Richard Pietraß: Wandelstern

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Pietraß: Wandelstern

Pietraß-Zettl-Wandelstern

DER WANDELSTERN

Auf einem Haufen Bauschutt
babelhoch
harre ich, übernächtigt
des geschweiften Sterns.

Faustbreit
überm gereckten Arm
soll er
am Horizont erscheinen.

Märzkälte steigt
durch die Sohlen
derweil meine Augen
im Dunstkreis dümpeln

und unten, hinter Ketten
und Stangen, die Schläfer
geballter Faust
ihren Unstern verträumen.

Da glänzt er! eisiges
Reiskorn im Milchbart Gottes.
Eintagsfliege
seiner zeitlosen Weile.

Staub, der sich im Flug
verzehrt, streunendes
Orakel! Erleuchtet
tappe ich zurück – in meine Spalte.

 

 

 

Nachwort

Es muß im Frühjahr 1986 gewesen sein, als ein Freund einen Autor nach Jena lud, uns einen Text vorzustellen, den es offiziell gar nicht gab: „Vom Vergehen der Arten“ hieß der Essay, den Richard Pietraß 1982 nach dem Erleben einer Darwin-Konferenz für Sinn und Form verfaßt hatte. Während die Wissenschaftler stolz Belege für die Theorie von der Entstehung der Arten sammelten, begann sich der Dichter zu fragen, ob ihrem Begründer im Hier und Heute nicht etwas anderes wichtiger wäre: die Nachricht, daß jeden Tag auf der Erde eine Art aussterbe, zu deren Herausbildung es Tausender Jahre bedurfte!

Ich sehe uns in rasender Fahrt.

Hieß es am Ende des Aufsatzes, den die Zeitschrift nicht veröffentlichen wollte. „Wer redet von Bremse?“ 1987 erschien die ebenso ungeliebte wie unabweisbare Frage in dem Band Windvogelviereck. Schriftsteller über Wissenschaften und Wissenschaftler. Und im gleichen Jahr kam der Gedichtband heraus, aus dessen Manuskript Pietraß im Jenaer Studentenclub las: Spielball – die Vision einer Erde, auf der alles machbar ist. Wo „Polkappen schmelzen / Dem Frostreich zu Märchenernten verhelfen / … / Moskau ans Meer springt und New York versinkt / Wenn es gelänge und es gelingt“.
Während ich dies schreibe, beginnt New York, die Trümmer der größten Naturkatastrophe seiner Geschichte zu beseitigen, und fordert der Bürgermeister der Stadt, in dem überstandenen Wirbelsturm den Vorboten kommender zu sehen, den selbst verschuldeten Wandel des Klimas nicht länger zu leugnen. Wir selber sind die Katastrophe, unsere Art, sich der Kräfte der Natur zu unserem Nutzen zu bedienen, ohne Rücksicht auf die Folgen für das Ganze des Lebens auf dieser Erde.
Daran hat auch die „Wende“ nichts geändert. Als Sohn eines ostpreußischen Müllers 1946 im sächsischen Lichtenstein geboren, war Richard Pietraß Metallhüttenwerker und Hilfspfleger, bevor er klinische Psychologie studiert hat. Seit 1979 als Schriftsteller, Nachdichter und Herausgeber tätig, treiben ihn noch immer die alten Fragen nach unserem Erdendasein um, die nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben.
Dies zeigt der vorliegende Band, der zum erstenmal die Naturgedichte des Lyrikers vereint. Auch der „blaue Planet“ ist ja ein Wandelstern, wie der Jahrhundert-Komet Hale-Bopp, dessen Beobachtung das Titelgedicht der Sammlung beschreibt: ein Staubkorn, das nach kosmischen Gesetzen seine Kreise zieht, auf ehernen Bahnen durchs Weltall wandelt. Und doch zugleich ein Ort der Verwandlung: mit einer hauchdünnen Atmosphäre umhüllt, lebensspendend und bedroht von den Wesen, die er, sich selber wandelnd, hervorgebracht hat.
Genau diese fragile, zerbrechliche Schönheit des Lebens auf Erden bringen die Gedichte von Richard Pietraß zur Sprache: in mehrfacher Brechung der Verse und des Reims, streng gebunden und beweglich dennoch, einfach und mit artistischem Raffinement. Ebenso vielschichtig sind die vier Blätter, die der Kupferstecher Baldwin Zettl für den Band schuf. 1943 in Falkenau an der Eger geboren, hat er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert und lebt heute in Freiberg. Fast gespenstische Ruhe, Ernst und Würde strahlt sein geschundener Baum aus. Das Frontispiz zum Gedicht „Freitisch“ verdichtet mit allegorischen Mitteln die Stellung des Menschen in der Natur, die ihm all ihre Früchte bietet. Der Gepard, von einer Kugel gejagt, steht für Kraft und Eleganz im Tierreich. Der Beobachter des Wandelsterns dagegen zeigt sich in seiner Verlorenheit, gleichsam sich selbst verkrümmend wie ein lebendes Paragraphenzeichen. Bilder und Texte, die im besten Sinne des Wortes zu denken geben.

Jens-Fietje Dwars, Nachwort

 

Anti-Idyll

–Die Naturgedichte von Richard Pietraß. –

Vor ein paar Jahren wäre es um die Menschheit fast geschehen gewesen. Hale-Bopp, ein etwa 40 Kilometer dicker Komet aus Eis rauschte 1997 nur knapp an der Erde vorbei. Wandelstern nannte Richard Pietraß damals lakonisch seine lyrische Hommage an jenes „babelhoch“ schimmernde „Reiskorn im Milchbart Gottes“. Seine Naturgedichte aus fast 30 Schaffensjahren tragen nun denselben Titel. Sie mahnen an die fortschreitende Bedrohung hausgemachter Umweltzerstörung; und sie stellen den Berliner Autor in der Vielfalt seiner poetischen Gewänder vor. Schon Anfang der 1980er Jahre setzte sich der gebürtige Sachse für den Schutz bedrohter Tierarten ein, was ihm den Zorn der fortschrittsgläubigen DDR-Parteioberen eintrug.
Im Land von Buna und Leuna, getragen von europaweiten Protesten gegen das Waldsterben, sprang er lyrisch dem von „Pech und Schwefel“ bedrohten Baum, dem „Ringenden“ bei, den „die Dampframme des Straßenbaus“ bis in die „jüngsten Wurzeln erzittern“ ließen.
Die versehrte, verfremdete, auch dämonische Natur ist ein Topos moderner Dichtung von Georg Heym über Brecht bis Huchel. Der Skeptiker Pietraß steht dieser antiidyllischen Linie näher als den mal göttlichen, mal magischen Gebirgen und Wäldern, Gärten und Gewässern von Goethe bis George, von Brentano bis Sarah Kirsch. Pietraß preist seinen „Gepard“ so leidenschaftlich wie Rilke seinen „Panther“, doch schickt er dem „Bodenadler, jagend in der Mittagsglut“ die nüchterne Realität der Trophäenjäger hinterher:

Kühl sucht eine Kugel dich im Flug.

Was nicht heißt, dass diese Naturgedichte sich im Finsteren vergraben. Munter blühen Worte und Stile, „Rappelschäume, Zappelträume“, „Honignäpfchen, Schüttelwiege“. Kaum ein Reim kuscht vorm Kalauer:

Laus um Laus im Affenpelz.
Auf dem Reißzahn rostet Schmelz.

Schmunzelmaterial auch Pietraß’ funkelnde Dichte aus Scharfsinn und Ironie wie in „Auwald“:

Der Himmel hat das letzte Wort.
Es taumeln ihm die Vögel fort.
Im tauben Ei das blaue Wunder.
Hol über, und Holunder.

Rund 30 Bücher hat Pietraß veröffentlicht, überwiegend mit Gedichten. Er übersetzte Seamus Heaney und Boris Pasternak und ist Herausgeber der neu aufgelegten Lyrikreihe Poesiealbum. Seine Naturgedichte werden nun von Kupferstichen des Grafikers Baldwin Zettl begleitet, der auch eine Ausgabe von Goethes Faust illustrierte. Kostbare Gestaltung kennzeichnet die Edition Ornament, in der Pietraß’ Wandelstern erschienen ist. Als Vorbild dient Kurt Wolffs legendäre Broschurreihe Der Jüngste Tag.
Die alte Frage, inwiefern es Kunst vermag, politische Gegenwart zu verstehen, durchmisst Pietraß auf dem „Gartenweg“ im „Vaterwald“, zwischen „Abraum“ und „Aberraum“. Zugleich sichtet er, „was schon geschrieben steht“ und legt es darauf an „zu ersinnen / Aus alten Fäden andres Garn zu spinnen“.

Thomas Wild, der tagesspiegel, 7.7.2013

Lyrik fürs Anthropozän

– Die ,Naturgedichte‘ von Richard Pietraß. –

Offiziell ist er noch nicht, denn bei einer neuerlichen Abstimmung der Internationalen Kommission der Stratigraphen wurde die Entscheidung vertagt. Aber der vom niederländischen Atmosphärenforscher und Nobelpreisträger Paul Crutzen vor zehn Jahren ins Spiel gebrachte Begriff des ,Anthropozäns‘ findet immer weitere Verbreitung. Damit wird ausgedrückt, dass wir ein neues erdgeschichtliches Zeitalter angetreten haben, das das seit Ende der Eiszeit vor 10.000 Jahren andauernde Holozän ablöst – ein Zeitalter, in dem der Mensch einen bestimmenden Einfluss auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde erlangt hat. Artenverlust und Klimawandel sind die äußerlichen Zeichen des vom Menschen langfristig veränderten Planeten, für dessen Gestaltung wir ab jetzt wohl oder übel Verantwortung übernehmen müssen. Die Sichtweise des Anthropozäns erfordert deshalb ein neues Weltbild, in dem Natur mit Kultur und Technik verwoben ist. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt läuft gegenwärtig ein transdisziplinäre Anthropozän-Projekt, das mit wissenschaftlichen und künstlerischen Mitteln den mit diesem Konzept verbundenen neuen Positionierungen des „Menschlichen“ nachspürt, und zu einer öffentlichen Diskussion über unseren Umgang mit der nichtmenschlichen Umwelt anregen will. An der für künftige Generationen lebenswichtigen Aufgabe der Bewusstmachung der Risiken, die unserer Lebensweise innewohnen, und der Artikulation von anderen Möglichkeiten arbeiten aber schon spätestens seit der Romantik die Literatur, und vor allem die Lyrik. „Fortschritt heißt: das Bunte schwindet“, lesen wir bei Richard Pietraß, der seit über drei Jahrzehnten auch dabei ist, mit Gedichten, die das Selbstverständnis des homo technicus in Frage stellen und die Verflechtung des menschlichen Lebens im Netz vielfältiger ökologischer Beziehungen und gegenseitiger Abhängigkeiten hervorheben.
Fünf Bände Lyrik hat Pietraß veröffentlicht, drei zu DDR-Zeiten, zwei seit der Wende, dazu diverse kleinere Hefte mit Gedichtzyklen, und zwei wichtige Essays, „Vom Vergehen der Arten“ und „Die verwundete Riesin. Bedrohte Natur im deutschsprachigen Gedicht des 20. Jahrhunderts“. Nun liegen seine gesammelten Naturgedichte unter dem Titel Wandelstern vor und laden zur erneuten Lektüre sowie zur Bilanzziehung ein. Der schön aufgemachte und mit faszinierenden Kupferstichen von Baldwin Zettl illustrierte Band enthält sechzig zwischen 1979 und 2006 geschriebene Gedichte in lockerer chronologischer Abfolge. Wenn man sie liest, wird einem bewusst, welche gedankliche und ästhetische Möglichkeiten abseits vom didaktischen Impuls einer besserwisserisch-abkanzelnden Öko- oder Umweltlyrik bestehen. Crutzen setzt den Anfang des Anthropozäns um 1800 an, schreibt aber vom Einsatz einer neuen Phase in den 1980er Jahren. Aus dieser Zeit stammen auch ausgesprochene Warngedichte von Pietraß – etwa „Lauffeuer“, wo gefragt wird, ob es nicht schon zu spät zur Umkehr ist, und „Spielball“, über grosstechnische Lösungsversuche für Umweltprobleme. An deutlichen Worten fehlt es hier nicht, wird doch häufig über Umweltverschmutzung, Zerstörung von Landschaften und Artenverlust geklagt. Apokalyptische Bilder und das Motiv der Rache der Natur findet man in Texten wie „Die Schattenalge“ und „Die Überlebende“, die von der damaligen Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs zeugen.
Daneben schöpfen aber viele andere Gedichte aus der großen Tradition der Naturlyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, indem sie explizit oder versteckt an Zeilen von Rilke, Loerke, Brecht, Huchel und anderen Erneuerern der romantischen Tradition anspielen. Vom Auftakt „Freitisch“ (1980) bis zum Schlussgedicht „Brockenweihnacht“ (2006) erinnert sich der Dichter an Begegnungen mit der Natur als Momente eines intensiv gespürten körperlich-sinnlichen Wohlseins. Meist ist er allein, manchmal aber auch in Begleitung von Freunden oder der Geliebten. „Die Stille kroch uns bis ins Herz“: Bewunderung der Schönheit der Natur und Dankbarkeit für das Beschenktwerden des am Freitisch des „Grünen Herrn“ Genießenden sprechen aus diesen Versen. Es überraschen dabei immer wieder Bilder, Komposita und Wendungen, die unerwartete Einsichten vermitteln. Die Neigung des Dichters zur Melancholie wird auch durch ironische Wortspiele und Freude an Lautmalerei sowie der spielerischen Handhabung von mit Metrik, Reim und strengen Formen aufgehoben. Diese Gedichte wollen laut vorgelesen werden, um ihre volle Wirkung zu entfalten.
Das Grundthema des Ineinanders von Mensch und Natur bzw. von Natur und Zivilisation findet einerseits Ausdruck in Gedichten, die über Umweltverschmutzung und -zerstörung klagen und Betroffenheit über den so oft gewaltsam-tödlichen Umgang mit Tieren äußern. Andererseits drücken sie aber auch Bewunderung der Selbstbehauptungskraft von Vögeln und Bäumen, und Einfühlung in ihr Leben aus, und spüren Parallelen mit dem menschlichen Leben in ihrem Schicksal nach. In einer Reihe von Gedichten wird die Situation im Zoo angesprochen, wobei die Feststellung von Gemeinsamkeiten des menschlichen Lebens mit dem tierischen überwiegt: Tiger sind „triste Streifenbrüder“. Tiere und Pflanzen werden anthropomorphisiert, während das Körperlich-Natürliche am Menschen hervorgehoben wird. Sogar das Zivilisatorische kann als Tier erscheinen, etwa im Haiku:

Im Kriechspurfenster
Der Lastzug rosiger Rüssel
ins Maigrün gereckt.

Der Mensch mag eine unbedeutende Stellung im großen Gefüge der Natur einnehmen, aber das ist kein Grund zur Verzweiflung, sondern zur Feier seines Daseins:

Wir kommen von nichts. Wir gehen ins N ichts:
Staub, der sich an Staub rieb.
Vorher nichts. Nachher nichts.
Inzwischen hab ich dich lieb.

Eine ähnliche Botschaft vermittelt der aus Staub bestehende, sich im Flug verzehrende Komet im Titelgedicht „Wandelstern“, der, im Nachthimmel als „eisiges / Reiskorn im Milchbart Gottes. / Eintagsfliege / seiner zeitlosen Weile“ apostrophiert, dennoch „Erleuchtung“ spendet. Wie es bei Gedichten so ist, geben diese Verse manches Rätsel auf. Ihre verknappte Sprache erfordert genaues Lesen. Aber sie werden geduldige Leser mit ihren neuen, einleuchtenden Bildern beglücken. Wie es im Gedicht „Bodenlos“ heißt, warten sie geduldig auf Leser wie die geflügelten Samen im Versteck der Kiefernzapfen. Die Verschwisterung mit den Schwalben, die Pietraß im Gedicht „Brückenkopf“ angesichts ihres berückenden Flugs spürt, und seine Einfühlung in das Anderssein der Pflanzen und Tiere entwickeln das Modell eines alternativen Umgangs mit der Mitwelt. Mit seiner Poetik der Interdependenz und Koexistenz übt er in ein brüderlich-schwesterliches Verhältnis zur Natur ein, das der Menschheit im Anthropozän nur zugute kommen kann.

Axel Goodbody, Park, Heft 66, November 2013

„Wandelstern“ und „Traumsaum“.

Richard Pietraß ist ein Wortakrobat, der vielschichtige Metaphern bevorzugt. Wenn er seinen neuen Gedichtband Wandelstern. Die Naturgedichte nennt, so treffen sich dort erwartungsgemäß Bilder, die Natur und Mensch als Einheit aber auch am Rande der Unvereinbarkeit sehen. Denn immer ist es der Mensch, der das, was die Poetenseele streicheln und genießen will, gefährdet durch Eingriff in die Natur. Im Gedicht „Spielball“ (1984) wird dies exemplarisch vorgeführt: wenn der planende Mensch „Dynastien von Staustufen bauen“, den „Ob aus dem Jenissei entschädigen“ und dem „Frostreich zu Märchenernten“ verhelfen will. Der Band versammelt Gedichte aus 30 Jahren.
Neben den kritischen Akzenten gibt es viel Schönheit in diesen Gedichten, denn Pietraß reimt mit Lust und Sinn und ist ein Meister des Binnenreims, etwa im Gedicht „Um die Ufenau“:

Von Schiff und Schilf geh ich, ein Fremder, ins Wasser.
Blasser Haut, über Kiesel, auf Eiern. Bleiern baumeln
Die Arme am Rumpf Dumpf strömt Erinnern ans Element.
[…]

Pietraß spart nicht mit Humor, das macht die Lektüre zum doppelten Vergnügen. Im Gedicht „Brockenweihnacht“ verlieren sich vier Poeten im Wald:

[…] Wir wurden Harz und waren vier
Wilhelm, Richard, Bernd und Peter
Zusammen gut zweihundert Jahr
Schiefgelatschte Leisetreter.

Zwei stiegen vor, zwei hinkten nach
Goethe im Munde, Schinkenleder.
[…]

Ein Vergnügen ganz anderer Art bereitet Pietraß’ Band Traumsaum. Als Stadtschreiber zu Rheinsberg (2008) wandelt er auf Kurt Tucholskys Spuren. „Es ist das lyrische Tagebuch eines Verliebten, leuchtendes Zeugnis seiner jungen Liebe zu einer Pariserin, mit der er zwischen Franzosenpark, Pilzwald und Eiszeitseen verborgene Spielnester findet. Nach Tucholskys Bilderbuch für Verliebte wird der musische Ort mit jedem Grashalm nochmals zur Fluchtburg zweier Liebender.“ (wie der dem Band beigegebene goldene Waschzettel verspricht). Die Gedichte kommen erotisch und uneitel daher, so im Gedicht „Kippfigur“:

Bin ich zu jung, zu alt, mich dir einzubrennen?
Regen nagelt den See, ohne ihn zu erkennen.
Ich treib in Rippenstößen unter Deine Wellenhaut.
Ob ich an dir nippe, ob in Tiefschlaf kippe
Ich bin der graue Fetzen, der zerfließend blaut.

Beide Bände sind reich mit Kunst ausgestattet. Wandelstern ist in der Edition ORNAMENT im quartus-Verlag, Bucha bei Jena, erschienen, herausgegeben, mit Feinsinn gestaltet und mit einem inspirierten Nachwort versehen von Jens Fietje Dwars. Die meisterlichen Kupferstiche von Baldwin Zettl nehmen auf die Gedichte von Richard Pietraß direkt Bezug und heben das Vergnügen an diesem Buch noch einmal. Traumsaum ist in der EDITION REVOLVER REVUE, Prag, erschienen. Wie der Name des Verlags und die Aufmachung des Bandes vermuten lassen, wendet sich die Edition an junge Leser. Das von Luboš Drtina in diesem Sinne witzig illustrierte und gestaltete Buch baut eine Brücke von den Gedichten eines „Jungverliebten“ zur jungen Leserschaft hin.

Axel Helbig, Ostragehege, Heft 71, 2013

Auf dem Wandelstern

– Naturdichtung von Richard Pietraß und anderen. Eine kleine Revue. –

„Hoch an der Zeit ist es, eine Sicht zu verbreiten, „in welcher der Mensch nicht mehr einfachhin die erste Geige spielt, oder besser: wo die erste Geige nicht schon für das ganze Orchester gehalten wird, wo vielmehr auch solches, was nicht der Mensch ist, zum Klingen und zur Geltung kommt und wo der Mensch sein rechtes Mitspielen als Bedingung des Gelingens seiner Existenz begreift.“ So der Ästhetiker Wolfgang Welsch, der sein Plädoyer für eine „transhumane Sichtweise“ mit zahlreichen Beispielen aus der bildenden Kunst bekräftigt.
Nicht minder eindrucksvolle Exempel, die die „Geschlossenheit menschlicher Selbstreferenz“ zu durchbrechen vermögen, lassen sich in der Literatur finden. Der Gedichtband Wandelstern enthält Richard Pietraß’ Naturgedichte. Versammelt sind Gedichte aus den Bänden Freiheitsmuseum, Spielball, Schattenwirtschaft und Freigang. (Notausgang, der erste größere Gedichtband des Autors ist nicht vertreten. Er enthielt keine Naturgedichte und reflektierte vornehmlich das Eingeschlossensein der DDR-Bürger und die bescheidenen Möglichkeiten, ihm zu entkommen.)
Ist im Folgenden von Natur die Rede, so ist „belebte Natur“ gemeint, quasi alle Lebewesen in Aktion und Interaktion. Gemeint ist „des Lebens dünne Gärschicht / Ein Seidenlaken überm Nichts“, wie es im Gedicht „Hornoer Berg“ heißt. (Die Wahrheit dieser Metapher wird nicht beschädigt von der Anmerkung, dass sich die Mikroben das Innere der Antarktis und das tiefe Gestein als Lebensraum erschlossen haben. Nicht nur Mikroben, eine der neu entdeckten Arten des Jahres ist der Halicephalobos mephisto, der Teufelswurm, ein 0,5 Millimeter langer Fadenwurm, der 1,3 Kilometer unter der Erde gefunden wurde.)
Das Eingangsgedicht des Bandes heißt „Freitisch“:

Die Traube kieselt noch im Mund. Der Pflaumstein keimt
Im Zungengrund. Ich streiche landein, äpfelschwer, buttre
Zu vom Narrenschmer, der mir am Gürtel quillt. Hagebutte,
Rotdornfässchen, Rebenbutte, Honigtässchen. Vornüber, ach
Vorüber! Quittegelb ins Gras geschmissen, Sauerampfer
Ausgerissen für den Eiertopf. Hopfen, eine ganze Stange,
Tabak für die hohle Wange, blauer Dunst. Keine Kunst,
Das Maul aufsperren: Pilze, rote, schwarze Beeren, auf-
Getischt vom Grünen Herrn, der die Zeche zahlt. Sägend
Schnarcht mein voller Schlund. Müde von der Viertelluft
Wälz ich mich in meiner Gruft, träume mich gesund

Das Gedicht feiert verschwenderische Natur und unbeschwerte Daseinslust. Es hat eine schlaraffisch-utopische Dimension: „Vogelfrei“ – das Wort nicht in der übertragenen Bedeutung genommen – ist dieser „Landstreicher“. Frei nach Matthäus 6, 27: Er säte nicht und erntet doch.
Fülle wird nicht in sorgsam aufgeteilten Versen und Strophen beschworen, sondern das Füllhorn wird gleichsam auf einmal ausgeschüttet. Pietraß ist ein virtuoser Reimtechniker. Hier wird der Über-Fluss durch den Kettenreim hervorgehoben. Der Autor selbst spricht vom „unregelmäßigen, über Strophenstock und -stein synkopisch springenden Wanderreim“. Der Endreim ist im Deutschen ein recht aufdringlicher Geselle. Pietraß nutzt mit dem durch den Text gleitenden Reim dessen Ausstrahlungskraft, bietet aber zugleich seinem Auftrumpfen Paroli. Und da die Reime in unterschiedlichen Takt-Abständen einander folgen, tauchen sie gleichsam überraschend im Gedicht auf.
Freigiebige Natur, einverleibte Natur, das irdische Vergnügen ist hier mehr als eine Augenweide. Erinnert sei an Barthold Hinrich Brockes, den „Kirchenvater deutscher Naturbeschreibung“, wie ihn Arno Schmidt nannte. Er unternahm es, Natur in all ihren Facetten zu betrachten und Verskunst auf genauester Anschauung zu gründen. So kommt Artenvielfalt in das Gedicht. Konkrete Lyrik: Nicht Blumen und Büsche werden gesehen, sondern „Hahnenfuß, Wiesenschaumkraut und Schlehenblüte“, um die in diesen Traditionszusammenhang gehörende Sarah Kirsch aus Spreu zu zitieren. Und zum Vergnügen zitiere ich gleich noch mal aus einem Freitisch-Gedicht Sarah Kirschs, aus „Eremitage“ die dritte Strophe:

Gott hat eigenen Honig süße
Äpfel und Schlehenschnaps
Klappernde Nüsse. Gutwachsende
Binsen wilder Rosen anmutige
Mähnen wenn die leuchtende
Sommerzeit den grünen Mantel
Hervorholt und die Musik
Breitmäuliger Herren die
Vielen Rufe des Kuckucks
Den Sinn mir erfreun.

Brockes vereinte Hymnik und Detailverliebtheit, um Gottes Wunder-Macht zu preisen: Irdisches Vergnügen in Gott lautete die Generalüberschrift seiner zwischen 1721 und 1748 erschienenen neun Bände. Bei Pietraß ist es der „Grüne Herr“, der dem Bedürftigen den Freitisch stiftet. Vielleicht eine Reminiszenz an den Grünen Gott, so der Titel des 1942 erschienenen Gedichtbandes des von Natur und Mythos zehrenden Dichters Wilhelm Lehmann.
Freitisch lässt sich wohl, gerade auch wenn die Betrachtung einer die ästhetische Betrachtung übersteigenden Naturlust gilt, als dem Bild „schöner Natur“ verpflichtetes Gedicht lesen. Fast am Schluss des Bandes steht das Gedicht „Die Mißwüchsigen“:

Wie die Wurzel den Stein durchstoßen muss
Schieben sie fahrig Fuß vor Fuß.
Wo der Gummibaum aus Luftwurzeln Himmelssäulen macht
Rollen ihre Augen in grüngrüner Nacht.
Schlaffhand in Krampfhand, blickabgewandt,
Tänzeln sie im fruchtbaren Sand.
Ein blütenrot klaffender Ananasschoß
Stellt fispelnde, lispelnde Münder bloß:
Die Palme, die ihren Wedelschopf hisst
Schildkrötenknäuel, das zu atmen vergisst.
Seewind, der in die Schoten fährt.
Eifer, von Wunden und Wundern genährt.
In den holpernden, stolpernden Klumpen geschnürt
Fällt sie der Blick, der Abel berührt.

Wir blicken in das andere, das unheimliche Gesicht der Natur: Versehrtheit, Verfall, Vergänglichkeit sind die Kehrseite der Lebensprallheit. Schonungslos wird schön Gewachsenes mit Misswuchs konfrontiert. Das Gedicht verweigert sich der Beschönigung und wohlfeilem Trost. Dem Voyeurismus, dem in der Beobachtung von Behinderten im Botanischen Garten nicht zu entgehen ist, entgegnet der Schluss des Gedichts: Das lyrische Ich, der schamlose Betrachter, denunziert sich selbst als unbrüderlich mit seinem auf Abel fallenden, den Bruder fällenden Kain-Blick.
So reflektieren Pietraß’ Gedichte das Doppelwesen der Natur, die den Menschen bedroht (oder gar vernichtet) und die ihn umfängt. Das Kompositum Freigang – der Titel seines letzten größeren Gedichtbandes – lenkt den Blick auf die Natur der Natur. Denn Freigang ist nicht schlechthin freier Gang, sondern eine zeitweilige Angelegenheit. Der Begriff legt nahe: Lebensbedingungen sind Haft-Bedingungen. Freigang wird zum Gleichnis individuellen, also befristeten Lebens, das aus dem Dunkel ins Freie und Helle tritt, um wieder im Dunkel zu verschwinden. Freigang erinnert an den „aufrechten Gang“. Dieser Begriff, von Ernst Bloch, dem Hoffnungsphilosophen, bezogen, war nicht nur für Volker Braun – 1979 erschien dessen Gedichtband Training des aufrechten Gangs – ein Signalwort. Das mit ihm aufgerufene utopische Potential wird von Pietraß bewahrt und zugleich relativiert.
Es hat seinen Reiz, Metaphern daraufhin zu befragen, was sie leisten. So einleuchtend sie im Moment sind – es ist ja ihr Sinn, einen Zusammenhang nicht zu erläutern, sondern im Nu zu erhellen –, sie sind Teilerkenntnisse, Akzentuierungen, kontext- und zeitgebundene Wertungen. „Evolution ist ein Hindernislauf, keine Autobahn“, notierte der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould. Das Bild vom Hindernislauf tilgt jeden Anklang an Spaziergang, relativiert auch den Freigang. Freilich ist es auf die Evolution insgesamt gemünzt.
Dem Freigang ist, wie gesagt, eine Frist zugemessen. Die starke Metapher legt den Gedanken nahe, dass man bei Pietraß’ Gedichten nicht von Naturverbundenheit, sondern von Naturgebundenheit sprechen sollte. Erstere ist eine inzwischen recht matte Metapher, sie klingt für mein Empfinden etwas nach Gefühligkeitsliteratur und Heimatkunst. Brauchbarer ist der zweite Ausdruck: Gebundenheit nämlich auf Gedeih und Verderben. Diese existentielle Bestimmung grundiert seine Gedichte.
Zurück vom grundsätzlichen Kommentar zum nicht weniger grundsätzlichen Gedicht, auch wenn es metaphorisch, „durch die Blume“, spricht. Artenvielfalt, das Wort fiel schon.

DURCH DIE BLUME

Ungerufen aufs nackte Feld, von keinem Menschen
Hinbestellt, treten die wilden Blumen. Wo Humus fehlt,
Halten sie haus, rollen sie ihren Teppich aus. Kamille weiß,
Rosa Klee, Luzerne lila und drei Gelbe, die ich nicht trenne,
Körner, vom Winde hingestreut auf die wilde Tenne.
Namenlose, Samenreiche fechten ihre Wurzelstreiche mit
Dem harten Gras. Was wissen sie von ihrem Mut, mit dem
Sie Trümmer in Obhut nehmen, aufs Ödeste sich noch
Bequemen, wo andere siechten. Sandmohn und Rainfarn
Leben und weben. Raupen nahn, den Boden zu ebnen.
Verduftet ist der wilde Tag. Gefragt ein andrer Schlag
Für Beete und Rabatten; die Sanduhr der Monokultur.

Nun soll Brockes selbst einmal zu Wort kommen, sein Gedicht „Ein grüner und beblühmter Wasser-Graben“ besingt das Gras dort:

Mein GOTT, mit welcher Lust wird Aug’ und Hertz getränckt,
Wenn sich der Blick bald auf die Spitzen lenckt;
Die angenehm, verwirret und verschrenckt,
Bald in die dunckle Tieffen senckt,
In welchen tausend Seltenheiten
In grüner Dämmerung zu sehen seyn.
Es mischt sich wunder-schön ein mannigfalt’ger Schein,
Von Farben, Schatten, Licht und Glantz.
Kein mit der größten Kunst geftochtner Crantz
Sieht lieblicher, sieht bunter aus
Als dieses Grabens Rand.

Brockes Wassergraben, Droste-Hülshoffs Mergelgrube, des Deiches Rücken in Tielenhemme bei Sarah Kirsch und das „nackte Feld“ in unserem Gedicht sind Orte der Dichtung. „Ich glaube, ein Grasblatt ist nicht geringer als das Tagwerk der Sterne, / Und die Emse ist ebenso vollkommen, und ein Sandkorn und das Ei des Zaunkönigs“, so Whitman im Gesang meiner selbst. Im am Kleinen haftenden und es würdigenden Natur-Blick, in der Aufmerksamkeit für die Kräutlein, gar „Unkräutlein“ wird die Vielfalt des Lebens als Wert beschworen.
Notabene: Unkraut ist für den Gärtner und den Bauern alles das, was dort wächst, wo es nicht wachsen soll. Der Begriff hat schon seinen Sinn, aber einen recht beschränkten. Zurückgehend auf die Umweltbewegung der 1980er Jahre wird deshalb heute häufig der Begriff „Beikraut“ gebraucht, weil er den Blick auf ökologische Zusammenhänge zu richten erlaubt: Beikräuter sind Nahrungsquelle für Nützlinge (ihr Rückgang nämlich zieht den Rückgang bestimmter Tiergruppen nach sich), dienen der Auflockerung des Bodens und als Gen-Reservoire. Wenn z.B. nur wenige Getreidesorten angebaut werden, kann eine einzige aggressive Pflanzenkrankheit ungeahnte Folgen haben.
Werden also die langfristig wirkenden ökologischen Zusammenhänge zugunsten kurzfristigen Nutzens vernachlässigt, triumphiert die „Sanduhr der Monokultur“, die Sanduhr als Symbol ablaufenden Lebens. Richard Pietraß hat sich in seinem Essay „Vom Vergehen der Arten“ (erschienen 1987 in der Anthologie Windvogelviereck) ausgiebig mit diesen Prozessen beschäftigt. Auf dem Wandelstern bleibt in Flora und Fauna nichts, wie es ist, Arten verschwinden, neue Arten entstehen (bzw. werden entdeckt). In der Vergangenheit entstanden in der Regel mindestens ebenso viele neue Arten, wie andere ausstarben. Das Sterben der Arten beschleunigt sich durch das Wirken des Menschen, der ihnen die Lebensräume nimmt. Die dramatische Reduzierung der Artenvielfalt führt zu einer Verarmung und Verödung des Lebens, auch des menschlichen Lebens. Letztlich zu seiner Bedrohung. In der Geschichte des Lebens auf der Erde hat die Wissenschaft fünf Massenaussterben der Arten registriert. Stehen wir vor einem sechsten?

AUWALD

Durch Pappeln trappeln die vier Reiter.
Wie wir auch zappeln, sie ziehen weiter.
Finstre Lichtung, fauler Plunder. Hol über, Holunder.

Schäumend wälzt der saure Fluss
Was er noch verdauen muss.
War er blasser, war er gesunder. Hol über, Holunder.

Der Himmel hat das letzte Wort.
Es taumeln ihm die Vögel fort.
Im tauben Ei das blaue Wunder. Hol über, Holunder.

Das Gedicht aus dem Band Spielball entstand 1982. Der Gedichtband bezog und bezieht seine Wirkungen aus der „Unvereinbarkeit“ von Hochrechnung umweltzerstörerischer Entwicklungen und dem spielerisch-grotesken Umgang damit. Die Publikationsgeschichte des 1987 erschienenen Bandes war langwierig. Der Autor war, wiewohl er nicht unmittelbar politische Fragen thematisierte, mit seinen ernsten Spielen an die Schmerzgrenze des Systems gestoßen, dessen nicht geringer Anteil an der Umweltzerstörung einprägsam ins Bild geriet. Pietraß hat dies in dem Aufsatz „Lyrisch Roulette. Zensur als Erfahrung“ (in: Literaturentwicklungsprozesse. Die Zensur in der DDR; 1993) geschildert.
Die vier Reiter verweisen natürlich auf die vier apokalyptischen Reiter, die mit Not und Tod über die Menschheit hereinbrechen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Apokalypse – entgegen biblischer Offenbarung, die ja Weltzerstörung und Beginn des Tausendjährigen Reiches umfasst – mit plötzlicher Katastrophe gleichgesetzt. Die gegenwärtige ökologische Entwicklung aber könnte eine Apokalypse in Zeitlupe sein. Je kleiner der Zeitraum ist, in der sie geschehen kann, desto eher können Menschen alarmiert und sensibilisiert werden, denn über ein paar Generationen denken wir kaum hinaus. In unserem Bildgedächtnis – man denke z.B. an Böcklins Gemälde – brausen die apokalyptischen Reiter heran wie ein Tornado, eine Spur der Verwüstung hinterlassend. Im zitierten Text trappeln sie im Zwang des Reimes. Aber es ist gerade dieses etwas neckisch klingende Verb, das die neue, heimliche Gangart der Katastrophe erhellt. Man ist geneigt, Wandel als positiv konnotiert aufzufassen. Aber das wäre – für den „Wandelstern“, das Gedicht als „streunendes Orakel“ – eindimensional und einschichtig. Wandel ist der übergreifende Begriff für Progression und Regression, für Höherentwicklung und Zusammenbruch.
Der Katastrophe zu begegnen, wird die Regenerationskraft der Natur beschworen. Der Holunder ist ein vielschichtiges, ambivalentes, in den einzelnen Kulturkreisen unterschiedlich gebrauchtes Symbol. Wenn er abgeschlagen wird, treibt er schnell wieder aus. Damit wird er zum Symbol weitergehenden Lebens und der Wiedergeburt. Wie der Flieder im Gedicht „Fliedergärten“:

Die ihn einst pflanzten, legten sich nieder
Doch er tritt aus dem Gerümpel hervor.

Der Holunder als Fährmann des Lebens: „Hol über, Holunder.“ Das Wortspiel ist Zuspruch und Zauberspruch.
Recht betrachtet, wäre der Beschwörende und zum Handeln Aufrufende in die Regenerationskraft einzuschließen. Von Wilhelm Lehmann war schon die Rede. Ein Naturdichter, der oft innige Naturbetrachtung mythologisch grundiert darbot; der Vorwurf der Bildungsdichtung ist so unbegründet nicht. Pietraß tritt nicht an, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“. Bei ihm heißt es im Gedicht „Elbabend“:

Die Burg des Bibers
mit dem Stiefel suchend.

Es bedarf nicht mythologischer Anleihen, um das Gedicht zum allgemeingültigen Exempel menschlichen Verhaltens oder eben Fehlverhaltens zu machen. Aber die großartige Naturdichtung Wilhelm Lehmanns lässt sich nicht auf das Zeit- und Kontextverhaftete reduzieren.
Sein Gedicht „An meinen ältesten Sohn“ geht so:

Die Winterlinde, die Sommerlinde
Blühen getrennt –
In der Zwischenzeit, mein Sohn,
Geht der Gesang zu End.

Die Schwalbenwurz zieht den Kalk aus dem Hügel
Mit weißen Zehn,
Ich kann es unter der Erde
Im Dunkeln sehn.

Ein Regen fleckt die grauen Steine –
Der letzte Ton
Fehlt dem Goldammermännchen zum Liede.
Sing du ihn, Sohn.

Eine harmonische Tonfolge von Natur und Mensch, ein Zusammenklang der Generationen wird in schöner Selbstverständlichkeit behauptet. Anders in Pietraß’ Gedicht „Freies Feld“, ein doppelsinniger Titel, wie sich schlussendlich herausstellt.

FREIES FELD

Die Lerche steigt, ich lieg am Boden
Ins lendenhohe Gras geschmiegt.
Den heitern Himmel tuscht mit Noten
Die singt und singend höherzieht.

Kein Rauchloch bringt sie zum Verstummen
Das seinen Atem mischt dem Wind.
Die Lerche trinkt den gelben Kummer
Der haarfein in die Kehle dringt.

Ich wälze mich, um zu vergessen
Wies in die Himmelssuppe spuckt.
Der Appetit verkommt beim Essen
Wo Spinnstoff um die Lippen zuckt.

Der Unrat, dem ich unterstehe
Verpuppt sich für das siebte Glied.
Ich schaue auf. In blauer Höhe
Die Lerche fehlt. Ich weiß kein Lied.

Es sei denn, ein Wider-Lied, um sich der Fatalität zu widersetzen, eine Stimme gegen das Verstummen. Im Poetik-Gedicht „Gesang“ wird der Topos vom Dichter aufgegriffen, der gar nicht anders kann, als wie der Vogel zu pfeifen und zu singen. Innerhalb des Bildes aber wird dieses Tun zugleich als reflektiertes und moralisch orientiertes behauptet, und dem „schönen Gesang“, wie er „schöne Natur“ überhaupt assoziiert, der Warnruf entgegengehalten.

Nicht wie der Buffo, im Bretterstaub stehend
Sondern wie die Lerche im Aufflug, im Niedergehen.

Kein Papagei sein, der in Medien prahlt
Sondern die Stunden verkünden, unbezahlt.

Nicht wie der Sperling, der von der Dachrinne pfeift
Dass der Wohlstand steigt und steigt.

Noch wie die Nachtigall, die in Koloraturen versteckt
Was uns unschönen Tags erschreckt.

Sondern wie der Kuckuck, der in Schwefelluft schreit
Was uns vom Abreißkalender bleibt.

Wie die Drossel, wie der Bluthänfling
Wie Singschwan und Lachmöwe, pestberingt.

Eine kleine Abschweifung, angeregt von der Drossel. Gemeint ist sicher die Singdrossel, denn auch die vordem genannte Nachtigall zählt zu den Drosseln. Es wäre ein reizvolles Thema, anhand der Ornis der Pietraßschen Gedichtlandschaft das Motiv von Vogel und Dichter zu erörtern. Die in Amerika heimische Spottdrossel, von der Jefferson einst sagte, dass mit ihr verglichen die europäische Nachtigall eine drittklassige Sängerin sei, ist Walt Whitmans Wappenvogel. In der grandiosen Ode „Aus der endlos schaukelnden Wiege“ erinnert er sich an das Kind, das er war, als er dem Klagegesang des Spottdrosselmännchens über den Verlust des Weibchens lauschte. Es war eine Erweckung:

Dämon oder Vogel, (sagte die Seele des Knaben,)
Singst du wirklich für deine Gefährtin? Oder in Wahrheit für mich?
Denn ich, der ein Kind war, dessen Zunge noch schlief, ich habe dich jetzt gehört,
In einem Augenblick verstehe ich, wofür ich da bin, ich erwache,
Und schon sind tausend Sänger, tausend Gesänge, klarer, lauter, klagender als deine,
Tausend trällernde Echos ins Leben gerufen in mir, damit sie niemals sterben.

Die überkommenen Bilder und Metaphern, um den Gedanken wieder aufzugreifen, können nicht unbesehen übernommen werden, sie bedürfen der sachten oder heftigen Korrektur (das Trappeln der apokalyptischen Reiter). Noch besser ist es, wenn neue Metaphern gefunden werden, die uns einen Sachverhalt, das kann auch ein Daseinsgefühl sein, im Nu erfassen lassen. Das Gedicht „Schattenalge“ (ein Anagramm zu Schattenlage) schließt:

In Betonsilos, Meilen unter dem Meer.
Unbeirrbar sich vermehrend, wächst sie
vom Ende der Welt auf uns zu

Die Schattenalge ist ein so großartiges wie unheimliches Sinnbild für eine schleichende Apokalypse. Im Gedicht „Kriegspfad“ werden die geheimen Stützpunkte, Unterstände, Bunker aus der Zeit der Hochrüstung und der atomaren Bedrohung, jetzt verfallene Ruinen, aufgesucht, und die Metapher wird nochmals aufgerufen:

Das Auge weitet dunkler Glanz
Im Brutrevier der Schattenalgen.

Dennoch reicht die Metapher über diese historische Zuordnung weit hinaus. Sie verweist auf menschliche Hybris generell, die mit auftrumpfender Technokratie und der Ideologie des Machbaren Herrschaft über die Natur beansprucht. Mit ihr wird eine Konzeption hinterfragt, die Fortschritt als ständige grenzenlose Verbesserung und Höherentwicklung begreift. Gegen diese Sicht hatte Pietraß schon in Freiheitsmuseum polemisiert, als er gegen ein soziologisch gleichermaßen reduziertes wie idealisiertes Menschenbild biologische und ethologische Paradigmen aufrief und dabei auch auf fatale Evolutionsabläufe und -mechanismen verwies.
Innovativ ist auch der Zyklus „Totentanz“. Das Motiv selbst ist alt. Im Mittelalter wird mit der Figur des Knochenmanns, des großen Gleichmachers, die Ständegesellschaft kritisch vorgeführt. Der unaufhebbare Zusammenhang von Leben und Tod erhält bei Pietraß eine (natur)geschichtlich globale Dimension: Der Mensch tritt in den gereimten strophischen Gedichten als täppischer oder skrupelloser Vernichter auf und bringt Fledermaus, Mistkäfer, Gepard, Gorilla, Blatthuhn, Maulwurf und Blauwal den Tod.
Es gibt noch ein Fledermaus-Gedicht vom Autor:

BEFLÜGELTE NACHT

Das Fenster war zum Sommer hin geöffnet
Zugleich verhängt mit Fliegenseide
Dass täglich nicht, noch nächtlich
Summbesuch die Grenze überschreite.
So lag ich auf dem Bett mit meiner Zeitung
Vertieft ins Leben königlichen Bluts.
Als ein leiser Geigerzähler
Meine Mondscheinstille knackte.
Ich sackte in die Tiefe meines Nests
Und weitete die Augenschlitze
Bis ich im Obereck des Gazefensters
Die schreckende Erscheinung sah:
Ein Tierchen von der Größe eines Eichblatts
Ein Knäuel von Häuten, kunstgefaltet.

Das Ganze feinsinnigst gestaltet
Aus Knöchelchen, aus Pelz und Widerhaken.
Die Augen Hemdennadelköpfe
Die Ohren flink wie junge Zirkushunde
Die Zähne nicht gleich vorn im Munde
Die Nase zwei versenkte Tropfen.
Bestechend dunkle Engelsflügel
Dünner als Tortillateig, geschmeidig
Luftgespinst im Weibersommer.
Und so was will mir nahekommen?
Dachte ich im Leisenähertreten.
Mich lähmte der Gedanke an die Zähne
Geschlagen in mein Schläferblut.
So meint ich, auf der Hut zu sein
Und schloss sie zwischen Grill und Scheibe ein
Nahm sie nur in meine Träume.

Anderntags schien sie geschwächt
Warn dickste Fliegen ihr nicht recht
Die ich ans Mückengitter pinnte.
Grad Wasser nahm sie noch von mir.
Doch wars nicht Hundemilch, nicht rote Tinte.
Vorbei ihr Zimmerdeckenflug, vorbei
Der Kopfhang in der Falte der Gardine.
Ein Tag in meiner Neugierminne
Verbrannte sie wie Bogenlampen das Insekt.
Nun trocknet sie als Menetekel
Von Peitschenlampen an die Zimmerwand
Geworfen übers Bett, auf dem ich lieg
Zerknirscht und eingeigelt.

Ein bemerkenswertes Gedicht in seinem Lobpreis der Schönheit dieses Wesens. Gemeinhin wird ja die Fledermaus als hässlich und unheimlich empfunden (wobei das Moment des Unheimlichen und damit vom Heim Fernzuhaltenden ja auch diesem Gedicht nicht fremd ist). In der Iconologia des Italieners Cesare Ripa (16./17. Jhd.) z.B. verkörpert sie die Unwissenheit (Ignorantia), ein Dunkelgeschöpf, das das Licht der Wahrheit meidet, ganz zu schweigen davon, dass Dracula in Bram Stokers wunderbarem Machwerk gern als riesige Fledermaus zum Fensterln sich einstellt.
Freilich hat sie seitdem erheblich an Renommee gewonnen, durch ihr die menschliche Wahrnehmungsleistung übersteigendes Vermögen, die Echopeilung, die ihr trotz Dunkelheit die Orientierung und so die hocheffektive Jagd auf Beutetiere erlaubt und die ein Vorbild wurde für Erfindungen wie das Sonar und das Radar. Das neue Bild der Fledermaus verdankt sich damit primär wissenschaftlich-technischer Sicht. Inzwischen hat die Lyrik nachgezogen. Der australische Dichter Les Murray würdigt mit „Bats Ultrasound“ (deutsch: „Fledermaus-Ultraschall“) gerade diese Leistung im Gedicht:

… ihr ganzes Gesicht ein zerknittertes Ohr

Als Kontrast zu Pietraß’ Feinmalerei sei der Schluss von D.H. Lawrences Gedicht „Fledermaus“ zitiert:

Kreaturen, die sich wie einen alten Lumpen zum Schlafen aufhängen,
und zwar abscheulich kopfwärts. So, überkopf aufgehängt gleich Reihen scheußlicher alten Fetzen,
grinsen sie in ihrem Schlaf.
Fledermäuse!

In China ist die Fledermaus ein Symbol der Glückseligkeit.

Nicht für mich!

Und dann gibt es das lange erzählerische Gedicht „Mensch und Fledermaus“ von Lawrence, der einen vergleichbaren Vorgang wie Pietraß schildert: Eine Fledermaus ist ins Zimmer eingedrungen, hier am helllichten Vormittag, und ein panisches Ich versucht, das vor Angst irrsinnig dahinjagende Lebewesen zu fangen. Schließlich gelingt es ihm, den Pipistrello aus dem Fenster zu schütteln, denn töten wollte er ihn nicht:

O Tod, Tod,
du bist keine Lösung!
Fledermäuse müssen Fledermäuse sein.

Von franziskanischer Liebe zu diesem Geschöpf kann sicher keine Rede sein, aber immerhin wird seine Existenz anerkannt.
„Beflügelte Nacht“ ist ein gutes Beispiel für Pietraß’ Erlebnislyrik. Erlebnis zunächst als unmittelbare Begegnung mit der Realität verstanden, in der ein charakteristischer Aspekt der Lebenswirklichkeit erfahrbar wird. Nun ist der Terminus Erlebnislyrik eine fast außer Gebrauch geratene Kategorie. Modifiziert kann sie jedoch dienlich sein, eine poetische Verfahrensweise Pietraß’ zu charakterisieren. Denn es bleibt nicht beim punktuellen Erlebensfall. Pietraß legt oft gleichsam Erlebnisstrecken an, Naturlehrpfade: das Ich als Vor-Gänger, auf dessen Spuren wir Sinnlichkeit und Sinn der menschlichen Natur erfahren. Gedankliches ist Anschauliches auf dem Bilderpfad des Gedichts. Natürlich ist das lyrische Ich nicht das empirische, mit Bauch und Bart, aber sein Blutsbruder ist es dennoch.
Kein Gedicht also ohne Erlebnis. Hinzugefügt werden muss sofort: Kein Gedicht ohne Spracherlebnis. Das lyrische Ich in den Gedichten ist keine repräsentative Gestalt, sondern, zugespitzt gesagt, ein Beispiel im Wortsinn: ein Bei-Spiel zum Sprachspiel. Der Autor überlässt sich gleichsam der Sprache: Sprachliche Äquilibristik verhilft den Texten zu einer aufregenden Balance von Sinn, Über- und „Unsinn“. Die Gedichte vertrauen der Sprache, werden nicht postmodern von der Leere und Schattenhaftigkeit der Zeichen regiert. Die lustvolle lautmalerisch-assonanzenreiche Sprache ist hier farbiger „Abglanz der Welt“ – an ihr haben wir das Leben.
In den letzten Jahren hat sich Richard Pietraß intensiv dem Haiku gewidmet. Mit ihm wird ein besonderer Bereich der Naturdichtung beschritten. Das Ich wird zurückgenommen, taucht kontemplativ in die Natur ein, wird ihr Medium wie im folgenden Beispiel.

Der Kuckuck ruft und ruft
Knispernd wispernd
Das Schilf vom Vorjahr

Der Lauschende erinnert sich nicht, sondern ist in der Natur präsent, genauer: Er imaginiert sich als in der Natur anwesend. Entscheidend ist der Eindruck des Gegenwärtigen; das Verb im Präsens leistet diese zeitliche Bestimmung. Mit Blick auf die charakteristische Kürze dieser japanischen Gedichtform schiene es zunächst denkbar, als ersten Vers zu notieren: „Kuckucksruf“. Das aber hieße, im Nominalstil Zeitlosigkeit zu beschwören. So muss die Kürze des Haikus die Länge haben, die erforderlich ist, ein Geschehen zu präsentieren.
Das Haiku ist ein Dreizeiler; die Spannung der Form verdankt sich dem Wechselspiel des Geraden und Ungeraden: Eine Mittelzeile mit sieben Silben wird von zwei Zeilen mit je fünf Silben umrahmt. Pietraß variiert die Silbenzahl: 6 / 4 / 5. Intensive Wirkung resultiert aus Erfüllung, nicht mechanischer Füllung des Schemas.
Wie auch immer, drei Zeilen muss das Gedicht haben. Ein Zweizeiler hätte eine zu große Nähe zum Spruch. Das Haiku ist mehr: ein belebtes Bildchen (eidyllion), eine unruhige Idylle, die zum Meditieren anregt. Ihr spannungsvoller Charakter rührt daher, dass sie Gegensätze in sich vereint: Mikro- und Makrokosmos, bewegte Natur und ruhenden Betrachter. Sie repräsentiert ästhetisches Empfinden als Augenblick gesteigerten Wahrnehmens und Daseins: Umschlag von Gegenwart in Vergangenheit, von Wahrnehmung in Erinnerung. Mit anderen Worten: Im Einssein mit der Welt wird Vergänglichkeit wahrgenommen; die Vergänglichkeit schafft die Nähe zu den Dingen und Lebewesen außerhalb des Betrachters. Eine unio mystica, die allein der ästhetische als kontemplativer Augenblick ermöglicht, in eben der kurzen Dauer des Haikus.
Zeit und Dauer werden im zitierten Haiku auch direkt zum Thema. Nach dem Volksglauben zeigt die Anzahl der Kuckucksrufe an, wie viele Jahre der Lauschende noch zu leben habe. Der Kuckuck ruft wieder und wieder (in der Wiederholung des „u“ fallen onomatopoetisch Laut und Sinn ineins), die Stetigkeit spricht von der Wiederkehr des Lebens angesichts abgestorbenen Schilfes. Und doch kann es nicht bei der beruhigenden Tonfolge bleiben: Die Stimme des Todes mischt sich knispernd und wispernd darein: der Kälteton als Kontrapunkt zum volltönenden Lebensruf. Dieser Ton ist nicht aus der Welt zu bringen, der der Mensch zuhört und zugehört.

Jürgen Engler, die horen, Heft 248, 4. Quartal 2012

 

Richard, der alles gern gründlich bespricht,
Nie einen Eintopf verschmähte und sich
Selbst mit Humor als Harmonium bezeichnet,
Aber vor allem für die Poesie lebt –
In Beuteln und Taschen beständig zwölf Dichter
(Sechse noch am Leben, sechse schon tot),
Sowie das eigne Gesamtwerk, ein Glücksfall
Sind drei Gedichte alljährlich, umherschleppt –
Sogar noch in Preußen bleibt der Mann mir nah –

Richard also ruft mich grad wieder mal an,
Da ich grad mit arbeiten anfangen will.
Da ich aber immer grad anfangen will,
Ruft er immer an, wenn ich anfangen will:
Knackton und Rauschen. Und von sehr fern her
Zwängt eine Stimme sich durch die Leitung
Bis an mein Ohr durch: „Störe ich?“ fragt er.
„Wie bitte?“ ruf ich. „Teilnehmer! Ich hör nichts!“ –
Wer einander nah ist, kann Ferne vertragen.

Freilich: als ich gestern Sohn Moritz im achten
Stock der angeblich taifunsichren Wohnung
In Taiwan anrief – Wir saßen und sprachen
Als säßen wir auf der Couch nebeneinander.
Und ich hörte für zweieinhalb Cent pro Minute
Das Enkelchen erstmals auf seinen Topf pullern
Und beim Pullern plappern, und zwar auf Chinesisch.
Und von unten – Ferne rückt nah, Nähe fern –
Rief Jauchzet, frohlocket zirpend ein Fahrzeug
Auf, die Müllbeutel hinunterzubringen –

Doch wo ist Richard? Hängt er etwa immer
Noch in der Leitung? „Ich lebe nur, wenn ich
Die, die mir nah sind, mir wirklich nah weiß,
Sagt er, nun schon aus derartiger Ferne,
Als wäre Berlin ein Ort hinter Taiwan
Und vom letzten Taifun her bereits unter Wasser. –
„So warte doch“ ruf ich. Ihm nah wie noch nie.

Thomas Rosenlöcher

 

 

Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG 1 & 2 +
DAS&D + Übersetzungen 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

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