– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Außer Landes“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. –
ILSE AICHINGER
Außer Landes
1 Bücher aus fremden Büchereien,
2 die erstarkten Tauben.
3 Käme es auf die Orte an,
4 die wir zu verlassen
5 im Stand sind,
6 mit ihrem Himbeergesträuch,
7 den Tüchern,
8 die sich schon im Winde falten,
9 sie wechseln still hinter uns,
10 während wir bleiben,
11 auf den warmen Rücken
12 der Gärten, steinern
13 oder aus Sand.
Wir müssen fort.
Aichinger: „Erinnerungen für Samuel Greenberg“
„Die Auswanderung von Juden aus Deutschland
ist ausnahmslos für die Dauer des Krieges verboten.
Erlaß des Reichssicherheitshauptamts
(RSHA), 23.10.19411
Es fällt auf, daß Orten in der Dichtung Ilse Aichingers immer wieder eine lebensbedrohende oder lebensbewahrende Dimension zukommt. Das beginnt in Die größere Hoffnung mit den drängenden Bitten Ellens um ein Visum und mit dem Versuch der Kinder, ihrer zum Kerker gewordenen Heimat in einer verzweifelt erhofften Kutschenfahrt zu entkommen.
Es setzt sich fort in der schleichenden Vertreibung in „Wo ich wohne“ und in „Erinnerungen für Samuel Greenberg“, dem schweren Traum einer Emigration. Eine radikale Engführung zeigt dann der Prosaband schlechte Wörter mit seinen Orten Privas und Dover, ihren Irrenanstalten, Gescheiterten, Vergessenen, Verlassenen: Orte, in denen man „gebückt gehen lernen, toben lernen, hüpfen lernen“ kann „wie überall“ – wie dort, möchte man einfügen, wo man das Leiden in solchen Orten zu teilen auf sich nimmt, die Freundschaft der Sabberer und Kieselspieler und nicht diejenige der Erfolgreichen sucht.
Verwoben mit den Orten der Gefährdung, des Leidens und des Untergangs ist aber in Aichingers Werk mit gleicher Intensität eine paradox mit den Leiden wachsende Hoffnung, eine Topographie der Freiheit, der Geborgenheit und Gemeinschaftlichkeit: Diese Linie zieht sich von den Beschwörungen Wiener Straßen und Plätze in „zu keiner Stunde“ hin zu Kleist, Moos, Fasane, hin zur Küche der Großmutter und zur „Hilfsstelle“ im erzbischöflichen Palais.
Die Spannung zwischen Gefährdung und Geborgenheit, Heimat und Heimatlosigkeit, Kindheits- und Todesorten findet sich auch, und besonders deutlich, im Gedichtband verschenkter Rat. Das emotionale Spektrum reicht hier von der geisterhaften Mittagsstille in „Attersee“ zur stummen Kälte in „Ortsanfang“ und „Ortsende“.
Dazwischen erstreckt sich eine Topographie, die von Wien aus („Gonzagagasse“, „Ohne Jahre“, „Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz Eugen Straße“, „Meiner Großmutter“) in die Landschaften der ehemaligen Monarchie reicht – nach Görz und Gradiska („Königsreim“) und nach Triest: Orte, die es in dieser Weise und Weite nicht mehr gibt, ebensowenig wie den Kaiser, den Beschützer des Judentums, der im Text „Erinnerungen für Samuel Greenberg“ in die Emigration getrieben wird.
Unter den vielen Richtung und geographischen Halt suchenden Gedichten in verschenkter Rat findet sich auch eines, das in größter sprachlicher Anspannung Flucht- und Suchbewegung zusammenführt, Vertreibung und Hoffnung, Verlust und Widerstand.
Es gehört zu den weniger bekannten Gedichten Ilse Aichingers und trägt den Titel „Außer Landes“:
AUSSER LANDES
1 Bücher aus fremden Büchereien,
2 die erstarkten Tauben.
3 Käme es auf die Orte an,
4 die wir zu verlassen
5 im Stand sind,
6 mit ihrem Himbeergesträuch,
7 den Tüchern,
8 die sich schon im Winde falten,
9 sie wechseln still hinter uns,
10 während wir bleiben,
11 auf den warmen Rücken
12 der Gärten, steinern
13 oder aus Sand.
Eine intensive klangliche Geschlossenheit prägt dieses Gedicht, das Joch von einer Situation der Unsicherheit und Disharmonie, von einem Zustand „Außer Landes“, zu sprechen unternimmt.
Diese Einheit im Disparaten beginnt mit den für Aichingers Lyrik so charakteristischen Umlauten:2 Bücher/ Büchereien – käme – Himbeergesträuch – Tücher – während – Rücken – Gärten. Als ähnlich strukturierend erweisen sich die dominierenden hellen Vokale „e“ (42x !) und „i“ (21x), zugleich mit den Zwielauten.
Beachtet man darüber hinaus noch die Konsonantenverbindungen mit „st“ (in Spitzenstellung bei „im Stand sein“ – „still“ – „steinern“ in Mittelstellung in einem Bogen von „die erstarkten Tauben“ zu „Himbeergesträuch“) und den intensiven Einsatz des „r“ (21x) und der Nasale „m“ und „n“ (zusammen 33x !), so verfestigt sich auf phonetischer Ebene der Eindruck unumstößlicher Geschlossenheit.
Diese klangliche Verwobenheit aber setzt sich ab von den Zerklüftungen, Spannungen und Antinomien auf den Ebenen der Syntax und der Semantik. Im Zusammenspiel der Sprachebenen vollzieht sich eine mit Reibungen und Synkopen angefüllte, extrem beschleunigte Bewegung, ein Changieren zwischen ruhender Einheitlichkeit und spannungsgeladener Bewegtheit: Es ist, als würde das Gedicht aus seiner eigenen sprachlichen Energie den Funken schlagen, der den verlorenen Ort wieder sichtbar macht.
Durch den Blick auf die Satzzeichen und die anschließende Großschreibung lassen sich in diesem Gedicht sofort zwei Gesamtsätze erkennen:3 Der erste umfaßt die beiden Anfangszeilen, der zweite erstreckt sich in großer Dynamik über 11(!) Verszeilen, enthält sechs eng aufeinander bezogene finite Verben und entfaltet ein mehrfach geschichtetes Spektrum an Teilsätzen.
Die Aufbrechung und Auffaltung wird besonders deutlich mit dem Beginn des zweiten Gesamtsatzes: „Käme es auf die Orte an (…)“
Der Satzanfang steht dabei gleich in der auffälligen, semantisch noch zu deutenden, Form des Konjunktiv II. Es ist hier nicht eindeutig entscheidbar, ob damit ein Konditionalsatz oder ein Wunschsatz einsetzt: Beide Möglichkeiten werden in Aichingers Lyrik öfters besonders eng zusammengeführt, etwa in „Briefwechsel“:
Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weißen Gewändern
und stünden still im Flur.
Sehr bezeichnend ist nun, daß das Nomen dieses Satzes so genau bestimmt wird, als handle es sich nicht um einen kraß im Widerspruch zum Gegebenen ersehnten Wunsch, sondern als sei es immer noch oder schon wieder greifbare Gegenwärtigkeit: Die Orte werden nämlich durch einen vierzeiligen Attributsatz (Z. 4–8) genauestens imaginiert.
Es handelt sich um Orte, die:
– „wir zu verlassen im Stand sind“
– „mit ihrem Himbeergesträuch“
– „den Tüchern, / die sich schon
im Winde falten“
Überdies ist dieser lange Attributsatz in sich noch einmal strukturiert: so korrespondiert dem Relativsatz 1. Ordnung in Zeile 4 ein Relativsatz II. Ordnung in Zeile 8; zwischen beide schiebt sich, wie eine schmerzende Erinnerung, ein weiteres Attribut: „mit ihrem Himbeergesträuch“ (Zeile 6).
Der so drängend einsetzende Konditional- bzw. Wunschsatz wird aber nicht zu Ende geführt, durch die vierzeilige Sprachbewegung hindurch wandelt sich der Konjunktiv in einen Indikativ, der Wunsch- in einen Aussagesatz:
sie wechseln still hinter uns,
während wir bleiben (…)
In Sprache und Wirklichkeit vollzieht sich in einer chiastischen Figur eine völlige Umkehrung der Verhältnisse, geht der hypotaktische Nebensatz über in zwei parataktische Sätze:
sie wechseln still hinter uns
während wir bleiben
Durch lokale und modale freie Umstandsangaben wird dieser errungene Zustand (scheinbarer?) Ruhe abschließend noch präziser bestimmt:
auf den warmen Rücken
der Gärten, steinern
oder aus Sand.
In dieser komplexen, gebrochenen und gleichzeitig streng gegliederten Satzstruktur zeigt sich eine Spannung zwischen Auflösung und Ordnung, vorwärtsdrängender, verwandelnder Bewegung und Beharren – ein Widerstand und Widerspruch, der auch in der Semantik zu erkennen ist.
Dies ist zunächst klar einsehbar in den das Gedicht durchziehenden starken Antithesen:
„Bücher aus fremden Büchereien,
die erstarkten Tauben“;
(…)
Orte
(…)
die wir zu verlassen
im Stand sind
(…)
sie wechseln still hinter uns,
während wir bleiben
(…)
steinern
oder aus Sand.
Wenn der Titel „Außer Landes“ eine Lage außerhalb der Grenzen des Heimatlandes signalisiert; wenn er – wie in der schönen Definition von „außer“ in Daniel Sanders’ Wörterbuch von 1874 – „etwas Nicht-Miteingeschlossenes,… als nicht hinzugehörig Ausgeschlossenes“4 umfaßt: wenn es sich so verhält und wenn das von Sanders angeführte „Außer Landes sein, gehn etc.“ auch noch verstärkt wird durch die erste Zeile des Gedichtes („Bücher aus fremden Büchereien“) – warum sind dann in einer solchen Exil-Situation die Tauben „erstarkt“? – Tauben, die doch als das traditionelle Symbol von Frieden und Geborgenheit gelten?
Ähnliches, nur umgekehrt, gilt auch für die das Gedicht abschließende Antithese „steinern, / oder aus Sand“, worin „aus Sand“ jede Verfestigung, aber auch jede eben noch gefundene Sicherheit wieder aufhebt und in Bewegung verwandelt.
Bis in Details hinein ist die Grundspannung zwischen Aufbruch und Bleiben, Hoffnung und Resignation, aufweisbar: so etwa, wenn in Zeile 8 von den Tüchern die Rede ist, die sich – durch das Adverb fast bedrohlich herausgehoben – „schon im Winde falten“, diese Verschärfung aber gleich wieder zurückgenommen wird – „sie wechseln still hinter uns (…)“
„Tücher, / die sich schon im Winde falten“: Hier verläuft auch die semantische Spiegelachse des Gedichts, sowohl vor- wie zurückverweisend: Nach diesem Vers kehren sich die Verhältnisse um. Nicht mehr „wir“ verlassen die Orte, sondern „sie“ (die Orte!) „wechseln still hinter uns, / während wir bleiben“.
Nicht beliebig, sondern vom Text her genau gesteuert, stellt sich die Assoziation zu einer gebräuchlichen Redewendung ein:
Den Boden unter den Füßen wegziehen
verlieren
Wie genau in „Außer Landes“ die Orte durch einen vierzeiligen Relativsatz bestimmt werden, wurde bereits bei Behandlung der Syntax gesagt. Zu ergänzen wäre aber noch, daß eine nähere Bestimmung durch Relativsätze ein ganz grundlegendes Verfahren bei Definitionen ist.5
Und gerade auf Definitionen von Orten zielt Aichingers Sprache hin. In „Außer Landes“ definiert sie dabei allerdings einen Ort, den es im Moment des sprachlichen Festmachens schon gar nicht mehr gibt. Es ist eine „rückwärtsgewandte Utopie“, denn das für die Zukunft Ersehnte wird wie aus der Erinnerung heraus vorgestellt: Orte „mit ihrem Himbeergesträuch“.
Auch der so auffällige und in Aichingers Lyrik so wichtige6 Konjunktiv II verweist auf die Spannung von Nicht-Mehr und Noch-Nicht:
Käme es auf die Orte an,
die wir zu verlassen im Stand sind.
Der Konjunktiv II sagt ja für sich allein noch nichts darüber aus, ob der durch ihn ausgedrückte Wunsch erfüllbar ist oder nicht. Er sagt nur daß der Wunsch im Widerspruch steht zum Gegebenen.7
Das scheinbar unumstößlich Gegebene wird im Konjunktiv II konfrontiert mit einer anderen kraftvollen Vorstellung, und diese Vorstellung reißt den Horizont auf.8
So ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Phonetik, Syntax und Semantik eine bewegte Spannung, die sich nach der Katastrophe des Holocaust nicht mit billigem Trost abspeisen läßt, sondern die selbst durch die Sprache sich – und anderen, auch den Toten, Ermordeten – den Trost im Widerstand erst neu erringt.
Auch die Opposition zwischen den beiden Verben „verlassen“ (Z. 4) und „bleiben“ (Z. 10) wird durch das Mittelglied „wechseln“ (Z. 9) nicht in eine billige Synthese, sondern in beständige Bewegung aufgelöst: Keine Ruhe ist möglich, solange Situationen „Außer Landes“ verwaltungstechnisch verordnet werden.
Das Gedicht bekämpft die Bedrängnis durch sein Drängen, verwandelt sprachlich die Ausgrenzung in eine Entgrenzung, beklagt den Verlust von Heimat und weigert sich, sie für immer verloren zu geben. Es ist ein Beben der Darstellung, welches das Dargestellte zum Bersten bringt, um es neu aufbauen zu können. Anders: heimatlich. Und ohne Gewalt.
(für Helga Michie)
Richard Reichenbsperger, aus Ilse Aichinger – Materialien zu Leben und Werk, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990
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