr und Beweise zu einem Strang verflochten werden, zu den spezifischen Fähigkeiten eines Schriftstellers gehört. Spielball ist nicht das erste Buch der „schönen Literatur“, das den Wissenschaftlern und Fachleuten die Kompetenz abspricht, allein und unberaten über die Natur und ihre Zukunft zu verfügen. Es steht auch nicht allein mit der Rede über die Monotonie der Nutzlandschaften („Durch die Blume“, S. 18), über die Häßlichkeit kränkelnder Wälder und saurer Flüsse („Auwald“, S. 10), über aussterbende Arten („L’art pour l’art“, S. 32). Aber das geschieht hier weder in der Haltung des Leidenden noch aus der Position dessen, der sich klüger weiß. Das lyrische Subjekt ist ganz frei von programmatischen Ambitionen und verhandelt beinah planlos die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen, die ihm von allen Seiten zukommen. Wie es sich nun aber wendet und dreht, so möchte man in Abwandlung der Schlußzeile von „Fliegender Atem“ (S. 90) sagen, von überall her empfängt es Signale des schrecklichen Metronoms.
Wieso sind sie plötzlich allgegenwärtig, die sogenannten globalen Probleme? Halten wir sie nicht sonst sorgfältig aus unserer Lebenswelt heraus? Und gelingt dies nicht in der Regel ganz gut trotz der Warnungen, Berechnungen und Vorhersagen? In den Gedichten geschieht das Gegenteil. Pietraß läßt sie in seinen Alltag diffundieren und registriert das Ergebnis.
Nun mischen sie sich ins Essen, indem sie die „Nahrungsketten“ verdächtig machen, durch die unser Tisch gedeckt ist. Die sonst harmlos und organisch wirkenden Abfolgen sehen nun wirklich wie „Ketten“ aus, an die die Menschheit gefesselt ist. Denn die „Schattenalge“, ein Phantasiegewächs und Ausgeburt der Schreibmaschine, bereitet ihren Triumph vor, weil sie die schwache Stelle der Naturbeherrschung ausgemacht hat: Sie ist als nicht brauchbar gedacht. („Schattenalge“, S. 9) Das „saftlose, kraftlose Wäldchen“ treibt Warnschilder zwischen die Liebespaare, so daß die ihren Genuß verschieben („Das Wäldchen“, S. 31). Der Fernsehabend schließlich bricht in den häuslichen Frieden und wird zur schweißtreibenden Tortur, weil er viele kleine Weltbrände bekanntgibt, die unweigerlich zum großen zusammenschlagen müssen („Lauffeuer“, S. 21). Ist es eine List der Vernunft oder wird hier in der Tat eine andere, schutzlos jeder Nachricht ausgesetzte Wahrnehmung demonstriert? Gleichviel, Pietraß nimmt die „Texte des Alltags“ für bare Münze. Wo man gemeinhin selektiert und abschaltet, da wird hier ergänzt und Aufmerksamkeit verwendet. Das gibt in einigen Texten regelrecht groteske Effekte. Jeder kennt den Code der Warnsignale durch die Sirene, und niemand will wissen, was dann folgt, wenn sie wirklich drei Minuten lang alle fünf Sekunden auf- und abschwillt. In dem Gedicht „Das Zeichen“ (S.15) wird die Präsenz dieses „Textes“, der in jedem Telefonbuch steht, durch die Fiktion eines kleinen Irrtums dargestellt. Einer rennt an einem beliebigen Abend bei irgend einem Probealarm los, weil er den „Ernstfall“ für gekommen hält. Nicht der Lauf nach einer Sicherheit, die es wohl dann nicht mehr geben würde, ist der Anlaß für die Irritation. Aber daß wir mit diesem „Fall“ umgehen, Planung erwägen und dennoch leben wie im Frieden mit Vorgärten, Hunden und Katzen, Kindern und Träumen und nicht wenigen Warnungen, das ist schon des Staunens und Schauderns wert.
Charakteristisch für den Tonfall dieser Gedichte ist ihre Vermischung von Ernst und Unernst. Vermieden ist alles, was an hohen Ton gemahnt. Es werden Reime, Assonanzen, Wortspiele gebraucht, auch die Genres werden variiert. Man findet sogar das Sonett. Es ist merkwürdig, die „globalen Probleme“ getrennt von jenem Pathos besprochen zu finden, in dessen Kontext sie sonst auftreten. Auch soll ja hier niemand angeklagt oder schuldig gesprochen werden. Nicht alle Gedichte handeln von der gequälten Kreatur oder den schwarzen Utopien, die sich aus den Hochrechnungen ableiten lassen. Vielmehr wird auch von dem geredet, was seit altersher erfreulich ist, von Reisen („Um die Ufenau“, S. 40), von Liebe („Unermeßlich“, S. 49) und von Freuden des gewöhnlichen Lebens („Poststunde“, S. 36), über die Christa Wolf sagt, daß sie uns über vieles hinweghelfen und so dem Leben wichtige Stützen sind. Geändert hat sich nur, daß die neuen „anonymen Texte“ sich überall einmischen, daß sie Vergleiche anbieten, zu Assoziationen verführen und selbst noch die Tendenz von Wortspielen regeln. Jeder kennt Tests, wo stereotype Vorstellungen abgefragt werden nach dem Muster: Was fällt Ihnen ein…? Dem Bewußtsein, das in diesen Gedichten regiert, fällt zu „nächstes Jahrhundert“ „in der Tinte sitzen“ ein (S. 99), alle Zeitmesser scheinen mit Zeitende zu drohen („Stechuhr“, S. 27), und die Naturgeschichte wird als Folge „von Opfern und Tätern… skandiert“ („Kopf Schwanz“, S. 96). Nicht zu reden von dem, was zu einem Schlachtfest oder einer Zirkusvorstellung an Assoziationen sich einstellt. Pietraß will, daß das Spiel nicht übersehen wird, das seine Texte mit den Botschaften der anderen, anonymen Texte, treiben. Denn das ist ihre Freiheit, auch wenn das Spiel bedenklich ist. Nicht immer gelingt es übrigens, diese Freiheit wirklich zu erhalten. Die gängigen Muster von Kulturkritik und Untergangsprophetie, die es inzwischen auch gibt, scheinen auch durch einige Gedichte des Bandes durch. Aber wo das Spiel gelingt, werden die Abhängigkeiten zwischen eingeübten Verhaltensweisen im täglichen Leben und jenen globalen Fragen unangenehm eindringlich. Denn die „Texte des Alltags“ verraten nicht wenig über ihre Adressaten, deren Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit und Ignoranz, wenn es um das Wohl der andern geht und die Sorge um die Zukunft. Durch die verfremdete Optik gesehen, zeigt sich so manche Quelle der Friedlosigkeit in ganz zivilen Bereichen, wie unsere schlachtende, übermäßige Lust an der Vertilgung von Fleisch zum Beispiel: „Jeder tötet, was er liebt…“, so die Sentenz am Schluß des entsprechenden Gedichts bei Pietraß („Das Schlachthaus“, S. 67), die unsanfte Technologie unserer Fortbewegung, die in dem Gedicht „Blutzoll“ (S. 94) bedacht wird, oder die Schwierigkeit, auf eine Art „Ich“ zu sagen, die ein Du gelten lassen kann: ,,Du haßt, was du liebst. / Du liebst, was ich töte… Da stammelt die Mär von Kain und Abel. / Du hast. Ich habe…“, lautet dies in der Sprache der Gedichte von Spielball.
Vor fünfundzwanzig Jahren, 1962, schrieb Karl Mickel das Gedicht von dem Warner, der wie der Rufer in der Wüste mit seinem „Ich gehöre zu den Toten des nächsten Weltkriegs.“ vor den Leuten steht, die ihn nicht hören wollen („Lamento und Gelächter“). Sie haben andere Sorgen, oder lachen die seinen hinweg. Das hat sich inzwischen grundlegend verändert. Niemand zweifelt mehr, daß sich die Bedrohungen gefährlich vermehren. Aber die Unlust ist nicht geringer geworden, wenn ein Finger auf Wunden gelegt wird. Die Texte von Pietraß sind nicht gefällig, scheren sich nicht um solche Unlust. Aber sie klagen auch nicht an und sprechen niemanden schuldig. Alles ist ja vermittelt wie hinter Zellophan, Glas oder dem Bildschirm: groteske Szenerie, die man auf mancherlei Weise aufnehmen kann. Der Ball ist jedem zugeworfen, in alle Richtungen; wer will, kann ihn aufheben.

Ursula Heukenkamp, Weimarer Beiträge, Heft 1, 1988

 

Die zeitweilige Entwaffnung der Literaturkritik

erfolgte in jüngster Zeit meist durch Prosawerke – Standardfall: Christoph Heins Der fremde Freund (1982). Gegen tradierte Aneignungsweisen macht nun auch Richard Pietraß mit seinem Gedichtband Spielball Front. Ein bemerkenswerter Vorgang: Schien es in den siebziger Jahren oftmals, daß mancher junge Lyriker mehr mit der Welt in sich als mit sich in der Welt beschäftigt war, so treffen wir in diesem Buch auf zahlreiche Texte, die in heutiges Fragen und Suchen des einzelnen wie der Gesellschaft einzugreifen suchen. Tenor ist dabei die Beziehung zur natürlichen Umwelt beziehungsweise zur vom Menschen umgeschaffenen und dabei häufig bedrohten Natur. Dabei fällt eine erstaunliche Vielfalt der Sichtweisen, Gestaltungsmittel und Formen auf. Der Blick des Lyrikers weitet sich, wenn der Erdball als Spielball (so das Titelgedicht) menschlichen Strebens nach Perfektionierung erscheint, und er verengt sich (bei wachsender Tiefenschärfe), wenn die unscheinbaren Pflanzen, die auf verwüstetem Boden noch Lebensgrund finden, erfaßt werden („Durch die Blume“). Das von kritischer Bestandsaufnahme geleitete Interesse teilt sich über Darstellungsweisen mit, die von der negativen Utopie („Die Schattenalge“) bis zur Groteske („Das Abendmahl“) reichen. Neben Gedichten, die scheinbar subjektlos sind („Stechuhr“), finden sich erklärte Selbstreflexionen („Laufpaß“). Freirhythmische Gebilde stehen neben streng in Versmaß und Reim gebundenen Texten, längere Gedichte neben epigrammatischen. Einige reiben sich an biblischen Traditionen („Die Arche“, „Offenbarung“), andere stellen in aller Härte unmittelbare Erfahrungen aus („Desinfektion“). Wodurch wird soviel Unterschiedliches zusammengehalten?
Wurde in Freiheitsmuseum (1982) noch vorwiegend chronologisch gebündelt, so brachte Pietraß nun den Mut zu zyklischer Gestaltung auf. Im neuen Band herrscht die mit großer Bewußtheit komponierte Wechselwirkung zwischen den Gedichten vor, die es kaum gestattet, einen Text als Träger der alleingültigen Botschaft zu begreifen. Die Gedichte kommunizieren nicht nur mit dem Leser, sondern auch untereinander, wodurch die Assoziationsmöglichkeiten erheblich erweitert werden. Dieser Makrostruktur, die vielfältige Brechungen und Berührungen ermöglicht, entspricht eine Mikrostruktur, die von spielerischem Umgang mit Realität und Sprache, auch mit der Realität der Sprache, geprägt ist (siehe das bei Ernst Meister entliehene Motto des Bandes!). Da Spiel seinen Sinn erst gewinnen kann, wenn es von Regeln ausgeht – und sei es, um sie überschreiten zu können –, sind sowohl Makro- als auch Mikrostruktur von spezifischen Prinzipien gekennzeichnet. Der Band gewinnt seine Proportionen aus einer Vierteilung, die durch vier Signalwörter vollzogen wird, welche als gestische Sammelpunkte von Gedichtgruppen fungieren.
So sind unter Schattenspiel Texte vereint, die existentielle Gefährdungen von Mensch und Natur in der Realität wie im Angsttraum aufzeigen. „Muskelspiel“ bietet Lyrik, die der Frage nach den Möglichkeiten und Begrenzungen menschlicher Wesenskräfte gilt, darunter findet sich auch eine bemerkenswerte Selbstortung („Um die Ufenau“, S. 40f.), „Taschenspiel“, der dritte Teil, wirkt heterogener, ohne daß diesem Sachverhalt jeweils ausgeprägte Spiel-Arten entsprechen. So wird nicht einsichtig, warum das Spottgedicht „Blibliothèque Nationale“ (S. 58) (das ohne Schaden zu nehmen, aber auch ohne gewichtiger zu werden, „Deutsche Bücherei“ heißen könnte) in die gleiche Gruppe aufgenommen wurde wie das elegische „Worte, ich bin müd…“ (S. 69) oder die beiden in herrlichen Absurditäten schwelgenden, Hans Arp gewidmeten Texte (vgl. S. 72, 73). Mag sein, daß bei Taschenspielen manches verdeckt bleiben muß, doch der sichtbare Bereich sollte stimmig sein. Jedoch ist hier einzufügen, daß es dem Autor wohl nicht nur um das positive Artistische geht (wie in dem Paul Wiens würdigenden Gedicht „Papierblume“), sondern auch um die Erfassung unlauterer Zeitgenossen („Hohe Schule“). So, wie die Signalwörter Gedichte sinnzentrierend sammeln, wirken letztere auf erstere zurück, differenzieren und erhellen. Pietraß’ Zyklus lebt von Spiegelungen. Das trifft auch auf den letzten Teil zu: Linienspiel vollzieht man auf der Grenze des Spielfelds – schwer zu bestimmen, ob man noch im Spiel bleibt oder schon ins Aus geraten ist. Diese Unentschiedenheit erscheint aber nicht in den Texten, die eher den negativen Befund konstatieren: „Moskau ans Meer springt und New York versinkt / Wenn es gelänge und es gelingt“ („Spielball“, S. 79) – „Schwarzer Tag / Tag für den Hunger leider.“ („Schwarzer Tag“, S. 81) – Welcher Zug auch „einkeucht, zwischen den Gleisen / der maustote Bussard zeigt die Richtung.“ („Apolda! Apolda!“, S. 83) – ,,Die Zunge, die mir Grund erwirbt / Pflügt den Himmel, der schon stirbt.“ („Fluchtpunkt“, S. 84) – Ein Rettungsversuch auf dem Eis („Eisgang“, S. 88) endet:

Glück, Glucksen, Glucke, letzter Dinge.

Hoffnung sinkt, indem an die Stelle des Begriffs die Sprachlosigkeit des Geräuschs tritt. – Als „Irrgast“ verläßt ein Vogel das öde „Eiland, auf dem / er nichts gewann / nichts verlor / nichts mehr sucht.“ („Irrgast“, S. 97) Diesen Gedichtschlüssen ließen sich zahlreiche andere hinzufügen.
Da bleibt nichts zu deuteln: Die Aussichten, die hier eröffnet werden, sind düster. Kann dies noch, um ein Modewort heutiger Literaturkritik aufzunehmen, als Warnbild verstanden werden? Sicherlich nicht, wenn man die Endauskunft für das Ganze nimmt. Bezeichnenderweise sind aber in den Gedichten Prozesse und Entwicklungen gestaltet; es gibt kaum einen Text, der im Zuständlichen verharrt (im Gegensatz zu den Fotos, mit denen der Autor den Band versehen hat – sie sichern menschliche Spuren auf verwüsteter Erde). Gewordensein erscheint so als Verursachtes, das seine Geschichte und seine Urheber hat. Es hat keinen Sinn, gegen diese Texte Statistiken oder die Nennung positiver Tendenzen aufzubieten. Die Gedichte sind zwar operativ, aber nicht dadurch, daß sie über reale Sachverhalte aufklären wollen. Sie zielen eher auf den Menschen, der solche Abläufe bewirkt oder zuläßt, und suchen in Motivationen und Haltungen einzugreifen, und ihr Äußerstes ist nicht der Appell, sondern das Menetekel. Gerade das Titelgedicht bezeugt solche Intentionen. Nach seiner Lektüre erinnerte ich mich an das Buch Weltall – Erde – Mensch, seinerzeit offizielle Gabe für Jugendweihlinge. Es lehrte die Zuversicht, daß die Nutzung der Naturkräfte grenzenlos ausdehnbar sei. Zieht man die Naivität ab, mit der hier eine perfekte Zukunftswelt entworfen wurde so besteht kein Anlaß, davon etwas zurückzunehmen, weil anders die brennenden Menschheitsfragen (vgl. „Schwarzer Tag“) gar nicht lösbar sind. Was damals aber keine Rolle spielte, beschäftigt uns heute immer stärker: die Frage nach der Verantwortbarkeit, nach dem fürsorglichen Umgang mit der Natur.
Diese Spannung erfüllt das Gedicht „Spielball“. Hier wird, salopp gesagt, ausgereizt, was an globalen Projekten erdacht wurde beziehungsweise denkbar ist, wobei unter das Machen die Ungemach gemischt wird:

Sibirien und Alaska verdammen verquicken
Ihr Wasser im Tausch nach Süden schicken
Im Gegenzug die Polkappen schmelzen
Dem Frostreich zu Märchenernten verhelfen
Das Weiden sprießen und England schwitzt
Onkel Tom auf glühender Platte sitzt
Moskau ans Meer springt und New York versinkt
Wenn es gelänge und es gelingt
(S. 79f.).

Die Schlußpassage entbehrt des Schlußpunkts wodurch die gefährliche Fortdauer des Prozesses veranschaulicht wird. Die durch Paarreim verbundenen Knittelverse geben den bedrohlichen Vorgängen einen eingängigen Rhythmus, der aber nicht sedativ wirkt, sondern die Abläufe dämonisiert. Im Gegensatz zu anderen Texten vermag dieser einen breiten Leserkreis anzusprechen. Allerdings mutet sein Bauplan additiv und gleichförmig an. Die Variation des Themas betrifft nur die wechselnden Örtlichkeiten. Die Aussparung einzelner Segmente würde den Gesamtbau nicht erschüttern. Jedoch weist auch er jenen Vorzug auf, der Pietraß’ Texten einen eigenständigen Platz in der Umweltfragen reflektierenden Lyrik der DDR sichert: die kritische Sicht auf den Menschen, der sich gefährdet, wenn er sein Verhältnis zur Natur als Ausbeutungsverhältnis gestaltet (am ehesten hier sehe ich eine Korrespondenz zwischen den ,ökologischen‘ Texten und den ,sozialkritischen‘ wie „Hackreihe“, „Kopf Schwanz“ und „Vom Mündel“). Daß in dieser Richtung auch neues Denken lyrisch antizipiert werden kann, belegt das 1982 entstandene Gedicht „Die Drift“.
Beziehungsreicher und mehrschichtiger als „Spielball“ erscheint mir dessen Pendant „Globus“ (S. 50). Am Ende des zweiten Teils gelegen, bietet es meines Erachtens die thematische Drehachse des Bandes. Im Gegensatz zu manchem anderen Text, dessen Sprachspiel vielen schwer erschließbar sein dürfte weil es außerhalb einer einprägsamen lyrischen Situation vollzogen wird beziehungsweise sich eine solche erst im Mitvollzug des Spiels herstellt, werden hier die Konturen des Sujets deutlich sichtbar. Ein Zimmerglobus („Windei mit dem Anhauch / der Kontinente, den Fetzen / händelsüchtiger Länder / erstarrt / im status quo“) bescheint die Liebenden:

Spärliches Licht
das uns im Finstern
leuchtet, während mein Finger
über dich hinfährt
heilste aller Welten
verdunkelt, erhellt
auf einen Knopfdruck.

Ironie und Ernst, mit Händen zu Greifendes und Subtiles, Globales und Persönliches, Gefährdung und Glück leben miteinander. In diesem Gedicht sind individueller Anspruch und epochaler Horizont zu spannungsvoller Synthese zusammengeführt. Richard Pietraß verstrickt den Leser solcher Gedichte in die Widersprüche unserer Zeit, denen nur mit Verantwortung angemessen zu begegnen ist.

Harald Heydrich, Weimarer Beiträge, Heft 1, 1988

 

Als ziemlich naiver Rezipient von Lyrik,

ungeübt im Zergliedern und Auslegen lyrischer Texte, habe ich zunächst gezögert, mich zu Worte zu melden. Wenn ich es nun doch getan habe, dann deshalb, weil mich mehrere von Richard Pietraß’ Gedichten betroffen gemacht haben. (Ich gestehe, daß ich andere nicht verstanden habe, doch das mag noch kommen). Eine erbauliche Lektüre ist der Band gewiß nicht. Da erweist sich – um nur einiges anzuführen – in „Die Überlebende“ die Spezies Rattus rattus, die Haus- oder Dachratte also, als lebenstauglicher denn die Spezies, die sich „Homo sapiens“ nennt und ihr Dasein durch die Vernichtungsgewalt der von ihr angehäuften Kernwaffen beendet. Da wird in „Apolda! Apolda!“ ein Bahnhof in schneeverhüllter Landschaft zum beziehungsreichen Sinnbild menschlichen Treibens:

Welcher Zug auch einkeucht zwischen den Gleisen
der maustote Bussard zeigt die Richtung.
(S. 83)

Spielball, auch dem ganzen Band den Titel gebend und die vorgestellte Sicht auf Mensch und Welt metaphorisch kennzeichnend, meint ein bestimmtes Verhältnis zum Erdball und seinen Bewohnern aller Art. In diesem Gedicht ist ein ganzer Katalog von die Erdoberfläche verändernden technischen Großprojekten verarbeite; von deren jedem ihre Urheber verhießen, seine Verwirklichung würde dem Leben der Menschen bessere Bedingungen schaffen. Technizistischer Über-Mut, gepaart mit einem linear-erfolgsorientierten Denken, das sich um die sich verzweigenden und wechselwirkenden Kettenreaktionen im Gefüge der Naturzusammenhänge, die unweigerlich auftreten würden, nicht kümmert, werden angeprangert. „Schwarzer Tag“ greift die Gewissensberuhigung im Überfluß Lebender angesichts der Hungernden nicht nur in Afrika an. „Fliegender Atem“ versetzt in den Disstreß, dem Körperbehinderte und ihre tierlichen Gefährten im großstädtischen Straßenverkehr tagtäglich ausgesetzt sind.
Was insgesamt vor Augen geführt wird, ist alles andere als eine heile Welt der schönen Bilder. Pietraß bezieht sich nämlich auf die Welt, in der wir leben. Genauer auf Erscheinungen und Tendenzen in der widerspruchsvollen und konfliktreichen Wirklichkeit, denen entgegengewirkt werden muß, wenn die Menschheit fortbestehen und vorankommen will. Mit seinen spezifischen Mitteln demonstriert der Dichter Tatbestände des gegenwärtigen Zeitalters der Menschheitsgeschichte, von deren geistiger und praktischer Bewältigung das Überleben und die Lebensqualität, die Zukunft der Menschheit abhängen – von der Drohung des nuklearen Infernos, der Zerstörung der Biosphäre, den auseinanderklaffenden Lebensniveaus der Völker bis zu den Schwierigkeiten für das physische, psychische und soziale Wohlbefinden der Individuen. Er sagt nicht, wie und wodurch die Menschen und, durch sie, die Umstände anders werden sollen, damit nicht so weitergeht, was stattfindet. Er stellt vor, wie das destruktive Geschehen seinen Lauf nimmt – bis zum bitteren Ende. Gerade darin aber sehe ich die Herausforderung, die Pietraß an den Leser richtet. Er schlägt Alarm, will die aufschrecken und beunruhigen, die trägen Herzens und Hirnes sind, und fordert zugleich dazu heraus, die Perspektive zu negieren, die seine Texte enthalten, damit nicht an die Stelle unbedarfter Gleichgültigkeit sich ins scheinbar Unabwendbare schickende Resignation trete. Keinesfalls allerdings ist die frag-würdige Sichtweise dahingehend zu negieren, daß aufgeschreckte Gemüter besänftigt werden, sondern so, daß Erschrecken und Beunruhigtsein für das Überleben und Vorankommen der Menschheit produktiv werden, zum Denken und Handeln führen.
Wenn ich mich recht erinnere, war es Theodosius Dobzhansky, einer der Großen unter den Biologen des 20. Jahrhunderts, der einmal den Unterschied zwischen Optimismus und Pessimismus ironisch so kennzeichnete: Die Optimisten sagen, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben, und die Pessimisten glauben ihnen das. Wenn ich angesichts der Weltsicht Pietraßscher Gedichte für die Negation der Weise plädiere, wie die zur Sprache gebrachten Tatbestände in ihnen perspektivisch gesehen werden, dann ganz gewiß nicht im Kontext solchen Verständnisses von Optimismus und Pessimismus, bei dem sich diese Einstellungen nur durch die wertende Interpretation des Bestehenden unterscheiden, mit dem sie sich abfinden. Aber die Einsicht in die Erkennbarkeit und Veränderbarkeit der Welt sowie ein Universalität anstrebendes Weltbild, das nicht zuletzt auch das Potential des Realismus und der Vernunft in der Menschheit einbezieht, begründen eine optimistische Haltung anderer Art, Optimismus, der zu Engagement und Aktivität motiviert.
Er beruht darauf, daß die Wirklichkeit in ihrer Strukturiertheit und Entwicklung begriffen wird, der objektive Gesetze innewohnen. Es sind Zusammenhänge, die bestimmen, was möglich, und damit auch, was von den Menschen machbar ist. Was den Menschen zu tun möglich ist, bedeutet stets ein Risiko, schließt also sowohl Chancen als auch Gefahren ein, die vorausschauend und beständig aus der Erfahrung lernend abzuwägen sind. Der stets geltend zu machende oberste Bezugspunkt ist Humanitätsgewinn, der jeweils konkret als Bewertungsmaßstab, Zielvorgabe und Anforderungsstrategie auszuarbeiten ist, dabei die Aufgaben des Tages mit den Erfordernissen der Zukunft verbindend.
Die Welt, in der wir leben, ist eine evolvierende Welt, deren Zukunft nicht festgelegt, sondern als ein Feld von Möglichkeiten angelegt ist. Im Realisieren von bestimmten Möglichkeiten, die andere Möglichkeiten ausschließen und neue Möglichkeiten entstehen lassen, vollzieht sich der Übergang vom Gegenwärtigen zum Zukünftigen. Die Analyse des Möglichkeitsfeldes individuellen wie gemeinschaftlichen menschlichen Handelns zeigt Alternativen und ihnen innewohnende Risiken. Sie verlangt Entscheidungen, in die Bedingungen und Interessen, Wissen und Weisheit eingehen. Zu den Aktivitäten ihrer Realisierung gehört ein ständiger Prozeß gesellschaftlichen Lernens, von Kontrolle, Kritik und Selbstkritik, der auf die Realisierung zurückwirkt. Das Wort des Dichters gehört dazu. Je schlechter dieser gesellschaftliche Lernprozeß funktioniert, um so höher wird das Lehrgeld, das die menschlichen Gemeinschaften und die ganze Menschheit zu zahlen haben – bis zum Preis der Selbstvernichtung.
Die Tatbestände des gegenwärtigen Zeitalters, auf die sich Pietraß bezieht, sind im Hinblick auf ihre räumlichen und zeitlichen Dimensionen wie ihre Komplexität präzedenzlos in der bisherigen Menschheitsentwicklung. Natürlich haben sie eine mehr oder weniger lange Vorgeschichte. In ihr hat es nicht an einzelnen scharfsinnigen und weitblickenden Warnern, Mahnern und Ratgebern gefehlt, die die Anfänge bemerkten, die Folgen antizipierten und neue Wege wiesen. Doch nachhaltiger Einfluß größeren Ausmaßes blieb ihnen versagt. Erst seit wenigen Jahrzehnten beginnt der Zustand und die Zukunft der Biosphäre und ihrer Bewohner als Ganzes im gesellschaftlichen Lernprozeß reflektiert zu werden, beginnt Denken im Maßstab des Planeten um sich zu greifen und an Klarheit und Praktikabilität zu gewinnen. Um diesen Vorgang zu beschleunigen und auszuweiten, sind Denkanstöße nötig. Pietraß’ Gedichtband Spielball gehört zu den Werken, in denen sie zu finden sind. Er ist eine Provokation zum Überleben.

Rolf Löther, Weimarer Beiträge, Heft 1, 1988

 

„Schattenspiel“, „Muskelspiel“, „Taschenspiel“, „Linienspiel“

heißen die einzelnen Teile des Bandes. „Spiel“ erscheint als konstituierendes Moment des Schöpferischen. So zu finden auch immer wieder besonders in theoretischen Überlegungen vieler Wissenschaftszweige, wie Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Ästhetik und auch Informatik. In praktischen Lebensprozessen kommt es oft vor, daß es nur auf das Kindesalter „verlegt“ wird, real spielt es aber überall mit. Diese Art Assoziationen lösen manche der neuen Gedichte Pietraß’ aus. Da wird natürlich auch das Spiel mit den Wörtern selbst gewagt, „Planspiel“ und „Spielplan“ stehen als Gedichte nebeneinander (S. 62, 63), in ihnen „Spielbein“ und „Singspiel“. Mit dem Wortspiel geht gleichzeitig ein reiches Formspiel mit metrisch-rhythmischen Mitteln einher. Bezug findet sich zu Dichtern, deren Vorliebe für das spielerische Umgehen mit der Sprache, mit den künstlerischen Gestaltungsmitteln überhaupt bekannt ist: zu Paul Wiens aus unserer Literatur und zu Hans Arp, dem frühen Meister des Dada. Das weist auch darauf hin, daß manches ins Humoristische gerückt ist, aber es realisiert sich nicht komisch, was bei der Betonung des Spielerischen angenommen werden könnte.
Diese Konzentration auf das „Spiel“ ist nicht nur „reines“ Spiel, naiv oder ohne besondere Absichten wie beim Kind. Das Spiel mit den Dingen hat tieferen Sinn, Hintersinn; es wächst sich öfter zur poetischen Idee aus, gewinnt tiefe Dimensionen. Beim Zusehen eines Spiels im Zirkus werden zwei Seiten dieses Spiels übertragenswert: „Kunstgewordene Kraft“ und auch Abneigung gegen eine Geruchsbelästigung („Hohe Schule“, S. 64). Diese Feststellung korrespondiert mit der Aussage „Verwandlung heißt das halbe Leben“. Das soll in Bezug gesetzt werden, soll die Widersprüchlichkeit der Erscheinungen deutlich machen. Aber auch „das Drama reift zum Schwank“, was wohl auch wieder nicht nur das Ernste ins Komische gerückt ausgedrückt, sondern auch das Verkommen des Komischen als verallgemeinerte Möglichkeit ist zu bedenken. Die Widersprüchlichkeit im Leben realisiert sich nicht in der Reduzierung auf Gut und Böse wie im Märchen. Das Komische verwickelt sich im Ernsten; das Lachen kann auf dem Gesicht gefrieren. Derart auf metaphorisch gewürzten und mit kunstvollen Formmitteln ausgestatteten Hintersinn vorbereitet, stößt der geneigte Leser, der es mit diesem Kunstspiel gar nicht leicht hat, auf ein sehr stark ausgebreitetes Thema, das ich etwa „das Subjekt in seiner Umwelt oder auch unser aller Umwelt“ nennen könnte. Es ist das Subjekt, das in der Umwelt wirkt, das sich dort befindlich zeigt und das auch der Umwelt ausgesetzt ist. Noch im Gedichtband Notausgang (1980) kann der Autor reflektieren:

Gebucht sind die Winkel der Erde.
Die Industrien kehren Werte, verwandeln
Abfall zu Gold…
(„Epistel“).

Doch bereits im Gedicht „Fontäne“ findet sich im Bild vom Blauwal, der nicht sehr oft auftaucht, um Luft zu holen, die Übertragung auf die Naturbedrohung, aufgegriffen als ein rücksichtsloses Abschießen. Im Gedichtband Freiheitsmuseum (1982) wird im Gedicht „Der Ringende“ die Umweltbelastung bereits ein Problem. In „Freies Feld“ ist ihm sogar die Lerche verlorengegangen, doch in „Sperrmüll“, das den sich häufenden Abfall einer in Wohlstand lebenden Gesellschaft ins Bild setzt, wird dieser Vorgang des Wegräumens als normal beschrieben, ohne in Reflexionen Negatives mitzugeben. Natur erscheint noch immer intakt, wenn in „Hohe Mulde“ der Fluß, die Bäume, Abendwind und andere Naturbilder einbezogen werden.
In dem neuen Gedichtband Spielball sind die Umweltbeziehungen zentrales Thema. Fast jedes Gedicht stellt in irgendeiner Weise Beziehungen zur Umwelt her. Bereits das Auftaktgedicht „Die Schattenalge“ (S. 9) erzeugt eine „Schreckensvision“ (Klaus Schuhmann hat diesen Begriff zum Gedicht bereits geprägt, vgl. DDR-Literatur ’85 im Gespräch, Berlin und Weimar 1986, S. 39). Desto stärker die Umwelt belastet wird, desto stärker dringt die „Schattenalge“ vor. Herbizidresistent, unverdaulich nutzt sie in der menschlichen Nahrungskette nichts; sie symbolisiert die Umkehrung menschlichen Fortschritts; ihre Massenvermehrung wäre ein Anzeichen für das Ende der Welt. Gorbatschow sprach von den „Widersprüchen globalen Ausmaßes, die die eigentlichen Existenzgrundlagen der Zivilisation betreffen“ (vgl. Bericht an den XXVII. Parteitag der KPdSU, Moskau 1986, S. 30).
Die einerseits pragmatische Diktion und andererseits allegorisierende oder symbolische Bedeutungsanreicherung verhalten sich diametral: Wachstumszunahme schafft Einbuße an Existenzmöglichkeiten der Menschen. Es handelt sich vom Charakter her um das Warngedicht, das gerade im Band sehr stark verbreitet ist. Damit verknüpft sich auch Pietraß’ Funktionsverständnis von Literatur, das sich zumindest in diesem Band sehr stark an die mahnende, aufmerkend machende Art des Warngedichts anlehnt. Diese Gedichte sollen eben anregen, genauer nachzudenken, gefühlsmäßige Wertorientierungen einleiten. Es zielt auf Beachtung ernsthafter Fragen, Probleme, sie sind so vielleicht noch nicht bedacht worden, aber sie sollen ins Bewußtsein dringen. Der Autor fühlt sich verantwortlich, seine Möglichkeiten ins Spiel zu bringen, ins Bewußtsein zu rücken. Schließlich geht es hier bei Pietraß um die Bedrohung der Natur in jeder Art; die Fragen berühren natürlich die Rüstungseinschränkung als Notwendigkeit der Friedenssicherung wie die Erhaltung des Lebens überhaupt. Die Bezugsebenen eines solchen gleichnishaften Gestaltwerts sind total.
Freilich erschöpft sich der appellative Charakter des Warngedichts sehr schnell, wie eben ständig „erhobener Zeigefinger“, gehäufte Mahnungen, überstrapazierte Verbote und Verbotsschilder Ermüdungserscheinungen auslösen, deren Folgen Gleichgültigkeit oder auch Negation gegenüber jeder Gefahr sein können. Das jedoch berührt Wirkungsfragen des Warngedichts und der Lyrik überhaupt, ist also hier nicht darzustellen.
Richard Pietraß reduziert auch nicht auf das simple, allzu direkte Warngedicht. Seine Strukturen erscheinen kunstvoller, assoziativer, spielerisch. Beispielsweise geht im Gedicht „Börse“ (S. 16) die Warnung vor dem Mittelmaß und „Minimum“ (!) reiche Assoziationen ein, die sich mit dem Spielerischen des Binnenreims verbinden, so daß auch eine erhöhte Zeilenstilbedeutung erwächst, Sie stellt schon wieder den Begriff „Börse“ überhaupt in Frage: Bestimmte Werte lassen sich nicht als materiell-ökonomische Werte handeln – „Dem Kehllaut der Meise fehlen Beweise“. Im Gedicht „Das Wäldchen“ (S. 31) erhebt sich der Gegenstand des Prosagedichts insgesamt ins Warnende, also keine einzelne Zeile, keine zugespitzte Formulierung wie in simplen Warngedichten, sondern eben der Widersinn eines Naturgebrauchs, der sich dem Liebesleben als dem Natürlichsten der Welt versperrt. Mir scheint, in solchen Beispielen kann der neue Band von Richard Pietraß neue Akzente setzen, die sich übrigens auch in der bereits erwähnten ausgeprägten reichen Formmeisterung ausdrücken. Mit Experimentierfreudigkeit erprobt und meistert er vielfältige Gestaltungsmittel, so daß auch die Ausschließlichkeit bestimmter Formmittel (und damit wohl auch eine gewisse Einseitigkeit in der bedenkenlosen Nutzung des freien Rhythmus bei Neulingen) durchbrochen wird. Es zeigt sich, daß dem Reimgedicht in vielfältiger Erscheinungsform, einschließlich Prosagedicht, neue interessante Seiten abgewonnen werden können. Formmittel und Sprache erhalten einen hohen Stellenwert für den Kunstwert der Gedichte. Sicherlich wächst in dieser Kunstleistung auch der intellektuelle Anspruch für den Leser, zumal auch die Bildsprache Mühe fordert. Diese Art des Verstelltseins erweist sich als Rezeptionsanforderung, die eben zu leisten ist. Doch die stark ausgeprägte ethisch-moralische Fragestellung nach dem Fortbestand des Menschlichen überhaupt geht natürlich jeden an. Und leicht sind wohl alle diese Fragen und Probleme der neuesten Zeit ohnehin nicht zu lösen. Sie fordern uns alle heraus, zwingen zur geistigen Durchdringung und Bewältigung. Insofern kann eine so auf hohe geistige Kultur gerichtete Lyrik nicht fehlen, schon gar nicht wegen einer nicht zustandekommenden Massenwirksamkeit. Eine Reduzierung der Probleme auf Unterhaltungswert ist hier nicht am Platze. Lyrik gewinnt an Verantwortung, nimmt Funktionen wahr, die auf neue Weise entstehen.
„Lauffeuer“ (S. 21) geht auf dieses notwendige, die künftige Entwicklung herausfordernde Denken, oft auch als das neue Denken bezeichnet, ein. Es gilt, gegen die „ungeheuren Feuer“ anzugehen, „Bunker“ oder „Gruft“ erweisen sich nicht als Lösungen. Der Leser darf auch diesen Satz nicht annehmen:

Stirb oder duck dich in vermeintliche Nischen.

So ist auch vom Autor selbst reflektiert, daß der „Kopf“ nicht zu „verstecken“ ist „im verminten Sand“. Mit dem Denken steht und fällt alles („Feuchter Hand die fliehende Stirn abwischen, mit der alles steht oder fällt.“). Gegenwärtiges Drängen nach Dialog, nach partnerschaftlicher Sicherheit sind wohl direkte Möglichkeiten dieser bereits im Prosagedicht von 1982 aus der realen Entwicklung reflektierten Problemlage der Menschheit. Zahlreiche Verse des Bandes kreisen um solche Existenzfragen, fordern daher zur Tat und zu neuem Nachdenken, besonders auch zum Überdenken, zu neuem Verhalten und zu neuen Verhaltensweisen heraus. Dazu bedarf es der Sensibilität des einzelnen und eines Weltbilds, das eben nicht reduziert sein kann:

Geschrumpft
auf das Maß einer Kuhhaut
eines Fußballs
(„Globus“, S. 50).

Im Zentrum des scheinbar spielerischen Umgangs mit den Dingen und Erscheinungen steht dann das Titelgedicht „Spielball“ (S. 79/80). Hier ist deutlich der Umschlag des Spiels ins Existentielle sichtbar. Die Erde selbst ist zum Spielball geworden. In einem chronikhaft-sachlichen Berichterstatterstil (erinnernd an Wulf Kirstens „werktätig“), in dem die lyrische Subjektivität nur noch durch die paarreimgebundene Nebenordnung und in der abschließenden Wertung „Wenn es gelänge“ sowie der Herausforderung des Widerspruchs „und es gelingt“ anwesend ist – aber eben anwesend und strukturierend! –, entwickelt sich eine Art Zentrum der Bedrohung. Ohne Strophen geformt, drängt die ganze Wucht der großen menschlichen Möglichkeiten, die sich durch die Leistungen der Technik bereits vollenden lassen, in einen Alp ökologischer Gefährdung der ganzen Erde. Das geht alle an. Jeder einzelne und das Land und der Sozialismus sind in globale Zusammenhänge gestellt. Die Wucht der Wirkungselemente dieses Gedichts zielt nicht auf Fatalismus. Pietraß attackiert leichtfertiges, gedankenloses Verhalten wie Gefühllosigkeit gegenüber heutigen Menschheitsproblemen. Sorglosigkeit kann zur Vernichtung führen. Das Spiel, das immer wieder Schöpferisches erzeugt, fordert heute nicht nur die einzelne Maßnahme, sondern die Ausdehnung des Schöpferischen auf die Erhaltung der Welt. Ohne diese Dimension gerät das im einzelnen zur einzelnen Erfindung führende Kreativ-Schöpferische unter Umständen ins Gegenteilige, in ihrer Summe zur Vernichtung der Menschheit. So muß sich eben auch das Schöpferische des Menschen um den Lebensraum der Menschen im besonderen kümmern. Diese neue Herausforderung ist zugleich die Chance der Menschheit. Um nichts Geringeres geht es in den Gedichten von Richard Pietraß.

Diese „Stele“ (S. 22) soll eben nicht einst über der Menschheit stehen:

Die das Herz im Halse tragen wird man in den Magen schlagen.
Die nicht singen und nicht sagen werden hinterhergetragen.

Ein Gegenstand erster Priorität, dem sich Pietraß widmet, dem größte Aktualität zukommt. Das scheinbare Spiel und das Spielerische erweisen sich als das Existentielle der Menschen überhaupt, aber damit ist nicht zu spielen.

Harry Riedel, Weimarer Beiträge, Heft 1, 1988

Poetisch-sinnliches Spiel mit den Worten

Mehrdeutig ist das Wort Spielball auszulegen, das Richard Pietraß zum Titel seines dritten Gedichtbandes wählte. Er ist der bisher beste Band des Lyrikers. Im bildhaften Ausdruck noch dichter, also ursprünglich dichterisch geworden, verzichtet Pietraß nicht auf den lockenden, auflockernden sinnlichen Ausdruck. Niemals schonungslos schamlos, ist er doch ohne Scheu, geistige, seelische, moralische Schmerzen zu benennen und Heilungsversuche zu zeigen. Kein Satiriker vom Schlage eines Karl Kraus, kein Humorist mit der Haltung eines Erich Kästner, ist Pietraß nicht ohne satirischen und humoristischen Hintersinn. Den kann er in kinderliedhaften Gedichten („Auwald“) derart steigern, daß die Verse wie alte Volksweisen klingen.
So streng die Gedichte häufig im Formalen sind, es sind keine Gedichte, die angestrengt wirken. Das wiederum bedeutet nicht, daß sie vom Leser nicht doch geistige Arbeit verlangen. Richard Pietraß kennt die Gesetze des Dichtens, unterwirft sich aber keinen Zwängen, obwohl er öfter als andere Altersgenossen mit seinen Zeilen auf die bewährten alten Strukturen zurückgreift und -weist.
Der Lyriker kennt die Kraft der Rhythmen und bedient sich ihrer. Er schätzt die sprachliche Harmonie des Prosagedichts und nutzt es für seine Mitteilungen, Struktur ist Pietraß so wichtig wie gedankliche Substanz und deren bildhafte Darstellung. Formales und gedankliches Gleichmaß machen die Qualität der schmalen, sorgfältig komponierten Gedichtsammlung Spielball aus.
Daß Pietraß ein bedachter und besonnener Arrangeur ist, macht der Aufbau der Ausgabe klar. Läßt der Begriff „Spielball“ berechtigterweise wechselnde Deutungen zu, so legt sich der Lyriker dadurch entschiedener fest, daß er Leitlinien einbaut, die „Schattenspiel“, „Muskelspiel“, „Taschenspiel“ und „Linienspiel“ lauten. Die ganze Sammlung ist durchdrungen von dem Spiel-Sinn des Verfassers, der eine seiner Selbstbeschreibungen in die Worte faßt:

Artist auf freier Wanderschaft
Mehr als das Ziel gibt Spiel mir Kraft

Obwohl das so frei und befreiend geäußert ist, muß immer wieder vernommen werden, was die freie Wanderschaft hindert oder verhindert. Wahrzunehmen ist auch, wie der Lyriker mit spielerischer Kraft seine Gedanken Zielen nähert, ohne alle erreichen zu können. Pietraß will vieles und dann noch, gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, eher mit dem geistigen denn körperlichen Willen. Der Lyriker, der sich emsig bemüht, Sinnlichem Ausdruck zu geben, redet fast immer mit der Sprache des Kopfes. Ein Rest von Verschämtheit und schelmische Verschmitztheit streifen der sinnlichen Sinnes-Sprache von Pietraß hautfarbene Schutzhüllen über. Aus seiner Haut kann der denkende Dichter nicht heraus, der sich gedanklich wieder und wieder häutet. Nicht die Transparenz des Ichs steht auf dem Panier des Poeten als erstes Gebot, sondern die Transparenz praktizierter Lebenshaltungen und versäumter Lebensformen. Das heißt anzunehmen, was sich von außerhalb auf das eigene Subjekt zubewegt und worauf das Subjekt zugeht.
Richard Pietraß wird am schönsten und stärksten, sobald er dem Sinnig-Sinnlich-Spielerischen in seiner Lyrik freien Lauf läßt. Um doch einmal den Leitlinien zu folgen, ist festzulegen, daß der spielerische Freilauf wohl am besten in den Versen der Abteilung „Muskelspiel“ gelingt. Das Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt funktioniert. Die eine Sphäre denunziert die andere nicht, das poetische Element nicht das politische und umgekehrt. Wer will, macht sich die ungewöhnlichen, unerwarteten, unmöglichen Gedankenspiele zu eigen oder unterläßt das, wenn er beim ersten Lesen nicht hinter jeden teils lustig, teils listig geäußerten Gedanken steigt.
Wer nicht zu viele Gedankenbälle fallenläßt, die ihm Richard Pietraß in Spielball zuspielt, hat vielleicht im nachhinein mehr Zutrauen zu sich. Vielleicht auch etwas von der Zuversicht, die der Lyriker für sich ausspricht:

WENN ICH DEM SCHWARZEN SUD
entgehe, übersteht mich Poesie
Was ich berühre, spitzen Mundes
sie bezwingt es, sie.

Wer genau hinhorcht, für den haben manche Gedichte den Klang der Glöckchen einer Schelmenkappe, ein Klang, der viel zu selten in der Lyrik des Landes zu hören ist.

Bernd Heimberger, Neue Zeit, 24.8.1987

Richard Pietrass: Spielball

Die Gedichtbände von Pietrass haben sprechende Titel: Notausgang (1980), Freiheitsmuseum (1982), Spielball (1987), kein Wunder, daß die Abstände zwischen den Erscheinungsdaten größer werden. Das Titelfoto von Spielball zeigt einen emblematisch zugerichteten Erdball, erlaubt so also nicht, den Titel ganz persönlich zu nehmen. Wie ironisch und ernst der Spielbegriff hier zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Titelgedicht, das zu den stärksten des Bandes gehört. Darin wird das Wortspiel, zu dem sich auch das Motto bekennt, in der Tat gezwungen, seine Wahrheit preiszugeben: es bildet jene Macher-Lust ab, die uns die Erde ruiniert, und besteht aus lauter Aufzählungen, die in der Schlußzeile doppelt gedeutet werden. „Wenn es gelänge“ (heißt es): das deutet die kecken Unternehmungen als Vorhaben mit noch phantastischem Anstrich; der Zusatz „und es gelingt“ bricht alle Phantasien ab: die rücksichtslose Umgestaltung der Erde zugunsten vorgeblich höherer Profitraten ist unsere Wirklichkeit. Da heißt es:

Die Andengletscher mit Ruß einstauben
Ihr Schmelzwasser in die Wüste schnauben
Ins Auge des Sturmes Splitter säen
Dem Meer eine Ölhaut überziehen

(…)
Irtysch und Tobol in den Aralsee heben
Den Überfluß ins Kaspische geben
Den Ob aus dem Jenissei entschädigen
Sich der letzten Schwellen entledigen

Daß wir dieses Gedicht als zentral aufzufassen haben, ergibt sich auch aus den Titeln der vier Abteilungen, die den Band gliedern: „Schattenspiel“, „Muskelspiel“, „Taschenspiel“, „Linienspiel“. Dabei gelingt es Pietrass nicht, den ironisch-kritischen Ansatz des Spielbegriffs ganz konsequent festzuhalten; vielleicht gehört sich das auch nicht für so einen Begriff. Der Autor zeigt sich recht oft verliebt in Poesie als jene Macher-Kunst, die er eigentlich problematisieren wollte oder müßte. Freilich muß gesagt werden, daß die Wortspiele nicht purer Dichterlaune entspringen. Sie sind der Versuch, der Rede, die uns täglich als Machtwort erreicht, ein wenig Wortmacht entgegenzusetzen; dem verfügenden Gestus von Sprache beizukommen, indem man eine Lippe riskiert, die „Rede wendet“, wie Kito Lorenc sagte, der das Wortspiel zu hohen Ehren gebracht hat. Wo das Gedicht als Gegen-Wort gefaßt ist, gewinnen auch die rhetorischen Figuren wieder mehr Ansehen. Dazu zählt der Chiasmus, die Überkreuzstellung von Worten, wie wir sie in der Umkehrung von Machtwort in Wortmacht schon angedeutet haben. Das aber ist ein viel zu optimistischer Chiasmus, der denn so bei Pietrass auch nicht vorkommt. Er zeigt eher, wie die Spiele sich in sich selbst verfangen, wie sie keine Aussicht öffnen, etwa wenn er Planspiel und Spielplan gegenüberstellt. Das Gedicht „Planspiel“ ist ganz aus Zitaten gefügt, die von Goethe bis Brecht reichen, also das kulturelle Erbe vergegenwärtigen. Daß das Spiel auch noch dem Plan, und damit direkten Produktionsfunktionen, unterstellt wird, ist eine böse Pointe. Die Umkehrung „Spielplan“ (als Gedicht übrigens viel schwächer) hilft auch nicht weiter: das geplante Spiel, das Theater, hat seine ästhetische Form nicht sprengen können. Das genau in der Mitte des Bandes untergebrachte Gedicht „Vom Mündel“ gibt gewiß einen Hinweis auf die Gründe. Es ist nach der rhetorischen Technik der Anapher gebaut, vermutlich nicht ohne Seitenblick auf Christa Reinig oder Hans Magnus Enzensberger, die solche Gedichte geschrieben haben. Es gibt einen Wenn-Satz am Anfang:

Wenn dem Mündel wohl ist, macht es einen Knicks
und bittet den Vormund, seine Hand lassen
zu dürfen für ein paar Tage

Dann folgen lauter Dann-Sätze, wobei vor allem das fruchtlose Vergehen der Zeit abgebildet wird, etwa in Satzformen wie:

Dann vergeht die Zeit (…)
Dann wird es ermahnt, nicht ungeduldig zu sein
Dann wartet es
Dann wartet es
Dann versteht es die Welt nicht und wünscht sich aus ihr
Dann wartet es

Pietrass zeigt am Übergang von Mündel in Bündel, daß es auf jeden Buchstaben ankommt und daß dies kein Spiel mehr ist: „Dann prüfen dreimal zwei Männer, ob das Mündel wirklich das Mündel ist“. Die Entmündigung erwachsener Menschen als Alltagspraxis wird mit vielen literarischen Anspielungen durchsetzt, auf Heraklit, auf Goethe, auf Thomas Mann, was die Funktion der Kultur bezeugen mag, das Mündel ebenfalls still zu halten.
Entsprechend lassen sich die Sprachspiele dieser Lyrik als Absage an solche Einschüchterungen lesen, wenn auch vieles nicht mehr revozierbar ist. Pietrass nimmt die alte Form des Ghasels auf; die vielen Reime, durch Binnenreim noch verstärkt, sollen zeigen, daß da für Ungereimtes kein Raum mehr ist:

Als Junge war ich ungehalten, die Zähne dichter, blank.
Der neue Mensch in mir, gespalten, der alte magenkrank.

So wirkt auch der lässige, alltagssprachliche Trost „Verwandlung heißt das halbe Leben“ eher zynisch, wo die Halbierung strikt genug als Spaltung des Selbst gedacht ist. Die Einengung der Lebensverhältnisse wird als Thema allenfalls durch die Bedrohtheit der Welt relativiert; beinahe ist die apokalyptische Perspektive in diesem Bande sogar vorherrschend; und so sind wir wohl am besten beraten, diese Gedichte im Sinne Erich Frieds als Warngedichte zu lesen, die von Grabenkriegen, Fluchtburgen und Verriegelungen sprechen, die alle nicht nötig sein sollten.

Worte, ich bin müd. Mein Mund
so leer. Seht, wie stumm
die Melde blüht. Was will ich mehr.

Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 4, 1987

Spiel und Botschaft

In seinem Diskussionsbeitrag auf dem IX. Schriftstellerkongreß 1983 sprach Richard Pietraß von einer Gefahr, die neben atomarer Vernichtung unserem Planeten droht:

die schleichende, aber immer schneller fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Umwelt.

Diese Sorge um Welt und Umwelt artikuliert sich in dem Gedichtband Spielball, nach Notausgang (1980) und Freiheitsmuseum (1982) dem dritten des Lyrikers. Er enthält Texte der Jahre 1981 bis 1985.
Das Gedicht, das ihm den Titel gab, stellt eine Mentalität in Frage, die auf die Unterwerfung der Natur aus ist, ohne die regionalen, kontinentalen, globalen Folgen tiefer Eingriffe in sie zu bedenken. Doch wie, kann den Wuchs der Natur bedrohendes „naturwüchsiges“ durch weltweit bewußtes Handeln abgelöst, wie kann technokratisches Denken zurückgedrängt werden, wie verhalten sich Systemauseinandersetzung und systemübergreifende Entwicklungsprobleme zueinander? Kann ein Gedicht auf solche Fragen Antwort geben? Wichtig ist wohl, daß es eine Denkweise ausbilden hilft, mit der gültige Antworten gefunden werden können.
Gleich das Eingangsgedicht des Bandes, „Die Schattenalge“, demonstriert die Unersetzbarkeit lyrischer, metaphorischer Ausdrucksweise.

Wo nichts mehr fruchtet, im toten Winkel
auf der Kehrseite der Medaille
hat sie ihr stilles Auskommen.

Sein Schluß:

Im tickenden Schatten blattloser Eisenstämme

In Betonsilos, Meilen unter dem Meer.
Unbeirrbar sich vermehrend, wächst sie
Vom Ende, der Welt auf uns zu.

Wovon wir uns nur schwer einen Begriff machen, dort springt die Metapher ein, das schwerer als die rationale Feststellung und Warnung abweisbare unheimliche Bild einer schleichenden Apokalypse. Das Gedicht „Auwald“ ruft die vier Apokalyptischen Reiter auf, nicht pathetisch, sondern – und gerade dadurch wirksam – im heiter-albernem Wortspiel, wie wir es von Kinderversen kennen:

Durch Pappeln trappeln die vier Reiter.
Wie wir auch zappeln, sie ziehen weiter.
Finstre Lichtung, fauler Plunder. Hol über, Holunder.

Noch ein Beispiel für Pietraß’ ernstes Spiel mit Worten und Bildern – das Gedicht „Schwarzer Tag“ ist eines über den Hunger in der Welt:

Tag für die kuhäugigen Kinder auf Spinnenbeinen
Gebeintag
Und den die Wüste höhnenden Wasserbauch
Tag der in Schlangen klappernden Löffel
Klappertag
Und des guten schlechten Gewissens…

Diese Zitate mögen einen ersten Eindruck von der poetischen Eigenart dieses Bandes geben, der sich in vier Abteilungen gliedert: „Schattenspiel“, „Muskelspiel“, „Taschenspiel“, „Linienspiel“. Die Überschriften laden ein zu einem Spiel mit vorder- und hintergründigen Bedeutungen. So stellt das „Schattenspiel“ im Sinne Dürrenmatts schlimmstmögliche Wendungen von Entwicklungen vor, ist das „Linienspiel“ ein gewagtes Spiel auf der Linie, neben dem drohenden Aus.
„Ernst ist das Leben, heiter die Kunst“ – kann man das Schiller-Wort auf Pietraß’ Texte anwenden? Von spielerischer Unbekümmertheit kaum eine Spur. Vertragen sich Kummer und Spiel? Kunst, gleich welchen Gegenständen und Themen sie sich zuwendet, ist immer auch Spiel. Pietraß bekennt sich dazu, als Motto seines Gedichtbandes wählte er eine programmatische Äußerung des BRD-Lyrikers Ernst Meister:

und wärs auch
Wortspiel, es schafft sich
Wahrheit

So artikulieren sich Sorge und Not artistisch; der Widerspruch des Was und Wie, von Ohnmacht angesichts übermächtig scheinender Fehlentwicklungen einerseits und der Macht sprachlicher Benennung andererseits, verleiht der poetischen Konzeption Pietraß’ ihre Originalität und nachhaltige Wirksamkeit. Das Spiel ist nicht schon die Botschaft, und die Botschaft ist nicht Spiel; an der Reibung beider entzündet sich die Wahrheit.
Die sprachexperimentelle Richtung ist in unserer Lyrik ausgeprägt. Der Mehrdimensionalität der Wörter gilt die Aufmerksamkeit. Alltäglicher Sprachgebrauch soll schneller Verständigung dienen, erstrebt mithin Eindeutigkeit, Lyrik aber erfreut sich gern an überschüssigem Sinn, eröffnet der Sprache Frei- und Spielräume. Welemir Chlebnikow ist solch Spiel-Meister, Pietraß widmete ihm in Freiheitsmuseum ein Gedicht. Im vorliegenden Band gibt er in zwei Gedichten seiner Neigung zu Hans Arp direkt Ausdruck. Und nicht vergessen sei das schöne Memorial „Papierblume“, das den Wort- und Sinnspieler Paul Wiens bewundert.
Nun ist es – wenn überhaupt – in den seltensten Fällen so, daß das Schaffen eines Autors und eine literarische Richtung deckungsgleich sind. Drang zur Selbstaussage und Selbstvergewisserung prägen nicht minder Pietraß’ Gedichte, und es macht gerade die Eigenart des Autors in der gegenwärtigen Lyrik der DDR aus, daß er, wie Peter Böthig in einer genauen Analyse zeigt (Weimarer Beiträge 9/84), den „Widerspruch zwischen direkter Selbstaussage und dem ,Material‘ Sprache im Gedicht austrägt“.
Freilich muß Böthigs Hinweis auf bekenntnishafte Ich-Aussage als die neben dem Sprachexperiment andere Grundtendenz relativiert werden. Nicht nur ist der Blick des Lyrikers gleichsam naturwissenschaftlich geschult, Gedichte wie „Die Überlebende“, „Durch die Blume“, „L’art pour l’art“, „Hackreihe“, „Kopf Schwanz“ beziehen auch ihre Gegenstände aus Ökologie und Ethnologie, erörtern als Lehr- und Warngedichte Lebensmuster, -modelle und -mechanismen. Fülle der Lebensäußerungen. „Muskelspiel“ zwischen Auftrumpfen und zarter Zuneigung. „Um die Ufenau“, die Insel im Züricher See – eine Hymne auf die Natur, auch die eigene, nicht im Stil Klopstocks, sondern im Frei-Stil Pietraß’. Reisebilder, Alltägliches – der „Amok“lauf gegen den Staub, der „Freilauf“ vor die Stadt, Ergriffensein von menschlichem Schicksal: Liebe, Alter, Tod; Niederschlag von Stimmungen im lyrischen Aphorismus – poetische Entdeckungen lassen sich schwer katalogisieren. Gibt es auch thematische Schwerpunkte, eine Monokultur wird mit diesem Band nicht angelegt.
Das Welt-Bild dieser Gedichte ist von der Hochachtung vor der Vielfalt des Lebendigen geprägt; seiner Mißachtung, individuell schuldhaft oder schuldlos, gilt das kritische Augenmerk. Auf kollektive Anstrengung, die zivilisatorischen Entwicklungsprozesse zu bewältigen, zielen die Gedichte: doch das lyrische Ich betritt die Szene als Einzelgänger und Einzelsänger. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers:

Artist auf freier Wanderschaft
Mehr als das Ziel gibt Spiel mir Kraft

heißt es im Gedicht „Laufpaß“. Pietraß’ hohe Schule der Kunst, des Spiels und der Formzucht empfiehlt sich, könnte man sein Konzept umreißen, als Akt der Daseinsbewältigung, beständig und selbständig. Nicht die Doppelmoral à la Benn, der dem Bürger und dem Künstler streng geschiedene Daseinsbereiche zuwies, stimuliert hier Anstrengung der Kunst, vielmehr erscheint Ästhetik als eine Form- und Haltungslehre, deren Bedeutung und Wirkung über künstlerisches Tun hinausgeht.
Soll die Botschaft überzeugen, bedarf es der Beherrschung des Handwerks. In seinen Vorlesungen agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven bemerkt Peter Rühmkorf:

Allerdings scheint die gereimte Strophe heute an eine Schallgrenze gelangt, die nur durch ein Nonplusultra an Kunst oder durch eine schon gar nicht mehr vorstellbare Einfalt zu transzendieren ist, eines so heikel und widersprüchlich wie das andere

Ein solches Nonplusultra begegnet einem in diesem Band. Jedem germanistischen Seminar sei er als vergnügliches Lehrbuch der Reimkunst empfohlen. In ihm findet man nicht nur die vertrauten Reimcharaktere Außenreim und Binnenreim, Stabreim und Vokalreim, sondern auch den Schlagreim (bei dem die sich reimenden Wörter unmittelbar aufeinander folgen) bzw. den Pausenreim, bei dem, durch eine Pause getrennt, das letzte Wort einer Zeile mit dem ersten der nächsten verbunden ist. Der Haufenreim wird im Gedicht „Hohe Schule“ verwendet, der gleiche Reim also für immerhin vier Zweizeiler; das vierstrophige Gedicht „Weltkind“ kommt mit nur einem Kreuzreim raus. Kunstvolle Textgewebe mit gleitenden Reimen finden sich, wie schon in Freiheitsmuseum, in auffälligem Maße, Zusammenhang und Zusammenklang allerorten, aber auch der Reim ist dialektischer Natur. Gerade für das Widerspiel von Form und Botschaft in Pietraß’ Texten gilt Rühmkorfs Hinweis auf die dissonante Seite des Reims:

Ich möchte sogar behaupten, daß die Vertrauenswürdigkeit einer Reimbindung aufs innigste mit ihrer Fähigkeit (nein, ihrer Absicht!) zusammenhängt, Querstellung zu verkörpern und noch im lieblichsten Zusammenhang Entzweiung anzuzeigen.

Pietraß’ Reimkunst zeigt, daß es nicht nur ernste, sondern auch strenge Spiele sind, die der Lyriker veranstaltet. Hat er sich die Spielregeln des jeweiligen Textes gegeben, beispielsweise in Strophengliederung und Reimbindung, sind sie Gesetz. Das Sprachexperiment wird von ihm – im Unterschied zu den Versuchen anderer Lyriker – keineswegs bis zur Auflösung der Syntax getrieben. Nicht wenige Texte liefern gleichsam bildhafte Argumentationsketten, der Lyriker ist interessiert an – auf ihre Weise strengen – poetischen Definitionen. Das Gedicht „Stechuhr“ beginnt:

Feuerwerk soll dem Feuer wehren. Fortbestehen heißt siegen.
Sapiens sapiens wankt am Steuer, Rechner helfen Kurven
kriegen.

Stringente Formen, stringente Formulierungen weisen dem Spieltrieb des Lesers Grenzen. Dieser Gedichtband ist ein „Freiball der Welt“, um eine Metapher Jean Pauls zu zitieren, auf dem der Autor als „Vortänzer“, der Leser als „Nachhopstänzer“ fungiert. Ohne Kunstfertigkeit zu beargwöhnen – wer sorglos über Natürlichkeit, bzw. Künstlichkeit poetischen Ausdrucks spricht, bewegt sich oft nur in der Sphäre des Geschmäcklerischen –, schienen mir doch 1984 und 1985 entstandene Gedichte wie „Blutzoll“ und „Fallinie“ Lockerungsübungen zu sein, sie sind dem Autor und uns zu gönnen. Vorführungen in dieser freieren poetischen Disziplin könnten sein Programm bereichern.

Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 416, August 1987

 

QUASI NON POSSIDENTES

als ob wir nicht die besitzenden wären
schreiten wir über den deich, komponieren quartette
für schafsstimmen, schafsköpfe, sopranschafe
klarinettenschafe, dudler und zitterer, wer möchte leben
ohne den trost der schafe, ihr zotteln, trotten,
vergnügtes glotzen, ganz zu schweigen vom lümmeln
in hanglage (ließe sich existenz besser beschreiben?)
wir (d.h. nicht eigentlich wir) ihre besitzer mögen sie
scheren und schächten sie aber harren in ihrem
kosmos aus knabbern und pinkeln mit dem über allem
thronenden gott der gleichmut und der wolle

(dem richard pietraß der poesiealben und chausseestraßen)

Michael Speier

 

 

Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG 1 & 2 +
DAS&D + Übersetzungen 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00