– Zu Richard Pietraß’ Gedicht „Randlage“ aus dem Band Richard Pietraß: Schattenwirtschaft. –
RICHARD PIETRASS
Randlage
Die letzte Saat
Des Felds ist aufgegangen.
Ellenbogen
Vermessen das Land.
Pflöcke stückeln
Roggenschläge.
Zins- und Pferdefuß
Gehen zur Hand.
Am Rapsrain
Trapst die Nachtigall.
Die Säge singt
Im Holunder.
Die Bauern motten
Pflüge ein.
Dem Schafstall
Blüht ein Quellewunder.
Wohin ich Habnicht sehe
Sieht mich das Ende an.
Ich stehe und verstehe.
Wende sich, wer kann.
Ein Gedicht wie ein Strich: Schlussstrich, Bilanzstrich unter ein vierzigjähriges erstes Leben, dessen Konkursmasse verteilt wird. Unter Glücksrittern, die sich unter den Nagel reißen, was unter den Hammer der Veruntreuhand kommt. Selbst mitzubieten beim Ausverkauf scheint nicht möglich, die Chance vertan. Was bleibt, ist die gemurmelte Klage des gewohnt Mittellosen und nun Habnichts, der, mit leeren Händen dastehend, zu verstehen beginnt.
Als November 1989 auch am Ende meiner Straße gen Wedding ein Grenzübergang eingerichtet wurde, fand ich, der Sackgassenneurotiker, mich in einem widerstreitenden Gefühlssturm. Zweihundert Meter von meinem Schreibtisch öffnete sich eine Welt, die ich das erste Mal zu Beginn der fünfziger Jahre betreten hatte, als meine Mutter mit mir, dem Vorschulkind, nach Berlin gefahren war, um im Westen einen Jugendfreund meines Vaters zu besuchen, der in engem Ladengeschäft mit Kanarienvögeln handelte.
Ich sehe sie noch vor mir, die singende Wand gestapelter Käfige mit Harzer Rollern, wie die besten der zeisighaften Sänger hießen. Sehe noch den Maschendrahtzaun am Nordbahnhof, den zu überwinden ein uniformierter Eisenbahner Mutter und Muttersohn half. Noch die von Geisterhand bewegten Rolltreppen, die kanariengelben U-Bahnen und die damals zahlreichen, rabenschwarzen, einschüchternden Neufundländer.
Diese Gasse zu Onkel Emanuel, dem längst gestorbenen Vogelhändler, war nun wieder offen wie mein maulaffenoffner Mund, der sich gar nicht wieder schließen wollte ob des Menschenstroms zu meinen Füßen, der in jenen Tagen gen Westen trug, was sich nach dem umgesetzten Begrüßungsgeld zu Geld machen ließ: Münz- und Briefmarkensammlungen, Porzellan, eingerollte Teppiche, die mir das Gefühl machten, mir werde der Teppich unter den Füßen weggezogen. Wochen des aufgerissenen Staunmunds und der Schrecklassnachsinne.
An Schreiben war, trotz Schreibtischhaft, nicht zu denken. Zu sehr hatte ich damit zu tun, Zeuge zu sein, des Ersehnten aber nicht und nicht so Erwarteten. Nachrichtensendungen aufzunehmen, die sich von Stunde zu Stunde komplett änderten und noch das Nächstliegende allabendlich fernzusehen. Rasch wuchs ein Stapel flüchtig beschrifteter Videos, die alles festhielten: die doppelt ummauerte Politbürosiedlung in Wandlitz, den Waffenhandel, den Affenzirkus des Menschenzoos zwischen Kirche von unten und Volkskammer, Runden Tischen und anderen Nischen. Bald spürte ich, dass ich weder zum Aktivisten der letzten, noch dem der ersten Stunde taugte, ich nur das Zeug zum Zeugen hatte.
Zeugnis hätte ich gern abgelegt. Aber durchschaute ich das Ganze? Waren meine westlichen Kollegen nicht viel besser akklimatisiert in dem, was nun auf uns zukam?
Sie hatten das System mit der Muttermilch eingesogen und ihm schon ihren Keuchhusten entgegengebellt. Was sollte da mein Zirpstimmchen eines allzuspät Hinzugekommenen? Was mein Senf auf dem Verwurstbrot?
Schnell begriff ich, dass in nächster Zukunft mein Platz auf den Hinterbänken der Volkshochschule war, das ABC und Einmaleins der Marktwirtschaft nachzubuchstabieren. Der mit glühenden Ohren und Rosinenwinkelzügen bewirtschaftete Kaufmannsladen kindlicher Weihnacht reichte nicht. Das Rad der Kapitalgeschichte hatte sich weitergedreht. Jetzt galt es, Projekte zu erfinden und Stipendienanträge zu stellen.
Bei der Kritik am Tun und Lassen der Volksvertreter ließ ich mich freiwillig von den westelbischen und rechts-rheinischen Dichterbrüdern und -schwestern vertreten. Hatte ich doch noch das Klippschulelementarste nachzuholen. So verging meine Zeit, die mir im über mich gekommenen Westen gegeben war. Stumm und dumm. Schüchtern und nüchtern. Mucksmäuschenstill.
Nicht mal meine östlichen Landsleute nahmen noch ein Stück Rosinenbrot von mir. Die grasten Grass nach, wälzten Walser, durchkämmten Kempowski, himmelten Simmel. Und brauchten zwei, drei Jahre, um zu erfahren, dass diese all dies nicht mit Ossi- sondern mit Wessibrille sahen, kommentierten und versifizierten: ihren Frust und ihre Freude, aber nicht den der nahegerückten Romanbrüder und Lyrikschwestern. Und selbst, wenn einer wie Grass das jovial – und mit erhobenem Volkszeigefinger – wohlmeinend versuchte, war dicht daneben auch vorbei. So fielen auch mir Erkenntnisgroschen und Kolumbusei. Der Rheiner kann nicht für die Elber sprechen, der Jinter nicht für Jirgl, der Hans Magnus nicht für Volker, der – meine Bewunderung! – seine Stimme nicht verloren und den Finger schnell auf den Lehenswunden und Spitzelspäßen hatte.
Bei mir dauerte es. Drei Jahre hatte ich Gedichte geschwiegen: ohne es zu merken, das ganze Jahr 1989, das ganze 1990 und 1991. Als Freiberufler war ich weit vom Schuss, am Scharfseh- aber Schonrand, konnte ich mich leicht arbeits- und antwortlos in die Büsche schlagen. Dass es mir wiederkam, das Meine zu sagen, danke ich zunehmender Trauer jenseits glücklich gefallener Mauer. Sie brachte das Seelenfass zum überlaufen. Mehr will ich nicht sagen zum mir gemäßen Ort, meiner nicht aufgebbaren Randlage. Der Seelenwasserwaage, die mich im Grenzraum justiert hat. Sei gefeit, feuriges Feigenblatt.
Richard Pietraß, Kunst+Kultur, Heft 2, Mai 2009
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