Robert Desnos: Porträt und Poesie

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Robert Desnos: Porträt und Poesie

Desnos-Porträt und Poesie

DER FRIEDHOF

Hier soll mein Grab sein und nicht anderswo, unter
aaaaadiesen drei Bäumen.
Ich pflück die ersten Frühlingsblätter ab
Zwischen dem Sockel aus Granit und einer
aaaaaMarmorsäule.

Ich pflück die ersten Frühlingsblätter ab,
Doch neue Blätter werden von glücklicher Fäulnis
aaaaasich nähren
Aus diesem Leib, der, wenn er kann, noch hunderttausend Jahre lebt.

Doch neue Blätter werden von glücklicher Fäulnis sich nähren,
Und wieder andre werden schwarz
Unter der Feder derer, die ihre Abenteuer erzählen.

Doch andre Blätter werden schwarz
Von einer Tinte, die flüssiger ist als Blut und Wasser der Fontänen:
Unbeachtete Testamente, verlorene Worte jenseits der Berge…

Mit einer Tinte, die flüssiger ist als Blut und Wasser der Fontänen.
Kann ich mein Gedächtnis vor dem Vergessen bewahren
Wie ein Tintenfisch, der sein Blut verlierend atemlos flieht?

Kann ich mein Gedächtnis vor dem Vergessen bewahren?

 

 

 

Einleitung

Hinweis

Dieses Buch ist kein Essay über einen Dichter.
Der einzige Ehrgeiz seines Verfassers besteht darin, einen Freundschaftsbeweis geliefert zu haben.
Es handelt sich hier also nicht um Literatur. Übrigens verabscheute Robert Desnos das

 

Vorwort für eine Neuauflage

Der vorliegende Text, einem Dichter gewidmet, dessen Leserkreis ständig wächst, ist vor zehn Jahren geschrieben worden. Die Freunde von Robert Desnos haben ihn beifällig aufgenommen. Doch auch Unbekannte, die im Laufe der Zeit die Publikation verfolgt haben, suchten mich davon zu überzeugen, daß ihnen meine Studie sein Bild und seine geistige Gestalt vermittelt hat.
Als die gegenwärtige Neuauflage beschlossen wurde, war es für mich selbstverständlich, noch einmal zu überprüfen, was ich 1949 glaubte schreiben zu müssen. Trotz zahlreicher Mängel verschiedenster Art meine ich doch, redlich vorgegangen zu sein. Der Rahmen der Reihe Porträt und Poesie erlaubt mir nicht, in meiner ursprünglichen Redlichkeit noch weiterzugehen. Doch es steht schon fest, daß ich eines Tages – vielleicht nach zehn weiteren Jahren – eine vollendetere Studie in Angriff nehmen werde. Das Wesentliche ist jedoch bereits gesagt. Auch glaube ich nicht, hier Retuschen vornehmen zu dürfen.
Der beabsichtigte Freundschaftsbeweis scheint mir noch immer das Naheliegendste zu sein. Mir ist mehr als je zuvor daran gelegen.
Im übrigen erkenne ich gerne an, daß andere in der Durchdringung der geistigen Gestalt des Dichters viel weiter gelangt sind als ich. Sie haben mir erst den tieferen Einblick gewährt. Ich bedaure nur – nebenbei bemerkt –, daß einige sein Werk zu pedantisch, mitunter zu gleichgültig interpretiert haben. Damit wird man ihm nicht gerecht. Ich behaupte vielmehr, daß Robert Desnos ein Dichter war, der jeder Lehrhaftigkeit abhold war. Es zeugt von keiner sehr großen geistigen Aufrichtigkeit, ihn mit der kalten Verstandesschärfe eines Chirurgen seziert zu haben. Andere dagegen – die meisten anderen – haben meine dichterische Begeisterung positiv aufgenommen. Sie haben wirklich aus der Fülle des gesamten Lebens und der „einzigen, umfassenden, allen offenen“ Poesie von Desnos gesprochen, was ich vor zehn Jahren tun zu müssen glaubte und was mir heute noch richtig erscheint.
Es wäre noch viel über Desnos zu sagen. Seine Dimensionen sind erst unzureichend erfaßt. Allmählich gilt es einzusehen, daß man Unrecht daran tat, ihn stets im Bezug auf die anderen zu sehen. Zugegeben, er gehört einer großen Familie an – Nerval, Apollinaire, Whitman usw. Doch diese Zugehörigkeit besteht in einem nur ahnenden Zusammenhang und zuweilen sogar in gegenseitigen Überschneidungen. Es ist bei Desnos nicht viel anders als bei Apollinaire. Er ist anderen verpflichtet, was jedoch die Folge eines gewissen objektiven Zufalls ist, wie Breton sagen würde.
Das also ist in Andeutungen zum Ausdruck gebracht worden, und das würde ich weiterhin zu formulieren versuchen, wenn es mir gegeben sein sollte, das Porträt des Dichters zu vollenden; denn der vorliegende Text ist lediglich eine Skizze.
Nach diesen Einschränkungen, oder richtiger: nachdem meine Arbeit in ihren Proportionen zurechtgerückt ist, brauche ich nur noch ihren allgemeinen Sinn zu bekräftigen: Mehr denn je ist und bleibt Desnos einer der größten und wirkungsreichsten Dichter der Gegenwart.

Pierre Berger, Paris, den 12. Januar 1960, Vorwort

 

In den ersten Apriltagen

des Jahres 1945 überschritten die Armeen Montgomerys, De Lattre de Tassignys und Eisenhowers den Rhein; die Truppen Schukows ließen das befreite Polen hinter sich.
Nach und nach schleifen die Soldaten der freien Welt bei ihren Vorstößen die Festungen der – unbekannten – totalitären Welt. Die regulären Truppen befreien die Märtyrer der Schattenarmeen.
In wenigen Tagen sind Auschwitz, Dachau, Bergen-Belsen und hundert andere Stätten des Todes zugänglich.
Doch die Nietzscheschen Tragödien spielen sich nicht so harmlos ab. Die allerletzten Divisionen Hitlers, die ins Herz Europas, in das letzte Gebiet ihres Widerstandes zurückweichen, evakuieren auch die Kolonnen der Deportierten. Bis zur letzten Stunde hält die SS die Welt der Konzentrationslager aufrecht.
So gelangte gegen Ende April eine Gruppe von Häftlingen aus Flöha (Sachsen) in die Tschechoslowakei. Die Unglücklichen waren völlig erschöpft. Sie fielen hin, rafften sich wieder auf, aßen Gras, verschlangen lebendige Schnecken. Viele starben, von ihren Wärtern niedergemacht, oder erlagen der Ruhr.
Die Überlebenden des Transportes erreichten Theresienstadt. Dort gab es eine Festung mit Kasematten, Zellen, einer Folterkammer, einem Hof für die Hinrichtungen, einer Gaskammer und einem Verbrennungsofen.
Mit Gewehrkolben knüppelte man die Ankömmlinge haufenweise in die Kasematten, die bald überfüllt waren. Den Rest stopfte man zu jeweils zwanzig Personen in die Zellen. Die Übrigbleibenden wurden in die Gaskammer gepfercht.
Von den in den Kasematten Untergebrachten kamen dann einige ins ,Revier‘. Man riß ihnen ihre Lumpen vom Leibe und gab ihnen andere, die von Läusen wimmelten.
Und dann brach der Typhus aus.
Am 3. Mai 1945 ergriff die SS die Flucht, während die russischen Streitkräfte und tschechische Partisanen in die Festung einzogen. Das bedeutete die Freiheit. Aber es war noch nicht das Leben.
Die Befreier brachten Ärzte und Krankenpfleger mit. Es mußte schnell gehandelt werden; wer gerettet werden konnte, mußte gerettet werden, den übrigen galt es das Sterben zu erleichtern. Mancher siechte langsam dahin.
Mehrere Wochen nach der Befreiung, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni, versah der tschechische Student Josef Stuna ausnahmsweise den Dienst in der Baracke Nr. 1. Josef Stuna sah die Krankenliste durch. Auf einer Karte las er: Robert Desnos, geboren 1900, Staatsangehörigkeit: französisch.
Nun, der tschechische Student wußte, wer Desnos war, kannte den Surrealismus, die Dichtung. Er hatte die Bücher von Paul Eluard und André Breton gelesen. Er erinnerte sich eines Porträts von Robert in Nadja…
Der Morgen graute und breitete sein Licht über den Barackenblock. Unter den 240 noch lebenden Skeletten, die er zu betreuen hatte, suchte Josef Stuna nach Robert Desnos. Er blieb vor jemandem stehen, dessen fast erloschener Blick sich hinter dicken Brillengläsern verbarg. Stuna trat an ihn heran:
– Kennen Sie vielleicht den französischen Dichter Robert Desnos? fragte er.
Die Augen des Sterbenden waren in diesem Augenblick unbeschreiblich. Trotz seiner äußeren Schwäche versuchte sich der Mann aufzurichten. Dann sagte er:
– Der französische Dichter… bin ich.
Das Unglaubliche war plötzlich eingetreten. Robert war nicht mehr allein. Da war ein Freund. Dieser Freund wußte, wer er war, kannte seine Dichtungen. Von nun an war kein Gedanke mehr an den Tod.
Josef Stuna holte seine Freundin, die Krankenschwester Alena Tesarowa. Sie konnte besser französisch als er. Stundenlang sprachen sie mit dem sterbenden Dichter.
Er war sehr geschwächt. Die Strapazen des letzten Transportes hatten ihn erschöpft. Das Fieber sank nie unter 39,6. Josef Stuna und Alena Tesarowa taten alles, um ihn zu retten.
Diese drei Menschen, von denen einer dem Tode geweiht war, sprachen über alles: über Paris, die Freiheit, die Brüderlichkeit, die Poesie, über die Bäume, den Wind und das Meer. Desnos berichtete, was es mit der französischen Widerstandsbewegung gegen die Deutschen und was es mit dem Surrealismus auf sich hatte, dieser Bewegung gegen den Obskurantismus der Welt. Alena Tesarowa brachte ihm eine wilde Rose. Die Blume verwelkte schnell. Trotzdem hob sie der Dichter auf.
Nach drei Tagen versank er in Bewußtlosigkeit.
Am 8. Juni um fünf Uhr morgens starb er.
Sprechen wir nun von seinem Leben.

I
Um das Geheimnis um Robert Desnos zu vertiefen, war der Verfasser dieser Studie zunächst versucht, seiner Feder freien Lauf zu lassen, wie es die Surrealisten nach 1922 taten.
Oh, wie erhebend wäre es gewesen, in dem Geheimnis mit den echten Sonden des Automatismus zu schürfen!
Doch warum sollte ich es nicht probieren?
Er war ein Fürst ohne Samtbarett. Auf seinem Handrücken saß nur ein vogelartiges Ungeheuer mit Flügeln, die vom Schlamm der Abgründe der Liebe durchtränkt waren.
Sein Tintenfaß war tausend Jahre alt, und sein Wagen glich einer Golfhose, wie man sie oft zur Stunde abendlicher Freundschaften und vergeblicher Liebe am Montparnasse antrifft. Von Zeit zu Zeit tunkte er einen Finger in das Tintenfaß und zog einen Traum heraus, den er an die gegenüberliegende Wand zeichnete, wo ein am Vortage gemaltes Plakat von Jacques Callot prangte.
Die Possenreißer der Hölle verneigten sich vor ihm, wenn er zwischen einer doppelten Reihe venezianischer Katzen einherschritt. Matrosen, die so alt wie der Ozean Lautréamonts waren, boten ihm auf den Bürgersteigen gerollte Zigarren an, wie man sie zwischen den Bermudas und der rue Mazarine findet.
Und Robert Desnos erwiderte Gruß um Gruß, Blick für Blick und rief allen zu: Seid gegrüßt! Seid gegrüßt von Robert, dem Teufel! Ich bin nicht der gripslose Narr, ich bin der Narr milde Nächte liebender Katzen, ich bin der Geist der unerschöpflichen Mittel, ich bin…
Was war er nicht alles!
Ja, der Automatismus ist nicht ohne Reiz, den André Breton, Aragon, Soupault und Benjamin Péret wiederentdeckten, nachdem ihn die Salonlöwen des zweiten Kaiserreiches in irgendeine Büchse der Pandora neben die Papierschnipsel des bekannten Spiels verbannt hatten. Doch hier handelt es sich jetzt um einen keiner Schule verpflichteten Mann, um einen Dichter, dessen Wahrheit mehr und mehr an Einfluß gewinnt, je nachdem, ob man auf den Blendschirm von Herrn Paul Géraldy verzichtet.
Später, viel später, wenn die kommenden Jahre Gold oder eine Schmutzpatina angesetzt haben, Jahre, die wir ohne Arg durchleben, wird man die Namen der Gegenwart aussprechen, wie wir heute munter die Namen Nerval, Rimbaud, Lautréamont, Apollinaire oder einige andere im Munde führen.
Die Zeit ist noch nicht gekommen, irgend etwas vorherzusagen. Aber ich wette um eine drei Wochen alte Katze (dieser Einsatz ist kein Zufall), daß unsere Enkel den Gruß von Robert Desnos besser aufnehmen werden als wir.
Meinerseits wünsche ich seinem Werk keine literarische Zukunft. Mir sind die Essayisten von vornherein zuwider, die sein Herz mit unbußfertigen Chirurgengesichtern zerstückeln. Aber ich stelle mir gerne vor, wie junge Geister ihre Ketten von der Bastille, in deren Nähe der Dichter am 4. Juli 1900 geboren ist, zur rue Saint-Martin schleifen, wo er die ersten Sterne seines Lebens in Verwirrung brachte.
Diese beiden Viertel haben nie aufgehört, historisch zu sein. Ich weiß nicht, was dem Kind Robert Desnos der Boulevard Richard-Lenoir bedeutet hat, doch es steht jetzt fest, daß die rue Saint-Martin seine Jugend bestimmt hat. Selbst als er sich nach wiederholtem Wohnungswechsel in der rue Mazarine Nr. 19 einmietete, war ihm das mittelalterliche Klima dieser zehn Jahre noch gegenwärtig, und seine Spuren sind bis in die letzten Gedichte zu verfolgen.
Dieses Viertel um Saint-Martin gehört dem Teufel. Es ist eine Reise wert.
Seine Straßen tragen Namen wie Quincampoix, de la Chanvrerie, Nicolas Flamel, de la Grande-Truanderie, de la Ferronnerie, des Blancs-Manteaux, Brise-Miche, de Venise, du Renard, des Juges-Consuls, du Cloître Saint-Merry, des Lombards. La Cour des Miracles liegt nicht weit davon entfernt. Der ehemalige Winkel der Unschuldigen verbirgt sich hinter den Nymphes de Jean-Goujon. Über den erschreckenden Gebäuden, für die unser Jahrhundert verantwortlich ist, tauschen Notre-Dame-de-Paris und der Turm von Saint-Jacques-la-Boucherie ihre alchimistischen Geheimnisse aus. Dort befindet sich die place de Grève, und abends steigt an den Wänden des unsterblichen Rathauses das Röcheln der damals Hingerichteten empor. In den niedriggewölbten Kellern der Umgebung bereiteten sich viele Hexen auf die Wohltätigkeiten der Hofdamen vor. Die rue des Ecrivains weiß noch genau, daß am 17. Januar 1382 Nicolas Flamel und Dame Pèrenelle ein halbes Pfund Quecksilber in reines Silber verwandelten.
In der Tat riecht das Viertel um Saint-Martin nach Schwefel. Gérard de Nerval, der dort auf seinen Traumwegen Geheimnisse erfuhr, versicherte es dem älteren Dumas. Und Desnos vermochte sich nie von dem unheilvollen Geruch seiner Kindheit freizumachen.
Zu Anfang des Jahrhunderts begegneten die Bewohner dieses Satansviertels zuweilen einem bärtigen Mann, den sie Tristan Bernard nannten.
– Ich bin nicht der, für den Sie mich halten, beteuerte dann dieser Mann.
Man glaubte ihm nicht und rief aus:
– Dieser Tristan Bernard! Wie geistreich er ist!
Der gute Bärtige! Er sprach doch die Wahrheit. Er war nicht Tristan Bernard, sondern ganz einfach Vertreter bei den Markthallen, Geflügelbrater, Beigeordneter des Bürgermeisters in diesem Stadtbezirk und Vater von Robert Desnos. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Der Vater war ungewöhnlich wißbegierig und liebte die Welt in all ihren Schattierungen.
Er wohnte im sechsten Stock eines Mietshauses an der Ecke rue des Lombards und rue de Saint-Martin.
Vom Balkon aus konnte das Kind die merkwürdigsten Schauspiele verfolgen. In jeder Karwoche wurden die Kuppeln von Saint-Merry mit Grün geschmückt. Die verführerischsten Schatten der rue des Lombards teilten sich die Nacht. Und manchmal glitt eine Reihe Leprakranker an dem jahrhundertealten, verwitterten Gemäuer entlang, für das das Kind jedoch noch einen Sinn hatte, da es bereits zu den Sehern gehörte.
Desnos, der Seher… Wir werden darauf zurückkommen.
Im Alter der Karussellpferdchen hatte er schon die nichtssagenden Märchenstücke, die in Kaufhäusern von ausgestopften Magieren dargeboten werden, mit eigenen Phantasiegestalten ausgestattet.
Es handelte sich damals nur um Zauberstücke. Durch ihren häufigen Besuch hätte Desnos der Nicolas Flamel des zwanzigsten Jahrhunderts werden können, doch das Schicksal hat diese Zeit übersprungen, und man mag froh sein, daß er keine Lust verspürte, sich der Verdammnis anheimzugeben. Seine einzige Alchimie war die des Wortes. Sie barg allerdings die Gefahr der Vergeltung in sich. Ahnte dieser Zauberlehrling, der jeden Morgen in die Gemeindeschule in der rue des Archives gebracht wurde, sein Gefängnis voraus? Die wichtigsten einschlägigen Werke waren ihm bereits vertraut. Lesen lernte er in den Misérables, und seine Kenntnisse von Victor Hugo mußten sich in dem zwölfjährigen Köpfchen mit den stummen Vertraulichkeiten des Mauerwerkes von Saint-Merry verbinden.
Vielleicht hätte man schon zu jener Zeit erkennen müssen, daß der kleine Desnos nicht wie die meisten seiner Altersgenossen dachte. Er wird sich jedenfalls als anderen Geistes Kind erweisen.
Anscheinend war er damals schon nicht leicht zu beeinflussen gewesen. Seit seiner Kindheit hatte er nur Kontakte gepflegt, die nach seinem Geschmack waren. Das wird ihn einmal weiterbringen, mit vielen Besonderheiten dieser Welt bekanntmachen und ihm letztlich ein Gut sichern, das er sehr schnell erkannt hatte: frei zu sein.
Bevor Robert Desnos ein freier Mann wurde, war er ein freies Kind. Das können wenige der Surrealisten von sich sagen. In diesem Punkte bekannte er gern, daß Freiheit kein Geschenk ist, sondern erworben sein will. Die Ereignisse haben ihm voll und ganz recht gegeben, nicht nur vor, sondern vor allen Dingen in seiner Todesstunde.
Seiner Todesstunde… Man schreckt davor zurück, dieses Wort gleich auf den ersten Seiten eines Buches niederzuschreiben, das ihn vorstellen soll. Doch dann erinnert man sich, daß er oft selbst daran dachte und daß er davon wie von einer möglichen Begebenheit seines Lebens sprach, daß seine Hellsicht sicherlich wie bei Baudelaire in dem gleichen Zeitraum entstand wie der Begriff vom unabänderlichen Nichts.
Es ist noch zu früh, die Gegenwart Rimbauds in die Welt Desnos’ einzubeziehen. Das Kind zeigt noch keine Anzeichen, die auf zukünftige Revolten schließen lassen. Es ist lediglich eine geistige Orientierung festzustellen, der die Traurigkeit der Straßen und die soziale Schauerromantik dieses Viertels auf keinen Fall fremd sind. Mit dem Kind von Charleville teilte Desnos hingegen die Begeisterung für das Ungreifbare, das aus den Illustrationen der Heldenepen hervorstrahlt. Wenn es stimmt, daß die Anregung für „Das Trunkene Schiff“ von einem Bild der Illustrierten Zeitung herrührt, stimmt es auch, daß der illustrierte Einband von Fantômas das Kind von Saint-Martin stets verfolgt hat. Die Surrealisten sind sich später in diesem Punkte einig, und nicht ohne Grund geben sie dem Wunderbaren in der Naivität des Volkes den Namen: unfreiwillige Poesie.
Man kann annehmen, daß ein gut Teil der Wahrheiten Desnos’ dort ihre Wurzel haben. Wie er selbst zugab (einige von uns erinnern sich daran), entstammten seine Lieblingsvorstellungen romantischen Quellen – genauer: jener undefinierbaren Romantik, die von dem Geheimnisvollen New Yorks, Chikagos und von Paris ausströmt. Ebenso wie der Humor von allen Farben der Welt die schwarze bevorzugt.
Zweifellos hat Desnos innerlich lachen müssen, als Intellektuelle jeder Provenienz ihre Liebe zu den Klassikern vor ihm zur Schau stellten. Seine Vorliebe galt nicht Corneille oder Racine, sondern Leuten wie Gaboriau, Eugène Suë und Ponson du Terrail. Man darf beim Verbrechen das Lachen nicht vergessen. Zittert, wenn es Euch danach verlangt, aber zittert vor Freude und nicht vor Schrecken! Der Fliegende Holländer? Gut. Aber unter der Bedingung, daß. er im Lächerlichen versinkt. Anfangs sollte „Das Trunkene Schiff“ ein Gedicht ohne jeden Sinn werden. Der Genius ist darübergekommen… und vielleicht ist es schade darum.
Ich habe nicht die geringste Lust, der Entstehungsgeschichte der Dichtungen Desnos’ nachzugehen, aber schließlich kann man hundert zu eins wetten, daß eines seiner ersten Gedichte „Le Fard des Argonautes“ (Der falsche Glanz der Argonauten) – wahrscheinlich Ende 1918 konzipiert – auf eine mythologische Bilderserie in einer heute vergessenen Zeitschrift zurückzuführen ist.
Wenn es übrigens nicht feststeht, daß Robert sehr früh an das abenteuerliche Dasein eines Dichters gedacht hat, so hat er vermutlich wenigstens davon geträumt, Maler zu werden. Mit sechs oder sieben Jahren versah er seine Hefte mit eigenartigen Zeichnungen. Mit seinem zwölften Lebensjahr wurden sie farbig und recht phantastisch. Man weiß nicht, wie wichtig sie für sein späteres Leben wurden, aber man sollte von ihnen ausgehen, um die Ursprünge seiner poetischen Ansätze zu ermitteln.
Was bedeuten dem vorübergehenden Schuljungen plötzlich die Dirnen von Saint-Merry? Er betrachtet sie gierig. Wer sind sie? Der Lehrer spricht nie von diesen Damen. Schon jetzt beschäftigen sie ihn und fesseln seine Vorstellungskraft. Und einige Jahre später werden aus diesen eigenartigen Mädchen von Saint-Merry:

Die Huren von Marseille haben Meeresschwestern
Deren unheilvoller Kuß euer Fleisch schimmlig macht…

Das stammt von 1919. Zu jener Zeit hatte Robert Desnos vielleicht noch nicht Bubu vom Montparnasse gelesen, aber er hatte viele Verbindungen zum Quartier Latin, wo er singen hörte:

Wir sind vereint durch die Syphilis…

1916 tritt er eine Stelle als Drogistenlehrling in der rue de Pavée an. Er hatte gerade erst die Schule verlassen. Er war ein fürchterlicher Schüler gewesen. Später gestand er es angriffslustig allen, die sich mit ihrem Wissen vor ihm brüsteten.
Sei es; mit der rue d’Ulm lasse man uns hier in Frieden. Es geht heute um ernsthafte Dinge, es geht um die Dichtung. Überdies gefiel sich Robert Desnos darin, seinen Freunden gegenüber wiederholt zum Ausdruck zu bringen:

Ich bin kein Philosoph, ich bin kein Metaphysiker… Und ich liebe reinen Wein.

Dieser Ausspruch ist ein erster Beleg für seine Vorliebe, zu improvisieren. Tatsache ist, daß Desnos eine bestimmte wissenschaftliche Interpretationsweise nie lag. Im Bereich der Philosophie hat er natürlich die verschleiernde Unverständlichkeit, die heutzutage bei den meisten Denkern gang und gäbe ist, energisch zurückgewiesen. Oh, ich versichere Ihnen, daß alles, was nicht für jedermann ist, für ihn im Innern unakzeptabel blieb. Manchmal blätterte er die Seiten unserer Zeitschriften durch und bemerkte:
– Wirklich, das verstehe ich nicht… Was soll das alles heißen?
Und fügte dann gerne hinzu:
– Was die Schriftsteller zu sagen haben, ist an alle gerichtet.
Diese Regel hat er nie aufgehört zu befolgen. Vergeblich wird man in seinem Werk einen unklaren Text suchen – mit Ausnahme vielleicht einiger Gedichte, die unter dem Titel Langage cuite (Gesottene Sprache) zusammengefaßt sind. Doch da handelte es sich darum, ein Vokabular zu erforschen, Versuche anzustellen. Es war eine Laboratoriumsarbeit. Und selbst in den automatischen Gedichten hat Desnos allein Gedanken von äußerster Klarheit zugelassen.
Mehr und mehr gelange ich zu der Überzeugung, daß es gut war, diese Dinge zu betonen. Es kann wirklich nicht wünschenswert erscheinen, unter dem Anstrich des Surrealismus eine bedenkliche Interpretation entstehen zu lassen.
Während ich diese Zeilen schreibe, wird die dichterische Welt von der Affäre Chasse Spirituelle (Geistige Jagd) in Atem gehalten. Diese Affäre ist nicht nur ein Skandal, sondern liefert beinahe den Beweis, daß die ,Polytechniker‘ der Poesie wie alle anderen Konkurs angemeldet haben. Man liebt oder man liebt nicht. Allein die Sprache des Herzens gilt. Man benötigt nichts anderes, um seinesgleichen zu erkennen. Robert Desnos bedurfte nur seiner Seele, um auf andere Weise ein überzeugter Anhänger Rimbauds zu werden als einige in Eitelkeit befangene Exegeten.
Nicht zufällig rief ich die Erinnerung an den Skandal um die Geistige Jagd wach. Viele Leute sahen sich Rimbaud gegenübergestellt. Sie glaubten etwas zu ahnen: Wahnsinn oder vielleicht eine Apokalypse. Aber sie vermochten nie weiter vorzudringen. Und zwar aus gutem Grund. Denn die zeitgenössische Dichtkunst ist literarisch, rein literarisch. Das heißt, nachahmend und oft voller Niederträchtigkeit. Daneben steht das Leben… Nun, heutigentags ,leben‘ die Dichter nicht mehr. Vielmehr verachten sie diejenigen, die leben. Diese Leute erklären ihre Bewunderung für Lautréamont oder für Rimbaud; doch wenn man ihnen eine Persönlichkeit gleichen Stils vorschlägt (einen Antonin Artaud zum Beispiel), sind sie empört. Sie berufen sich auf den Wahnsinn. Sie sind noch nicht einmal neugierig, sie haben nicht die geringste Lust, von etwas Zeuge zu werden. Heute sind die Dichter nicht mehr wahnsinnig. Im Gegenteil, sie machen Geschäfte.
Da Robert Desnos zu früh gestorben ist, hatte er keine Zeit, ein poète maudit zu werden. In seinem Leben gibt es wenige abenteuerliche Elemente. Ein Leiden an seinem Jahrhundert ist bei ihm nicht zu entdecken, eher ein Leiden an den Jahrhunderten; ebenso wie bei Homer, Villon oder Lautréamont, Man wird mich ohne Zweifel der Gewissenlosigkeit beschuldigen, diese Namen miteinander verquickt zu haben. Es wäre jedoch leicht, ihre Verwünschungen einander gegenüberzustellen. Es sind die gleichen.
Da auch Desnos der Wunderromantik entronnen war, hat er denselben Weg eingeschlagen: den der Ungeheuer und der Sterne.
Vielleicht interessiert es den Leser noch, daß Robert nach den verschiedensten Schulabenteuern – in der Gemeindeschule im Schatten der Handlanger des Satans und drei besonders verlorenen Jahren auf dem Turgot-Gymnasium – nach klassischem Vorbild das Familienleben aufgab. Ich erwähnte weiter oben, daß ihn ein Drogist in der rue de Pavée als Lehrling einstellte. Kann man sich diesen bereits inspirierten Jüngling zwischen Kästen mit Kamille und Lindenblüten vorstellen?
Robert hatte mit den Seinen gebrochen und nahm von ihrer Großmut nur das Dienstmädchenzimmer im obersten Stockwerk des Mietshauses in Anspruch. Es ist anzunehmen, daß er nicht immer satt zu essen hatte. Dafür war das Zimmer eine Beute der Sterne.
Desnos ist nun zu seinem eigenen Leben erwacht.
In diesem Punkt geizt er sehr mit Mitteilungen. Möglicherweise erinnerte er sich auch nicht mehr so genau seiner ersten Schritte. Mit dem zeitlichen Abstand könnte man darin eine Rimbaudsche Neigung erblicken. Jetzt gilt es, ohne Umstände in die Gedankenwelt des Dichters einzudringen, unter seinen Sternen umherzuschweifen, seine Sirenen im Vorbeigehen zu streicheln, unter seiner Leitung Metalle zu verwandeln, mit diesem Wolf zu heulen, gedämpft in einen Refrain einzustimmen, dessen Couplet von ihm solo gesungen wird (recht schlecht übrigens). Ja, es ist tatsächlich notwendig, mit ihm zusammen eine ganze Reihe uns vorenthaltener Geschehnisse nachzuvollziehen. Sonst… Sonst bleibt nur ein junger Mann übrig, der eines Tages seinen Vater verließ, wie wir den unseren verlassen haben.
Es sei gleich gesagt, daß die Heimkehr triumphaler war. Als Robert zur Bratstube zurückkehrte, hatte er es noch nicht zum Reichtum gebracht, doch er überreichte seiner Mutter einen Blumenstrauß, der an einem Metroausgang mindestens zwanzig Pfennig gekostet hatte.
Darüber hinaus möchte ich mich nicht weiter mit seinen Familiengeschichten aufhalten. Beschränken wir uns darauf, festzuhalten, daß er für die Seinen eine gewisse Zärtlichkeit empfand, nicht weil das den überkommenen allbekannten Konventionen entsprach, sondern weil der Vater wirklich ein Original war und weil etwas davon auf seine Umgebung zurückfiel. Väter vermögen zuweilen ein geheiligtes Ungeheuer in sich zu bergen.
Feststeht, daß der Nonkonformismus des Jünglings nun vollständig und authentisch ist. Das soll jedoch nicht heißen, daß er es in allen Stücken ist. Desnos behält es sich vor, zu lieben, was ihm gefällt, ohne Berücksichtigung des Vorteils, des Interesses oder der Moral. Das verlieh ihm einen Glanz, den man über mehr als einer Stirn strahlen sehen möchte: den der Brüderlichkeit.
Sechzehn Jahre alt zu sein und brüderlich zu empfinden! Das ist bereits ein erster Lichtblick im Geheimnis um Robert Desnos.
Über die Brüderlichkeit wäre viel zu sagen. Viele Menschen geben zu, dieses Wort nicht ohne ein Erschauern vernehmen zu können. Sie erwächst aus dem subjektiven Wohlbefinden der Menge. Sie setzt sich in einem Buch, einem Film oder einem erhebenden Bild fort. Sie endet im allgemeinen vor den erblindeten Palästen der Nacht und der Kälte.
Das schlummernde Eis auf dem Grunde der Straßen… schrieb Desnos später.
Mit sechzehn Jahren ist man für oder gegen das Volk, für oder gegen die Liebe, man verabscheut Mozart oder man betet ihn an, man rezitiert Apollinaire oder findet ihn zum Erbrechen, man ist Antisemit oder verneigt sich vor den hebräischen Klagegesängen. Mit sechzehn Jahren… Zweifellos hörte Robert Desnos aus diesem Grund plötzlich auf, Kräutertee für einen Drogisten in Tütchen zu füllen, für den diese sechzehn Jahre weit zurücklagen.
Sogleich erwartet ihn das Abenteuer an allen Ecken der Welt.
Was vermag der Dichter? Mein Gott, er vermag alles. Sogar das anzuhören, was ihm ein Muttchen der Liebe, eine fürchterliche Dirne im Faltenrock zuflüstert. – „Auf dein Wohl, Robert!… Sei mir gegrüßt!… Sei gegrüßt von der fragwürdigen und verzweiflungsvollen Liebe!“
Oh, an jenem Abend wirst du sicher ein neugieriger Cherubim gewesen sein, als dir zum ersten Male (es war im Winter 1917, wie du einmal erwähntest) eine widerliche Matrone ein Paradies versprach, für dessen Künstlichkeit sie nicht einmal garantieren konnte. Trotzdem hast du diese Vettel nie ganz vergessen können, die einer rue Bouterie, Whitechapel oder Bousbir würdig war. Vielleicht ist sie es, deren Stimme du noch Jahre später vernahmst, als du die Schallplatten von Sophie Tucker auflegtest.
Welche Gedichte schriebst du damals? Wem gehörte dein Herz? Welche Vorstellungen verfolgten dich? Du bist in Paris. Wenige Kilometer entfernt tobt der Krieg. Man tötet, man stirbt. Auf jeden Fall pfeift man auf sich. Aber du, du gleichst einer lichtempfindlichen Platte. Um dich zu erregen, genügt ein Hauch der aufdringlichen Vergangenheit

… in den alten Weinstuben.

Und diese Vergangenheit gräbt sich Stück für Stück in das Herz von Robert Desnos ein, in das Kind mit den staunenden Augen, den einzigen Menschen des Jahrhunderts, der das Geheimnis von Nicolas Flamel erfaßt hatte.
1917 Desnos beginnt zu schreiben. Leider hat man die Nummern der Zeitschrift La Tribune des Jeunes nicht ausfindig machen können, wo er seine ersten Gedichte veröffentlichte. Man weiß nur, daß er noch bei den musikalischen Darstellungen des Einbandes, die ihm die Rhythmen des regelmäßigen Versbaues eingaben, an die Dichtung dachte. War er sich damals seiner Möglichkeiten bewußt? Wir wissen es nicht. Doch er hatte bereits die Bedeutung der Träume erkannt. Soweit sie sich nicht beim Erwachen verflüchtigen, zeichnet er sie auf. In einer Nummer der Littérature ist ein Traum aus dem Jahre 1916 publiziert worden. Er ist in dem anthologischen Teil dieses Werkes abgedruckt.
Er gibt sich übrigens nicht damit zufrieden, seine Träume wiederzugeben, er kommentiert sie auch. Die Traumdeutung wird bald sein Heiligtum. Faktisch handelt es sich hier um die Vorausnahme einer Ästhetik, die dann von Andre Breton definiert und von den Surrealisten realisiert wurde.
Das traumdeutende Element in der Poesie Desnos’ ist ungeheuer wichtig. Es fügt sich in die Tradition der europäischen Romantik. Es drängt sich bei ihm noch mehr in den Vordergrund als der Sinn für Literatur an sich, und im Notfall kämpft er mit Erfolg dagegen an.
Traum bedeutet bei Desnos: das zweite Gesicht.
Das kommt häufig vor. Freud hat uns die Funktionen des Unterbewußten gelehrt. Aber er hat nicht die Eroberung der Psychologie durch die Poesie vorhergesehen. Man kann sich dabei auf jenen Jüngling beziehen, der während des Winters 1918–19 seine eigene Realität mit Hilfe seiner Träume entdeckte. Die Berichte, die man darüber in alten Zeitschriften oder nahezu unleserlichen Manuskripten wiedergefunden hat, zielen alle auf das gleiche ab: die Vorhersage des eigenen Geschicks.
Desnos’ erste Freunde – die er oft in zweifelhaften Wirtschaften in der Gegend des Rathauses traf und von denen einige aktiv am literarischen Leben teilnahmen – scheinen sich seiner phänomenologischen Erleuchtungen nicht bewußt gewesen zu sein. Im Grunde war er es selbst nicht. Es bedurfte der Begegnung mit Benjamin Péret, dem Robert Desnos eines Abends gestand:
– Ich bin offensichtlich nicht wie die anderen.
Und darüber hat er dann bestimmt in aller Ausführlichkeit gesprochen. In dem gleichen Jahr besuchte er zuweilen den eigenartigen Louis de Gonzague-Frick in seiner Höhle in der rue Notre-Dame-de-Lorette. Dort wurde er vermutlich in die unverbrauchten Worte eingeweiht.
Bei diesem literarischen Dandy sagte André Malraux einmal zu ihm:
– Was treiben Sie? Ich lebe von der Gelehrsamkeit.
1943 trifft Desnos Malraux bei Picasso. Er erinnert sich des damaligen Ausspruchs und notiert noch am selben Abend in sein Tagebuch:

In 23 Jahren hat er seine Behauptung erwiesen.

II
Wir schreiben das Jahr 1919. Desnos ist bei Jean de Bonnefon Sekretär und Geschäftsführer des Verlages geworden. In der avantgardistischen Zeitschrift Trait-d’Union veröffentlicht er stark von Apollinaire beeinflußte Gedichte. Es ist auch die Epoche, in der „Der Falsche Glanz der Argonauten“ entstand, der später den Gedichtband Corps et Biens (Mit Mann und Maus) einleitet.
„Der Falsche Glanz der Argonauten“ offenbart eine Vorliebe für bestimmte Mythen. Der Mythos des Meeres und dessen geheime Macht über die Menschen ist aus jeder Strophe ersichtlich. Es fehlt auch die in den Refrains der alten Galeerenlieder ausgedrückte Hoffnungslosigkeit nicht. Den Freunden des Dichters ist übrigens sein Sinn für mögliche Mysterien ferner Horizonte wohlbekannt. Letztlich hätte Blaise Cendrars vielleicht gar nicht auf Apollinaire hinzuweisen brauchen. Es ist interessant, das Schicksal der griechischen Mythologie zu verfolgen, die es nicht dabei bewenden ließ, die Genies der Antike zu inspirieren, sondern auch unsere Tragiker des 18. und unsere Operettenlibrettisten des 19. Jahrhunderts reizte und schließlich an die Tür eines sehr jungen Dichters des 20. Jahrhunderts klopfte.
Das Jahr 1919 kennzeichnet nicht nur den Anfang eines Traumzüchters, es kündigt auch den Lebenseintritt einer geistigen Bewegung an. Völlig unbekannte Leute: Breton, Tzara, Francis Picabia, Louis Aragon, Ribemont-Dessaignes sind Mitglieder dieser Bewegung, deren Aushängeschild keinerlei sinnfällige Bedeutung trägt: Dada. Sie mußte ihr erst verliehen werden. Bis 1921 waren die erwähnten Männer damit beschäftigt.
Einer der letzten, die sich diesem Unternehmen der systematischen Verneinung anschlossen, war jener zufällige Kamerad Desnos’ Benjamin Péret, „dessen Gedichte selbst die Dadaisten je nach Stimmung aufbrachten oder begeisterten“, wie uns Ribemont-Dessaignes in seiner Geschichte des Dada berichtet.
Die Begegnung zwischen Péret und Desnos fand bei einem eigenartigen Mann statt, der sich als ehemaliger Sekretär Huysmans’ ausgab, aber offenkundig homosexuell und halb verrückt war. Stets war er in eine Wolke von Parfüm gehüllt, schminkte sich wie Pierre Lôti und behängte sich mit Schmuckstücken wie die Irre von Chaillot; Desnos hat lange die Erinnerung an diesen in seiner Haltung und in seinem Namen ungewöhnlichen Menschen bewahrt: Georges-Elzéar-Xavier Aubault de la Haulte Chambre du Lemoléon de La Gachève und anderer Orte. In seiner Art vermittelte er ein ganz gutes Bild von der Existenz geheiligter Ungeheuer, deren Einzug in die dichterische Welt Cocteau gerade vorbereitete.
Desnos sollte noch manchem geheiligten Ungeheuer in seinem Leben begegnen. Zur Not weihte er sich selbst dazu.
Bevor das für ihn entscheidende Erlebnis beginnt, fährt er nach Marokko, um dort seinen Militärdienst abzuleisten. Er ist zwanzig Jahre alt. Ihm sind bereits die Mittel vertraut, mit denen gegen die Mängel dieser Welt anzugehen ist. Was er von den Leistungen des menschlichen Geistes weiß, hat ihn bewogen, sich allen Ernstes für eine gefühlsbestimmte und umstürzlerische Inflation zu entscheiden. Er hat den größten Teil seiner Träume sorgfältig aufgezeichnet. Er hat eine Vielzahl von Gedichten geschrieben. Er hat ein bißchen geliebt und ein bißchen gelebt. Er hat schon die Vorhalle einer ganzen Reihe von Geheimnissen durchschritten. Seinen Gefährten gegenüber kann er bereits sagen:
– Seid gegrüßt von Robert Desnos!
Während er vergeblich gegen den Trott des Kasernenlebens ankämpft, verpufft das geistige Abenteuer des Dadaismus.
Man wird sich entsinnen, daß diese Bewegung im Laufe der Jahre 1920, 21 und 22 abwechselnd Sternstunden und Tiefpunkte erlebte. Picabia bereitete den Zusammenbruch vor, gefolgt von André Breton. In der zweiten Nummer der Littérature (Neue Folge 1922) erscheint der berühmte Text: „Gebt alles auf!“. Der Dadaismus ist in die aufzugebenden Mythen mit einbeschlossen. So fällt einer der seltenen Ausrufe menschlicher Negation ins Nichts zurück. Unmittelbar darauf schließen sich Breton und seine Freunde zusammen, um dem gewaltigen Experiment des Surrealismus zum Durchbruch zu verhelfen.
Noch geht es 1922 weniger um Erfolg als um Gegenüberstellung oder, notfalls, um Duldung. Wahrscheinlich aus der Erwägung heraus, sich mit ihr auseinanderzusetzen, schließt sich Desnos der Gruppe an.
Péret hatte ihm von Breton erzählt, diesem Mann, der schon mit 25 Jahren, im Alter der Eroberungen, wußte, wie man gegen seine Zeit und gegen die meisten Verfallserscheinungen anzukämpfen hatte, die von den Mitmenschen obendrein noch gefördert werden. Während eines Urlaubs wurde der Kontakt aufgenommen. Desnos kam ins Certa, jene berühmte, heute jedoch nicht mehr existierende Bar in der Opernpassage. Dort traf er Aragon, Breton, Radiguet, Tzara, Cendrars und einige andere.
Auf der Stelle ist sich Desnos mit ihrem Idol einig.
Wie sollte er es auch nicht sein?
Was er entdeckt, ist auf andere Art erregend als das begrenzte Erbe der Vergangenheit. Wenn er Freiheit sagt, erhält er Freiheit zur Antwort. Man öffnet ihm die Tore zur Revolution – der echten, nicht der der Unentschlossenen –, und er beteiligt sich an der Revolution. Nieder mit der Sprache und ihren glatten Formen! Nieder mit der literarischen Poesie! Nieder mit dem provisorischen Menschen!
Es gibt im Innersten dieser Gruppe wunderbare Möglichkeiten der Selbstbeobachtung. Man kann jetzt zur Hölle hinabsteigen. Man kann die Abgründe erforschen, in denen sich bisher die wahren menschlichen Geheimnisse verbargen. Es wird verfügt, daß der Gebrauch des Wortes von übermenschlicher Nützlichkeit ist. Seit Jahrtausenden ist dieses Wort Lüge. Dank dieses Gewaltaktes von Umstürzlern wird es zu einer unumstößlichen Wahrheit werden. Man wird nun den wirklichen Denkprozeß erklären und definieren. Man wird um die Freiheit kämpfen, die nicht länger mit denen geteilt werden kann, die Angst davor haben, frei zu sein. Dieser Freiheit kann man nicht ausweichen. Eines Tages muß man soweit kommen. Viel Zeit ist vertan, viel für Nichtigkeiten vergeudet worden. Eine neue Ära gilt es zu schaffen: der Surrealismus befindet sich im Jahre eins.
Hereinspaziert! Hereinspaziert! Hier sehen Sie…
Indem sie sich mit Hilfe hellsichtiger Anstrengungen auf der Grenze zwischen Hoffnung und Verzweiflung halten, setzen die Surrealisten den großartigen Versuch ins Werk, den Menschen zu befreien. Sie sind von einer geradezu wahnwitzigen Großzügigkeit. Sie geben alles her, was man sehen, denken oder träumen kann. In bezug auf die Träume sind sie unerschöpflich.
Ganz einfach: sie sind Phantasten.
Paul Eluard hat 1921 ein Buch mit dem bezeichnenden Titel geschrieben: Die Notwendigkeiten des Lebens und die Folgerichtigkeit der Träume.
Der Traum ist die offene Tür zum Unbekannten. Sobald sie können, zeichnen die Surrealisten ihre Träume auf. Robert hatte diese Gewohnheit schon lange angenommen. Seit seiner Rückkehr aus Marokko erweist er sich als aktiver Mitarbeiter der Surrealistengruppe. Er hat Roger Vitrac, einen Freund aus dem Quartier Latin, wiedergefunden. Sogleich arbeitet er an der Zeitschrift Littérature mit. Und durch die Tür der Träume dringt er bei denen ein, die das Brot der Ausgestoßenen essen.
Die Surrealisten wissen ihren Schlaf mit Gestalten zu beleben. Sie empfangen da Besuche wie im tatsächlichen Leben. Der erste von Desnos in der Littérature erscheinende Traumbericht ist ein kostbares Beispiel für diese absolute Vertrautheit. Man findet darin weniger Poesie als Humor, der zugleich heiter und phantastisch ist. Dieser Humor bildet übrigens einen Teil der surrealistischen Ethik. In dem Maße, wie André Breton und seine Freunde ihre Vorläufer für sich entdeckt haben, haben sie nicht nur Rimbaud und Lautréamont, sondern auch Alfred Jarry auf ihren Schild gehoben. Selbst ihre Leidenschaft für das Phantastische gehört zu ihrem Humor. Man kennt die Überzeugungen André Bretons in diesem Punkt. Robert Desnos ging wahrscheinlich in seiner Liebe zum Unbeabsichtigten noch weiter (deshalb scheint ihm auch Prévert nicht so fernzustehen). Auf sein Betreiben wurde Fantômas zum Helden Nummer eins des Surrealismus – gewissermaßen ein Hernani der neuen Schule. Zeit seines Lebens hat Desnos nicht aufgehört, an Fantômas zu denken. Er brachte eine Radiosendung darüber und schrieb jenes heute bereits klassische Klagelied.
Infolge des wunderbaren und ungewohnten Charakters von Fantômas möchte man glauben, daß Desnos in ihm so etwas wie eine Reinkarnation von Nicolas Flamel erblickt hat. Fantômas kann nicht nur Gold machen, er ist auch der vollendetste Zauberer. Marcel Allain hat 32 Bände füllen müssen, um seine Wunder alle aufzuzählen. Wir wollen hier nicht einwenden, daß zwischen den Alchimisten des 14. Jahrhunderts und unserem Gauner nur wenige Berührungspunkte zu finden sind. Der Dichter muß eben selbst zu der notwendigen Verwandlung beitragen. Es braucht nicht betont zu werden, daß er ständig daran dachte. Nicolas Flamel spaziert ungehindert durch alle Werke Desnos’. Er ist nicht allein der bevorzugte Held des Dichters, er ist auch der Corsaire Sanglot in La Liberté ou l’Amour (Die Freiheit oder die Liebe); er ist der ziellose Wanderer in Deuil pour Deuil (Trauer um Trauer); er ist einer der Sans cou (Ohne-Hals), und vielleicht ist er auch André Platard, der die rue Saint-Martin verließ. Mit einem derartigen Bürgen besaß Desnos alles, was er brauchte, um André Breton für sich einzunehmen. Tatsächlich setzte Breton viel Hoffnung in diesen Neuankömmling und betrachtete ihn sicher wie ein lebendiges Beispiel seiner Grundsätze.
Es galt damals als eine besondere Empfehlung, am Surrealismus teilzuhaben. Und am angesehensten war es, sich auf die Straße zu begeben und auf die Passanten zu schießen. Natürlich gingen selbst die Begeistertsten und Überzeugtesten der Surrealisten nicht so weit.
Doch einige – und besonders Desnos – lebten immerhin so ungezwungen, wie es ein Polizeistaat gleich dem französischen gerade noch zuläßt.
Desnos sieht sich plötzlich veranlaßt, eine äußerst wichtige Rolle im Surrealismus zu spielen. Besessen von der Existenz eines Traumzustandes, den Gérard de Nerval ,übernatürlich‘ nannte, ist André Breton der Meinung, daß nichts von Bedeutung ist, was außerhalb der Hörigkeit dieses magischen Einflusses gesagt oder getan wird. „Um auf den Surrealismus zurückzukommen“, schrieb er, „ich bin in der letzten Zeit zu der Überzeugung gelangt, daß ihn sein Übergriff auf dieses Gebiet der Bewußtseinselemente und seine Unterstellung unter einen genau umrissenen, literarisch bestimmten menschlichen Willen einer zunehmend unfruchtbaren Auswertung ausliefert. Ich habe das Interesse daran vollkommen verloren. In dem gleichen geistigen Zusammenhang bin ich zu dem Ergebnis gekommen, Traumberichten den Vorzug zu geben, die stenogrammartig festgehalten sein sollten, um sie vor einer ähnlichen Stilisierung zu bewahren. Unglücklicherweise erforderte dieser neue Versuch die Unterstützung des Gedächtnisses, das seinerseits gänzlich versagt und grundsätzlich verdächtig ist. Das Problem schien kaum zu lösen zu sein, da vor allem eine genügende Anzahl charakteristischer Dokumente fehlte. Deshalb erwarte ich in dieser Hinsicht nicht mehr allzuviel, zumal sich nun eine dritte Lösungsmöglichkeit angeboten hat…“
Praktisch handelt es sich darum, bis zum Grunde der Hypnose vorzudringen, um die surrealistische Wahrheit zu finden.
Die Lösung wird von René Crevel vorgeschlagen, der gerade in die Anfangsgründe des Spiritismus eingeweiht wurde. Er behauptete, daß er eingeschlafen sei und im Schlaf mehr oder weniger zusammenhängende Äußerungen von sich gegeben habe.
Am 25. September findet bei André Breton die erste spiritistische Sitzung statt. René Crevel und nach ihm Benjamin Péret werden in Trance versetzt und beginnen zu sprechen. Ihre Worte werden sorgfältig notiert. Danach kommt Desnos an die Reihe, dessen Skepsis nicht viel Hoffnung auf Erfolg zuließ, der sich jedoch plötzlich als besonders geeignetes Medium erwies. Kaum ist er im Trancezustand, als auch schon ein Wortautomatismus einsetzt. Auf diese Weise erfährt das Denken seine authentischste und vollständigste Befreiung. Die Medien der Surrealistengruppen haben Texte hinterlassen. Sie wurden mit der größten Aufmerksamkeit studiert. Es scheint heute erwiesen, daß der Traumzustand für einige gar nicht so unbewußt war. Festzuhalten bleibt jedoch die halluzinatorische poetische Ausdrucksfähigkeit Desnos’, der auf Wunsch improvisierte. Seine außergewöhnliche Empfänglichkeit dafür wurde von allen anerkannt. André Breton hat selbst in seiner Entrée des Médiums ausführlich darüber Bericht erstattet. Insbesondere in seinem Zweiten Manifest wird er schreiben:

Im Gegensatz zu unseren ersten Weggefährten, die wir nie zurückzuhalten versucht haben, hat Desnos eine notwendige und unvergeßliche Rolle im Surrealismus gespielt…

Die Epoche des Spiritismus ist gleichzeitig die, in der der Dichter mit der Sprache laboriert. In der Littérature erscheinen im Dezember unter dem bekannten Titel „Rrose Sélavy“ seine berühmten Sprachübungen. Unverhofft sind wir von der traditionellen Lyrik, von dem Satzbau und vor allem von dem Verbalismus sehr weit entfernt, mit denen Desnos nicht nur die Nervalsche Romantik, sondern auch den Wahn Rimbauds fortsetzt.
Sowohl der Automatismus wie die Hypnose liefern den Surrealisten die vom Unterbewußten inspirierten Mittel. Alles in allem handelt es sich auf der rein dichterischen Ebene um ein Wahrheitsspiel. Das Wunderbare ist dabei zuweilen mit aggressiven Forderungen verbunden.
Aggression! Das ist ein Wort, das bei den Surrealisten eine wichtige Rolle spielen wird. Sie haben nie aufgehört, das durch ihre besonders gewalttätige Haltung unter Beweis zu stellen. Der Automatismus ist ein unerwartetes Werkzeug für die Unbändigkeit, durch die sich die kühnsten Gedanken aus dem Gefängnis des Geistes befreien. Die aus dem goldenen Zeitalter des Surrealismus stammenden Texte von Soupault, Breton, Aragon und Desnos bezeugen, daß ihr eindeutigstes Verlangen darin bestand, sich von sich selbst zu lösen.
Erstaunlich ist das Vorhandensein eines Stils, der in ihren Experimenten nie fehlt. Insbesondere Desnos weiß seine Träume bewunderungswürdig auszuschmücken. Sein Sinn für das Großartige und Wunderbare beschäftigt ihn genauso intensiv wie der Verbalismus und das Bild. Und dieser Eifer erweckt apokalyptische Heerzüge und prophetische Vorstellungen, Aufrufe zur Revolte und gekränkte Liebe zu neuem Leben. O, wie berührt die morgendliche Angst unser Herz und unsere Seele, nachdem wir an den übernatürlichen Gesichtern des Dichters teilhatten! Dank seiner Vermittlung können wir die Nacht bejahen, alle Nächte.
Das sind die Grundlagen, die für eine Beurteilung der erstaunlichen Macht Desnos’ angemessen sind. Wir stehen hier einem Wesen gegenüber, das nicht aufhören kann und nicht aufhören wird, Dichter zu sein. Von 1919 an ist es Robert Desnos im Zeichen des Mythos und des Ungestüms. Später wird er es im Zeichen des Umsturzes sein. In höherem Grade als andere befolgt er den Aufruf Bretons:

Gebt alles auf!… Geht auf die Straßen!

Die Straßen Robert Desnos’ werden endlos sein. Angesichts der metaphysischen Anstrengung, die ihn mit allem (einschließlich des künstlichen Paradieses) in Berührung bringen wird und ihn alles akzeptieren läßt, wird er sich ein moralisches Empfinden zu eigen machen, das auf andere Weise überwältigend und bewegend ist als das des Bürgertums.
Unter dem Einfluß des Überwirklichen beginnt Desnos mit seinen Sprachexperimenten, woraus Gesottene Sprache hervorgehen sollte, was Breton ,unverbrauchte Worte‘ nannte. Die Lyrik macht einer systematischen Unlogik Platz. Was sucht nun der Alchimist? Ein neues Wort. Und hierin erweist er sich als surrealistischer als die anderen, die nicht versucht haben, die Sprache ihrer Poesie dienstbar zu machen. Was die Unverständlichkeit betrifft, deren man die Wortsucher hier und da beschuldigt hat, so müßte sie mit kritischen Elementen angereichert werden. Andernfalls ist keine Kritik möglich. Diejenigen, die seit Jahrhunderten die Gewohnheit haben, grundsätzlich alle dichterischen Experimente zu verunglimpfen, kommen auch hier auf ihre Kosten.
Von 1922 bis 1923 widmet sich Desnos einzig und allein Sprachexperimenten und der Suche nach neuen poetischen Möglichkeiten. Freilich ist er sich bewußt, daß er in eine Sackgasse gerät, aber ist sie nicht unumgänglich? Und weil er die Gedichte „L’Aumonyme“ und die Sprachübungen „Rrose Sélavy“ geschrieben hat, kann er in Zukunft ruhigeren Gewissens sein.
Es ist nicht so leicht, derartige Versuche einzuordnen. Lautréamont sagte:

Es gibt eine Philosophie der Wissenschaften. Für die Dichtung gibt es keine.

Diese Feststellung ist immer noch zutreffend, bemerkt Roland de Renéville in der Expérience poétique (Dichterische Erfahrung). Und trotzdem diese Vielzahl von Interpreten Mallarmés oder Paul Valérys! Das Komische an der Geschichte ist, daß sich die Unzugänglichkeit nicht vom Surrealismus herleitet, sondern im Gegenteil von jenen äußerst edlen und langweiligen Geistern, die man heutzutage vergöttert.
Niemals hat ein Gedicht Valérys menschliche Herzen höher schlagen lassen, während Eluard, René Char und Desnos Tausende von Gemütern bewegt haben, derart dynamitgeladen ist ihr Werk.
Stellen Sie die Rechnung auf, wenn Sie das geringste Bedürfnis dazu haben! Die dichterischen Erfahrungen ziehen den Schlußstrich darunter.

III
Das Jahr 1924 kennzeichnet eine Epoche der dichterischen und prophetischen Prosa.
Trauer um Trauer bedeutet die Hinwendung zu den ewigen Ruinen, die Reise in die reinste Welt des Phantastischen.
Desnos reist… Wenn er nicht gerade Nicolas Flamel ist. Ich habe weiter oben gesagt, was ich von dieser Möglichkeit halte. Breton hat mit Recht geschrieben, daß Nicolas Flamel in der Nacht des Goldes Surrealist war. Die Nacht des Goldes hat sich über das Land gesenkt, das nun Desnos besucht und dessen Besonderheiten er alle aufzeichnet.
Diese Ruinen haben auf einmal eine Philosophie. Sie wird uns in dem Satz mitgeteilt:

Nie opferte er vor dem vergänglichen Schein der Kerzen.

Dieser Satz steht, wie der Autor sagt, auf der 32. Seite des Gesamtwerkes von Bossuet. Was macht Bossuet in diesem in eine wunderliche Erzählung gekleideten Traum? Ist es Zufall, daß Desnos hier die strengen Gesichtszüge des Predigers auftauchen läßt? Nun, befinden wir uns im Bereich des Irrealen oder nicht? Wenn wir uns darin befinden, wollen wir auch darin bleiben. Denn das steht im Belieben des Träumenden. Und Desnos bezieht Bossuet in das Bild ein, weil sich das Märchenhafte des einen über das Dogma des anderen lustig macht.
Im übrigen stellt Desnos einige Seiten weiter die Dinge klar:

Bossuet, Bossuet, du wärst kein schlechter Kerl, wenn du nicht deine weittragende und tiefe Stimme im Dienste einer verläßlichen Macht und sinnloser Prinzipien erhoben hättest, statt eine gewagte Moral zu predigen, die sich mehr mit Geheimnissen befaßt, die dem einzelnen verschlossen sind, als mit willkürlichen Rätseln einer senilen Metaphysik und einer alten Religion.

Desnos hat also die Verwünschungen Lautréamonts nicht vergessen.
„Zur Flora und Fauna des Surrealismus kann man sich nicht bekennen“, schrieb André Breton. Diese Erklärung ist doppeldeutig. Sind die Surrealisten selbst diese Flora und Fauna? Oder soll man an die nonkonformistischen Helden denken, deren Taten zu verkünden, sich die Gruppe gefällt? Letzteres ist wahrscheinlicher. Genaugenommen haben die eigentlichen Surrealisten nie allzu übertriebenen Anforderungen in der realen Welt gefrönt. Bis an sein Lebensende hat André Breton auf einen Rimbaud gewartet. Es ist offensichtlich, daß es keinen mehr geben wird. Der einzig mögliche war Desnos. Darüber hat man sich noch nicht genügend Rechenschaft abgelegt. Unversehens hat er sich auf den Weg gemacht:

Seid gegrüßt…

Sprechen wir nicht mehr davon. Doch er vergißt und leugnet nicht… Als ihn der tschechische Student Josef Stuna im April 1945 fragte, welches seine Freunde seien, antwortete er:

Meine besten Freunde sind Paul Eluard und André Breton.

Man verzeihe mir diese Abschweifung. Der Satz Bretons war nötig, um die ethische Grundhaltung in Trauer um Trauer darzulegen. Ich neige persönlich zu der zweiten Erklärung. Für mein Empfinden waren die Surrealisten nie draufgängerischer als viele Abenteurer von Belleville oder vom Montmartre. Sie haben die Saufgelage nicht erfunden und nicht die Phantastereien; und auch nicht den Genuß von Rauschgift. Nein, in Wirklichkeit sind die einzige Fauna und die einzige Flora, über die man sich aufhalten kann, die Ungeheuer des Surrealistisch-Ungewöhnlichen. Sie sind zweifellos häßlicher als die ihrer Vorfahren – also die von Hieronymus Bosch, Lucas Cranach usw. Aber man muß zugeben: nichts ist lächerlicher als ein Kranker, der nicht an seine Krankheit glaubt.
Jedenfalls glaubt der Wanderer aus Trauer um Trauer an seine Halluzinationen und macht sie auch glaubhaft. Sonst würde er sie nicht einem lebendigen Menschen in den Mund legen.
Es handelt sich hier nicht einfach um einen Glücksritter; dieser Seher ist gleichzeitig ein beruflich engagierter Aufwiegler:

Hört die Trommeln und die Schreie, das dumpfe Rollen eines schweren Wagens kündigt die nahe Revolution an… Menschen werden guillotiniert, Fahnen fliegen davon wie Schwäne…

Hier ist alles zweites Gesicht. Der Autor verbirgt nur mit Mühe den übersteigerten Gefallen, den er daran findet. Natürlich ist das eine Versuchung für den Dichter. Genausogut wie es dazu reizt, den Leser zum Nachdenken zu zwingen. Darüber hinaus vollzieht sich eine Loslösung, deren Ziel es ist, von neuem an das Unterbewußtsein – an das höllische Unterbewußtsein – eines Herren anzuknüpfen, der es versäumt hat, in diesem Jahrhundert ein Seher zu werden, der jedoch auf jeden Fall eine erhabene Ausnahme bildet.
Die dichterische Welt Robert Desnos’ ist unberechenbar.
Sein Tagesablauf bringt immer wieder eine Folge von völlig unerwarteten Gestalten und Geschehnissen hervor. All das hängt von einer heißen Liebe, einer geheimnisvollen Begegnung, von Einsamkeit oder einem Anfall von Stolz ab. Es hat alles seinen Sinn. Selbst die Nacht darf nicht im Dämmer versinken, denn in ihr leben die Feuertänze, das langgezogene Schluchzen der Geigen Verlaines (warum nicht?) und die Refrains der Zigeunerweisen auf, die bald von den Quadrillen der Antillen und argentinischen Tangos verdrängt werden. O, es ist verlockend, aber auch ermattend, jeder Nacht ihr Quantum Poesie abzuringen!
Da taucht der Begriff von der geheimnisvollen Liebe auf, da erscheinen die Meeresbewegungen, da erschließen sich die letzten Phantome. Man wartet nur noch auf die Revolution. Sie sollte nicht auf sich warten lassen. Und da sie mit Sicherheit Guillotinen und Gesang braucht, kann ihr Desnos von allem ein gut Teil bieten.
Obendrein steuert er sogar einen jener entwaffnenden Sätze bei, deren Geheimnis er kennt, einen Satz, dessen Idee nie an Kraft verliert:

Wie Siebenmeilenstiefel ist der Satz „Ich sehe mich“.

Es ist die Epoche, in der „A la Mystérieuse“ (An die Geheimnisvolle) und „Ténèbres“ (Finsternis) entstehen, die man später in Mit Mann und Maus wiederfindet.
Da beginnen „die großen Tage des Dichters“:

Die Jünger des Lichts haben nie mehr ersonnen als etwas hellere Finsternis.

Es ist auch die Zeit, in der Desnos seinen Freund Théodore Fraenkel fragt:

Was soll ich Ihnen erzählen?

Wie gewohnt, wird er von sich aus ein Gedicht rezitieren.
Abends, wenn alles unmenschlich und stumpfsinnig ist, wenn die Zeitungen das üble Testament des Tages auf unseren Tisch legen, wenn der Überdruß überall davongejagt worden ist und bei Euch Zuflucht gesucht hat, wenn Ihr nicht mehr die Kraft aufbringt, an auch nur eine der Farcen zu glauben, die man Dogmen nennt, dann werdet Ihr zu dem Buch greifen, das den Titel trägt:

Wie Siebenmeilenstiefel…

Und beim Morgengrauen könnt Ihr mit Desnos sagen:

Ich sehe mich.

Ich möchte wünschen, daß es zutrifft. Auf diese Weise werdet Ihr den Schwindel von der Unverständlichkeit völlig vergessen, und Ihr werdet mir sagen, ob es einen wahrhafteren Dichter gibt als den, der im Angesicht wiedergefundener Empfindsamkeit begeistert schreibt:

Bei der gestrigen Post wirst du telegraphieren
Daß wir mit den Schwalben gestorben sind…

Er mußte an jenem Abend das Opfer eines ernsthaften Katzenjammers gewesen sein, als er dieses Gedicht schrieb. Andere hätten es verklingen lassen oder hätten verhindert, daß es sich bis in die Fingerspitzen vordrängt, die dem Auftrag, zu schreiben, Folge leisten. Er schrieb es, während um ihn herum die Nacht in Weißglut stand.
Erst auf diese Art wird die Dichtung aktiv.
In der ganzen Welt gibt es Gedichte, die man nie ungeschrieben machen kann. Ich möchte hier „Le Voyage“ von Baudelaire, „El Desdichado“ von Gérard de Nerval, „Je te salue vieil Océan!“ von Lautréamont, „L’Emigrant de Landor Road“ und „La Chanson du Mal-Aimé“ von Apollinaire nennen.
Einige andere noch. Aber nur wenige. Jedes von ihnen klingt in uns nach, sinkt in uns hinab, durchdringt uns, überströmt uns und läßt uns benommen zurück. Und wenn der Zauber aufhört, glauben wir, geträumt zu haben. Einern Gedicht von Desnos wurde dieses Geschick zuteil. Es ist nicht fröhlich. Es ist nicht heiter. Es heißt „Faire-part“ (Familienanzeige). Wenn Sie ihm begegnen sollten, weichen Sie ihm nicht aus, ebensowenig wie dem „alten Hauptmann, dem Tod“ oder dem Kunden, der sich bei Apollinaire für die Mannequins interessiert:

Mit dem rechten Fuß trat er ein, den Hut in der Hand,
Bei einem sehr schicken Schneider, der war Hoflieferant.

Und wenn Sie die Familienanzeige dann auswendig können, werden Sie schreiben:

Mein lieber Desnos, mein lieber Desnos
Ich lade Sie ein
In einigen Tagen
Sie erhalten noch Nachricht
Tragen Sie Ihren Frack aus der anderen Welt
Und jedermann wird zufrieden sein.

Familienanzeige… Mitteilen! Man teilt mit, was man kann.
Ich wiederhole es noch einmal. Die Dichtung wird aktiv und immer aktiver. An jeder Straßenecke entfaltet sie sich. Sie überschwemmt die Terrassen vom Montparnasse. Sie hat ihren Sitz in den Büros der surrealistischen Revolution. Sie zieht die Königswege entlang, wo für uns verbotene Geister schlummern. Leider können wir nicht zu ihnen gelangen. Dagegen können wir an der Straßenecke stehenbleiben, uns auf den Rand der Rotunde setzen oder in der Bar am Dôme Platz nehmen, wo unsere Freunde auf uns warten. Da ist Paul Eluard, ein verführerischer Teufel; Roger Vitrac, der noch nicht für den Film arbeitet; da ist Péret, der mit Prévert auf die Pfaffen Jagd macht; da ist Aragon, der die republikanische Armee noch nicht liebt; da ist Philippe Soupault; da ist endlich Breton, der Großartige, „erhaben wie ein Papst und rein wie Elias“, wie es später heißt. Da sind all die anderen…
Und da ist auch Desnos, der allein für Sie kämpft.
Die erste Nummer der Révolution Surréaliste kündigt schon auf dem Umschlag an:

Wir müssen zu einer neuen Erklärung der Menschenrechte kommen.

Man denkt an den republikanischen Baudelaire, an den aufrührerischen Isidore Ducasse, an Rimbaud während des Aufstandes von 1871. Die Surrealisten sind dies alles zu gleicher Zeit. Viele von ihnen werden im Laufe der Jahre Parteimitglieder. 1925 wird über den Beitritt oder Nichtbeitritt zur kommunistischen Partei diskutiert. Doch 1924 gilt es vor allem, die Revolutionsidee zu verankern. Diese Idee stellt einige Ansprüche. Zunächst muß der Nonkonformismus seinen unumschränkten Bannfluch schleudern. Man wird von Streiks sprechen. Man wird Untersuchungen über den Selbstmord anstellen. Man wird an den Papst schreiben, an den Dalai-Lama, an die Chefärzte der Irrenanstalten, an die Rektoren der europäischen Universitäten. Der Ton der Zeitschrift ist äußerst aggressiv. Desnos kann nach Belieben seine natürliche Revolte entfesseln. Sie findet ihren Ausdruck in Gedichten, Texten, Zeichnungen und Berichten aller Art. Er schildert eine bevorstehende Revolution, er veröffentlicht ein Pamphlet gegen Jerusalem, er spricht vom Tod, vom Hunger, er erzählt eine Episode aus seinem Leben und weist den Leser gleich darauf hin, daß er Traum und Wirklichkeit, Wunsch und Besitz, Zukunft und Vergangenheit miteinander verquickt.
Zu dieser Zeit arbeitet er als Rechnungsführer in der medizinischen Fachbuchabteilung der Verlagsbuchhandlung Baillère. Anschließend wird er dort Redaktionssekretär. Zwischen zwei Gedichten addiert er Zahlen. Zwischen zwei Verwünschungen redigiert er die Ankündigungen der Ärzte und Medikamente gegen die Geißeln der Welt. Es macht ihm nicht viel Spaß, doch Abend für Abend beginnt nach der Arbeit in der Buchhandlung das erstaunliche Leben von neuem. Inwiefern bildet Desnos eine Ausnahme? Seine Gedanken ruhen nicht. Seine ganze Person ist mit Elektrizität geladen.
Seine Freunde müßten sich der Erstaufführung von Locus Solus im Jahre 1925 erinnern. Der Saal war für das Werk von Raymond Roussel nicht geeignet. Das war klar. Dennoch applaudierte Desnos wie toll. Sein Nachbar wendete sich ihm zu:
– Ah, ich verstehe, Sie gehören zu den Klatschern.
– Vollkommen richtig, antwortete der Dichter, und Sie, Sie sind die Fliege…
Und er malte den kurzen Dialog weiter aus.
Geschichten von Desnos könnte ich unbegrenzt erzählen. Sein Leben quillt über von Taten und Gesten. Alles was umstürzlerisch klingt, stammt von mir, könnte er erklären.
Er brachte vor allem seine Verachtung zum Ausdruck. Um 1925 ist die Straße der Verachtung unendlich. Um die Surrealisten herum herrschten erbärmliche Niedrigkeit, Ungeheuer ohne jede Größe, Weihwassermoralisten. Diesem entwürdigenden Chaos antworteten Breton und seine Freunde mit einer auf andere Art geadelten Ethik. Es ist bekannt, daß die Surrealisten einen Sinn für Reinheit hatten. Wenn man heutzutage Anteil an diesen Löwen nimmt, versteht es sich von selbst, daß diese Reinheit nicht jedermanns Sache war. Für einige grenzte sie an Schwindel. Und diese gaben dann den Spießbürgern recht, die da sagten:

Laßt sie nur… Sie sind erst zwanzig. Später sind sie genauso wie wir.

Einige Surrealisten sind tatsächlich wie sie geworden. Sie haben sich sogar sehr beeilt. Dafür hat es wahrlich nicht gelohnt, die Revolution in alle Himmelsrichtungen zu posaunen, die Freiheit an allen Straßenecken zu erklären und mit dem Donnern Gottes zu konkurrieren.
Doch wir wollen nicht zu weit gehen. Es handelt sich hier nur um einige Heuchler, die Desnos von jeher zum Erbrechen fand. Er selbst vertrat eine Moral, ohne die er kein richtiger Mensch sein konnte. Wenden Sie mir nicht ein, daß Desnos gerne trank, daß er zu Rauschgiften griff. Was hat das mit der Freiheit und Scheinheiligkeit der Spießbürger zu tun? Zwischen der Wahrheit der Welt und der konformistischen Wahrheit hatte er seit langem seine Wahl getroffen. Brüderlichkeit und Gerechtigkeit besaßen für ihn den Charakter von Dogmen. Kennen Sie gültigere?
Auf der Suche nach den Urgründen und dem, was hinter dem Anschein dieser schillernden Welt an wirklich Ewigem steckt, glaubt Desnos an eine einzige Wirklichkeit.
– Einzig, umfassend, allen offen… sagt er später anläßlich seines Bruches mit Breton.
Dieses Weltkind, dieser Straßenjunge, der überall Barrikaden sieht, diese in jeder Gesellschaft unmögliche Persönlichkeit, die sich grob gibt, weil man den Unwürdigen dieser Welt gegenüber „Scheiße“ sagen muß, dieser Dichter eines goldenen Zeitalters ist nicht das, was laue Ästheten meinen. Er leidet unter der Dummheit der Zeiten. Deshalb erklärt er von sich aus Leidenschaften für sozial nützlich die sich einer bestehenden Ordnung widersetzen, deren Ziel darin besteht, die freie Entfaltung des Individuums zu unterdrücken.
Der Automatismus stellt nicht die einzige Seite der Dichtung dar. Die Freiheit hat einen unbestrittenen Anteil an ihr. Ohne sie gibt es keinen Automatismus.
– Der Drang zur Freiheit ist eine Leidenschaft der Seele, sagt er.
Er spricht wie ein Anhänger Ropespierres. Doch Robespierre hätte wahrscheinlich den Einwand gemacht: – Jede Leidenschaft ist gut und kann zum Schlechten umschlagen.
Ohne Zweifel hatte Desnos nur gute Leidenschaften. Er wird sich dazu bekennen, wenn er um 1942, nachdem er Kartesianer geworden ist, mit einer gewissen Ironie behauptet: In sich sind alle Leidenschaften gut.
Als Werbeagent für ein Wirtschaftsjahrbuch und anschließend als Kassierer beim France Soir findet er Zugang zum Journalismus. Zufällig erfährt man, daß der junge Dichter zu schreiben versteht. Man gibt ihm eine Chance (wenn man in diesem Beruf von einer Chance reden kann), man bietet ihm die Betreuung der Leserbriefe an.
Das bringt ihm sarkastische Bemerkungen seiner Freunde ein. Doch Desnos läßt sich schnell vom Journalismus erobern. Er entdeckt darin eine Geheimtür, durch die er seine Muse einschmuggeln kann.
Als man Desnos das Angebot macht, in dieser Fabrik der Unwahrheit und der Fälschung, die die französische Presse seit ihrer Gründung darstellt, Reporter zu werden, ist er ein wenig überrascht. Der ihm da eine Möglichkeit eröffnet, ist der Chefredakteur der Zeitung: Aimé Méric, der Bruder des angeblichen Pazifisten und Anarchisten Victor Méric. Aimé Méric läßt ihn über die Unsauberkeit des Berufes keineswegs im unklaren.
– Ich werde ihn rein waschen, antwortet Desnos kalt.
In der Firma begegnete er den Fauvisten Marcel Achard und Henri Jeanson.
Was schreibst du? fragte letzterer.
– Meine Träume, antwortete Desnos.
– Was? Du bringst Reportagen über deine Träume? Ich werde dich schon das Träumen lehren
Jeanson hielt Wort. Er schleppte seinen neuen Freund mit hinter die Kulissen des Theaters und zu den Stätten, die gerade Mode waren und wo die Prostitution an die Verrücktheit des Volkes streift.
– Das verblüfft dich, was? fragte Jeanson.
– Nein.
Letztlich war es Desnos, der Jeanson verblüffte.
Vom Journalismus hatte der Neuling rasch das Wesentliche erfaßt. Drei Jahre nach seinem Debut bei der Presse steht sein Urteil fest. Und was für ein Urteil!

Ich kann versichern, daß der Journalismus infolge seines ungewöhnlichen und schwankenden Charakters ein Kriterium für den Wahnsinn ist, dem die Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer fiel.

Er geht sogar noch weiter:

Wird eine Zeitung überhaupt mit Tinte geschrieben? Vielleicht; doch vor allem wird sie mit Petroleum, Margarine, Glanzlack, Kohle, Wolle, Gummi oder was Sie wollen geschrieben… wenn nicht gar mit Blut.

Diese nur zu oft gerechtfertigte Menschenverachtung ist einer Studie entnommen, die 1929 unter dem Titel „Les mercenaires de l’opinion“ (Bezahlte Meinung) in der Zeitschrift Bifur erschien – das heißt, zu einer Zeit, als der Journalismus noch nicht seinen eigenen Rekord der Schändlichkeit gebrochen hatte.
Entgegen Bretons Meinung kann sich ein Dichter in jeder beliebigen Kloake bewegen. Seine Reinheit ist nie in Frage gestellt.
– Warum heiraten Sie nicht eine reiche Frau? Das ist gar nicht schwer, rät man Desnos.
Er verachtet seine Arbeit gar nicht so sehr. Wenigstens ist die Viecherei des Jobs klarer und unabdingbarer. Sie springt ins Auge. Man weiß bei ihr, woran man ist. Trotzdem kann man neben so viel Schmutz noch träumen, sich Fantômas nähern, ein bißchen verrückt sein und ohne Grund den Helden spielen.
In diesem weitläufigen Zirkus, den das zeitgenössische Leben darstellt, ist es für jeden einzelnen wichtig, seinen Löwen zu wählen und ihn zu fressen. Desnos hat in seinem Leben viele Löwen gefressen.

IV
1927 sieht sich Desnos zwei Versuchungen ausgesetzt: aus sich herauszugehen und sich so weit wie möglich in einer anderen Richtung zu entfernen oder sich in höherem Grade auf sich selbst zu besinnen. Erstere hat ihn zum Journalismus geführt (als Journalist ist Desnos offenbar ein Wesen, das sich um jeden Preis „loswerden“ möchte); die zweite wird ihm eine Lebensdoktrin auferlegen. Es geht nicht mehr darum, sich auf seine geistigen Möglichkeiten zu verlassen, sondern zum Ursprung zurückzufinden und dem Weg des Instinkts zu folgen. Eine Rückkehr zum Instinkt ist nicht so einfach. Man muß sich für ihn entscheiden, und wenn die Entscheidung getroffen ist, sich vor ihm in acht nehmen. Andernfalls ist es ein fehlgeleitetes Unterfangen.
Während er das Manuskript „Die Freiheit oder die Liebe“ vor der Absendung an den Verleger Kra noch einmal durchliest, träumt Desnos für einen Augenblick und fragt sich, ob er sich nicht über sein eigenes Problem getäuscht hat: er hat versucht, Liebe und Freiheit in Einklang zu bringen. Doch nachher ist das auch für ihn eine Unbekannte.
„Die Freiheit oder die Liebe“ muß nach Ausnahmeregeln und einer besonderen Kunst beurteilt werden. Ein für das Denken Desnos’ unempfindlicher Kritiker vertrat eine gegenteilige Ansicht. Man könnte darüber lächeln, wenn auch nur ein Funken Geist bei diesem Aristarch wahrzunehmen wäre.
Wenn man den Regenbogen grundsätzlich nicht anerkennen will, der Lautréamont hervorbrachte und den Rimbaud der Saison en enfer trug, ist es vollkommen zwecklos, sich mit der Lektüre von Trauer um Trauer und „Die Freiheit oder die Liebe“ aufzuhalten.
In dem einen oder anderen seiner Werke bemerkt man – wie in der Gesamtheit seines dichterischen Schaffens – ein sexuelles SOS. Es ist ebenso eindeutig wie der Aufruf zur Revolution.

Desnos sexuell? werden Sie denken. Ich bitte Sie!

Entschuldigen Sie vielmals, aber er ist nichts anderes. Er ist der Erotiker um der Erotik willen. Er ist der Liebhaber der Liebe.
– Immer im Namen dieser nie in Zweifel gestellten Reinheit? wird der ungläubige Leser fragen.
– Immer, und mehr als je. Wenigstens soweit Sie Erotik nicht mit Pornographie verwechseln. In diesem Fall verhält es sich anders, und ich könnte Ihnen nicht nahe genug legen, zu den Spezialbuchhandlungen in der rue de la Lune zurückzukehren. (Welch ein Zusammentreffen!)
Und nun wieder zum Ernst der Sache.
Die Erotik ist der Stein des Anstoßes für Desnos. Sie gewann zu der gleichen Zeit Einfluß auf ihn wie der Sinn für das Wunderbare, wie die Phantome und Halluzinationen seiner Kindheit. Aus ihnen schöpft er die Macht des Geheimnisvoll-Sexuellen. Lesen wir es einmal in den „Confessions d’un enfant du siècle“ (Révolution Surréaliste, Nr. 6) nach:

Ich spielte allein, meine sechs Jahre lebten im Traum. Schiffskatastrophen nährten meine Phantasie, und ich fuhr auf schönen Dampfern zauberhaften Ländern entgegen. Die Stäbe des Parkettfußbodens regten dazu an, sie als hochgehende Wogen anzusehen, und ich machte nach Belieben die Kommode zum Festland und die Stühle zu einsamen Inseln. Abenteuerliche Überfahrten! Aus eigener Kraft schwamm ich da an den Strand des Teppichs. Auf diese Art erfuhr ich eines Tages meine erste sexuelle Regung… Ich habe mich nie einer Frau hingeben können, ohne mir die unschuldigen Schauspiele meiner Jugend zu vergegenwärtigen… Gustave Aymard vermittelte mir das erste Bild von der Frau. Ich verfolgte damals in der Gesellschaft einiger spanischer Vamps das wilde Pferd… Das Heldentum verschmolz seither mit der Liebe… Eines Tages schlug die Klassenlehrerin einen Mitschüler, der besonders unausstehlich gewesen war. Der Anblick dieser beschämenden Blöße, die Demütigung, die jemand meines Geschlechts hinnehmen mußte, die Gefühlsrohheit dieser jungen Frau erregten mich derart, daß ich sogleich die vertrauten Empfindungen meiner erfundenen Schiffsbrüche verspürte.

Jahre sind vergangen. Die Liebe hat sich für ihn nicht geändert. „Die Freiheit oder die Liebe“ gehört zu den drei oder vier Höhepunkten in seinem dichterischen Schaffen. Die anderen entstammen allerdings dem gleichen Geist. In einem Universum, das sich aus den erstaunlichsten Bildern, Stürmen aller Art, verlorenen oder wiedergefundenen Paradiesen zusammensetzt, kann keine Metaphysik stärker sein als die erste (oder wenn man will: frühe) Erotik, mit der der Dichter seinen Helden, den Corsaire Sanglot, ausgestattet hat. Denken Sie nicht an einen Roman. In der Epoche der „Freiheit oder die Liebe“ sind die Surrealisten insoweit gegen diese literarische Gattung, als sie sich nicht formell von der Tradition freimacht. Dieses Buch ist typisch für den Angstschrei eines Dichters, der nicht weiß, wem er seinen Stolz anvertrauen soll, und ihn deshalb dem nächsten besten anvertraut: einem lyrischen Phantom. Ähnelt das nicht den Erlebnissen Lautréamonts mit seinem Maldoror? Die im Corsaire Sanglot symbolisierte Freiheit kennzeichnet die totale Emanzipierung. Man fühlt, daß sich Desnos mit aller Kraft zurückhält, um nicht den Schrei Rimbauds auszustoßen:

Das ist die Zeit der Mörder.

Dieser Freiheit, die sich mehr und mehr mit den Zügen einer magischen Welt schmückt, setzt der Autor nun sein anderes Symbol, die Liebe, an die Seite. Daher die Entfesselung obszöner Märchen und die blutrünstigen Alpträume.
Es wäre interessant, zu erfahren, wer dieser Corsaire Sanglot ist, dem zwei Monate nach seinem Eintritt in unsere Welt ein Richter seine großartigen Luxusträume in Stücke reißt.
„Die Freiheit oder die Liebe“ wurde auf Gerichtsbeschluß einer Strafkammer verstümmelt, die nicht wußte, daß die Rechte der Poesie unantastbar sind.
Aber die Borniertheit der Gesetzgebung wird nie stark genug sein, sich den Epen leibhaftiger Träume entgegenzusetzen.
Kaum hat das Buch den absurden Bannstrahl der französischen Justiz kennengelernt, da greift der Dichter wieder sein tägliches Thema der Verzweiflung auf. Er nimmt nun sein lyrisches Hauptwerk in Angriff: „The Night of loveless Nights“ (Die Nacht der lieblosen Nächte).
Parallel mit diesem Aufschluchzen erschließt ihm das Leben eine neue „Quelle“. Seinerseits ein Phantom der Pariser Nächte, macht er weiterhin seine von Bildern der Verzweiflung und des Geheimnisses begleitete Runde.
Zuweilen bemerken seine Freunde Anzeichen einer unbegreiflichen Ermattung an ihm. Dennoch ist er immer gleich lebhaft. Dennoch macht er die Bars vom Montparnasse und die Pariser Redaktionsräume unsicher. Dennoch leuchten seine Augen, wenn immer das Leben an ihm vorbeizieht. Doch die Stimme des Dichters erhält einen immer kühneren philosophischen Ton. Er setzt sich selbst seine Aufgabe als Seher.
Woher kommt nun diese Ermüdungserscheinung? Lediglich der Zweifel hat sich eingestellt. Dies ist der erste Beweis dafür. Er überfällt ihn in einem Augenblick, in dem er nicht damit rechnete, in einem Moment, in dem er sicher irgendeine Liebesenttäuschung vorgezogen hätte.
Tatsächlich war dieser Zweifel seit zwei Jahren in ihm angelegt, ohne daß er sich – bis auf flüchtige Sekunden – dessen bewußt geworden wäre. So schrieb er:

Seit Jahren warte ich auf den Untergang dieses schönen Schiffes, in das ich mich verliebt habe. Ich sehe, wie sich derart viele Unwetter am Himmel zusammenbrauen, daß sich die Katastrophe seit langem über dem allzu ruhigen Meer hätte entladen müssen, und da sie noch abwartet, steht unbedingt zu befürchten, daß sie sagenhaft schrecklich sein wird. Ich sehne diesen Untergang herbei, ich sehne mich nach dem tragischen Ende meiner Geduld.

Während der Dichter diesem absurden Leben eines Journalisten nachgeht, fügt das Böse dem Herzen des Mannes eine breite Wunde zu. Diese Wunde wird bald eine junge Frau verbinden, die bis zum Ende seine Gefährtin und Anregerin sein wird, die ihm dann aus der Ferne die Augen schließt, die die Sirene war, eben Youki.

V
Robert Desnos bewohnte damals ein Atelier in der rue Blomet Nr. 45, am Rande eines unbebauten Geländes. Heute ist dieses unbebaute Gelände noch weitläufiger. Von dem Atelier ist nichts weiter übriggeblieben als ein Häuflein Steine, kaum ausreichend, um die Ruinen von Trauer um Trauer darzustellen.
Es war die Zeit, in der die Surrealisten drei „uneinnehmbare“ Hochburgen in Paris innehatten: die rue Fontaine, wo André Breton wohnte, die rue du Château, die Aragon, Prévert, André Thirion, Sadoul usw. vorbehalten blieb, und die rue Blomet. In den Nachbarateliers dieser Straße lebten André Masson, Joan Miró und der Dramatiker Georges Neveux.
Die Tür Desnos’ hatte keine Sperrklinke, sondern ein Buchstabenschloß. Man kann sich vorstellen, daß er sich manches Mal auf einen Pflasterstein setzen und mit Hilfe der schöpferischen Poesie lange nach dem Wort suchen mußte.
Das Atelier war sehr hell und mit allen erdenkbaren, auf dem Flohmarkt erstandenen Wunderlichkeiten ausstaffiert. Es gab dort vor allen Dingen ein Walzen-Grammophon. Die Freunde von Desnos werden sich sicherlich jener Marseillaise erinnern, die aus unerfindlichen Gründen mit dem berühmten „Halte-là, les Montagnards sont là!“ endete.
In diesen vier Wänden schrieb er wahrscheinlich „Die Nacht der lieblosen Nächte“, eines der großartigsten lyrischen Gedichte, die uns der ,neue Geist‘ seit dem „Chanson du Mal-aimé“ vermittelt hat.
Größere Auszüge aus seinem neuen Gedicht wird Desnos in der belgischen Zeitschrift Variétés veröffentlichen, die dem Surrealismus 1929 eine Sondernummer widmete. Der vollständige Text erscheint bald darauf in der Pariser Zeitschrift Le Courrier Littéraire und broschiert mit Zeichnungen von Georges Malkine als Privatdruck in Antwerpen.
Wie ein neuer Stern in klarer Nacht hervorstrahlt, so beherrscht dieses Gedicht von Desnos die zeitgenössische Dichtung. Man zögert, man kann nicht daran glauben, man zweifelt… Man denkt sogar, es müsse sich um ein neues spiritistisches Wunder handeln. Wir verspüren ein dumpfes Klopfen in unserem Bewußtsein. Wir haben hier keine Stilübung mehr vor uns. Empfänglich für Schmerz und Verzweiflung, entwickelt er eine oft tödliche Brillanz. Beim Anblick dieser kaum glaublichen Liebe, diesem Robert Desnos so vertrauten Wahn, blutet unser Herz. Auch keimt hier langsam ein neuer Mythos auf und hämmert in uns wie eine fiebrige Erregung. Doch was für ein Mythos ist es? Kann es einen Mythos ohne Namen, Gesicht und Gestalt geben? Es ist evident, daß das lange Gedicht von Desnos in Regionen des systematischen Wunders angesiedelt ist. Nun, die zeitgenössische Dichtung ist nicht gerade überreich an diesen Fällen. In Wirklichkeit hat der Dichter einen neuen Weg gefunden, seine Verzweiflung auszudrücken. Die Leitgedanken sind zweifellos legitim, aber sie tragen an dem Gewicht einer ganz bestimmten ewigen Absicht: das wahre Antlitz des Aufruhrs und der Liebe sichtbar zu machen. Schließen Sie nicht daraus, daß Desnos wieder mit den Erfahrungen der „Freiheit oder der Liebe“ beginnt. Ein Stück seines Lebens liegt hinter ihm – und vielleicht hat er auch ein wenig Blut verloren. Übrigens gibt es da ein Band zwischen dem phantastischen Corsaire Sanglot und dem poète maudit, der von seiner Verfluchung und allem möglichen spricht. Und dieses Band ist so mächtig wie dasjenige zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung. O, Schluchzen, ewiges Schluchzen! Heutzutage wird die Verzweiflung von einer strengen Disziplin behandelt und beherrscht. Der Dichter hegt nicht den Wunsch, heimlich eine gutgesottene Sprache einzuführen. Daran ist ihm nicht mehr gelegen. Die weitläufigsten Wörter sind noch die besten. Von ihnen erwartet er jetzt die Befreiung. Vielleicht vertreiben sie auch seine Leiden.
Man wird niemals wissen, in welchem Zustand sich dieser Mann befand, als er eines Morgens die Dichtung beendet hatte, die den allzu bezeichnenden Titel „Die Nacht der lieblosen Nächte“ trägt. Verweilen wir einen Augenblick bei dieser Hoffnungslosigkeit. Nicht weit von ihr wohnt die Angst, und beide gehören zusammen. Aber den Menschen überläuft zuweilen ein Schauer, der nicht seinem unglücklichen Herzen entspringt. Die Einsamkeit ist nicht mehr das einzige Element der Grausamkeit. Man schließt nicht ohne Grund ein Gedicht mit dem Ausruf ab:

O Aufruhr!

Ich für mein Teil lehne es ab, in der „Nacht der lieblosen Nächte“ ein Gedicht zu sehen, das nur eine Deutung zuläßt. Denn das Leben weicht nicht aus Robert Desnos. Es läßt um keinen Schritt von ihm ab. Es gefällt sich darin, hinauszuschreien, daß er über die Niederlage der Menschheit unglücklicher ist als über seine eigene. Und er, er zögert, wie niemals jemand gezögert hat. Wird die Liebe jemals seine Befreiung offenbaren können? Wird die Liebe jemals an der Revolution teilhaben? Sein Herz schwankt zwischen Don Juan und Saint-Just. Wenigstens hat er vor Don Juan keinen grundlosen Respekt. Man wird das in zukünftigen Gedichten gewahr werden.
Vorläufig handelt es sich um einen Schatten, der unentwegt seine Aufmerksamkeit erzwingt. Da Desnos ein Dichter ist, wird er für ihn zum Mythos. Doch nehmt ihm diesen Schatten, entreißt ihn ihm nur einen Augenblick, und sagt mir dann, ob seine Hoffnungslosigkeit einen anderen Wert erhält als den jener abzulehnenden Nacht. Wenn man alles genau abwägen will, ist die Nacht schon allein durch den Willen des nächtlichen Wesens erhaben. Der Rest läuft unter „Verschiedenes“. Wiederum müssen wir Liebe und Freiheit streng voneinander trennen. Was meinen Sie? In Wahrheit ist dieses ungewöhnlich lange Gedicht, das klassische Reime aufweist und dessen Alexandriner von einer gleichsam mathematischen Vollkommenheit sind, noch das Ergebnis eines unglaublichen Automatismus. Und man schloß daraus, daß Desnos das, was er 1922 im Beisein von Freunden machen konnte, auch noch innerhalb seiner vier Wände und ohne Zeugen – außer den Negermasken und barocken Gegenständen vom Flohmarkt – fertigbrachte, wenn er wollte.
Letzten Endes halte ich „Die Nacht der lieblosen Nächte“ für das erstaunlichste Gedicht von Desnos. In seinem Aufbau ist es so vollkommen wie nur möglich.
Halten wir fest, daß dieser Ausnahme-Mensch die nächtliche Last des vom Parnasse beherrschten Paris trägt. Don Juan pokert in allen Wirtshäusern. Das Viertel gleicht einem Bild aus einem Gedicht von Cendrars. Hier befindet sich eine tahitische Bar, dort ein Nachtlokal für verirrte Wikinger; etwas weiter wird eine echte Beguine getanzt. Überall sind die Unbehausten König.
Es ist die Epoche, in der Desnos von Havanna zurückkehrt, wohin der Kongreß der lateinamerikanischen Presse einige französische Journalisten und Schriftsteller eingeladen hatte. Von dieser Eskapade brachte er die ersten kubanischen Schallplatten und vor allem den Rumba mit…
Welch eine Reise! Ein Zeuge versichert uns, daß Desnos außer Rand und Band war. Er stiftete selbst (aus Spaß) einen Rumbaorden, mit dem er seine Reisegefährten auszeichnete. Ein einziger wurde nicht ausgezeichnet: der alte Dichter Fernand Gregh. Dieser teilte seiner Frau mit:
– Wir werden sicher gleich zu Offizieren ernannt.
Da er keine Auszeichnung war, die man ins Knopfloch stecken konnte, erfreute sich der Rumba in Frankreich bald jener bekannten Beliebtheit.
Der berühmte Negerball in der rue Blomet, nicht weit von Desnos’ Wohnung, begann von sich reden zu machen. Natürlich herrschte dort ständiges Gedränge. Für Desnos bedeutete es eine Möglichkeit, neuen Träumen zu leben und seinen Rausch mit ausgefallenen Visionen zu nähren. Denn 1928 tanzten die natürlichen Kinder der Martinique und der Guadeloupe in dem hinteren Saal des Lokals mit der gleichen sexuellen Entfesselung wie in den Savannen der Neuen Welt. Wahrlich ein schönes Schauspiel für einen surrealistischen Dichter, dessen Muse ein Phantom ist!

VI
Das Jahr 1930 stellt für Robert Desnos eine wichtige, wenn nicht entscheidende Wende dar.
Der Surrealismus befindet sich in einer offenen Krise. Das erinnert an Dada.
André Breton ist das Opfer eines Angriffs, der mit genauso übersteigerten Begriffen vorgetragen wird wie vorher die Lobeshymnen. Die Maßlosigkeit ist die hervorstechendste Eigenschaft der Surrealisten.
Mit seiner Manie, regelmäßig Revolutionstribunal zu spielen und gegen diesen oder jenen Wert oder eine Persönlichkeit Anklage zu erheben, verdrießt André Breton schließlich einige seiner Freunde. Man wirft ihm eine Reihe von Schwächen und Kindereien vor, von denen einige wirklich skandalös sind. Sein Geist und seine moralische Integrität sind ernstlich in Frage gestellt.
Die Surrealistengruppe hat zwei Nummern eines besonders aggressiven Flugblattes veröffentlicht: Un Cadavre (Ein Leichnam). Das erste bot Anatole France eine Aureole aus Exkrementen an; das zweite war gegen Maurice Barrès gerichtet. André Breton wurde die Beute des dritten. Man bezeichnete ihn darin als „kastrierten Löwen“, als „fade Figur der westlichen Welt“, als Fasan, Schupo, Pfaffen, sauberen Kunden, Hühnerhofästheten usw. …
Vorläufig verstanden die Nicht-Surrealisten überhaupt nichts mehr. Heute kann man übrigens mit Recht annehmen, daß sich diese Unwissenheit auch auf den größten Teil der Mitglieder erstreckte, derart oft fanden nachher Wiederversöhnungen statt. Die wichtigsten Beiträger des dritten Cadavre waren Georges Ribemont-Dessaignes, Robert Desnos, Georges Bataille, Jacques Prévert, Limbour, Roger Vitrac, Antonin Artaud, P. Soupault, André Masson, Joseph Delteil.
In der zwölften und letzten Nummer der Révolution Littéraire antwortete André Breton den Verfassern. So entsteht das zweite surrealistische Manifest. Einige Anhänger führen die Polemik auf eigene Faust fort. Namentlich Desnos publizierte im Courrier Littéraire einen Text mit dem Titel „Das dritte surrealistische Manifest“, das ganz der Person und der Ethik dessen gewidmet ist, dem man seither den Beinamen ,der Papst des Surrealismus‘ gegeben hat. Seinem polemischen Schwung ließ hier der Dichter freien Lauf, und man kann sich vorstellen, daß dieser rein aggressive Beitrag nach dem Beispiel einiger Reden von Saint-Just in eine satirische Zeitschrift aufgenommen werden könnte.
Natürlich enthüllte dieser Streit die Kinderkrankheiten der Gruppe. Letzten Endes handelte es sich – wie schon Desnos selbst unterstrich – nur um einen Streit unter Literaten.
Losgelöst von einer Bewegung, der er viel gegeben hat, geht Desnos von nun an eigene Wege.
Er hat seitdem nicht aufgehört, ein Partisan zu sein.
Diejenigen, die im Laufe der letzten Jahre versucht haben, die Geschichte des Surrealismus nachzuzeichnen, haben sich über seine Wahrheit und die Gesamtheit seiner Probleme schwer getäuscht. Es ist zum Beispiel verwunderlich, daß Maurice Nadeau nicht glaubte, Desnos seine wirkliche Bedeutung zubilligen zu müssen.
Auf Grund seiner Unbändigkeit, seiner schöpferischen Kraft, seiner Begeisterung, seiner dichterischen Stärke und seiner Authentizität ist Robert Desnos unstreitig derjenige, der am meisten Anregungen bot. Mehr als die Initiatoren (ich wäge meine Worte ab) verlieh er der Schlacht, die von denen geführt wurde, die man noch heute Surrealisten nennt, einen heroischen Charakter.
Es wird höchste Zeit, festzustellen, daß das alles überholt, veraltet und dumm ist und bereits den Geruch der Verwesung annimmt. Eine einzige Lehre ist von Dauer: die von der einen und unteilbaren Revolution. Und wenn ich mit einiger Genugtuung von Desnos sprechen kann, so deshalb, weil diese Lehre sein Testament darstellt. Der Rest ist noch nicht einmal Literaturgeschichte. Höchstens Anekdote.
1931 schrieb Ribemont-Dessaignes:

Es gibt Unternehmungen des menschlichen Geistes, die im Augenblick ihres Entstehens einen derartigen Lärm machen, daß man nicht weiß, ob es sich um ein Donnern Gottes oder um Knallfrösche handelt, die von Straßenjungen losgelassen werden. Dann vergeht die Zeit, jeder zuckt die Achseln und geht seines Weges, und die betreffenden Unternehmungen interessieren nicht mehr. Das authentische Donnern Gottes ist literarisch nur ein Knallfrosch.

Kann man andere Schlußfolgerungen ziehen?
Die Burgraves markieren das Ende der Romantik, doch der im Vorwort zum Cromwell umrissene Geist ist deswegen noch nicht vergessen.
Die surrealistische Orthodoxie läßt einige ihrer aufrichtigsten Jünger abwandern, aber die Revolution ist darum nicht in größerer Gefahr.
Auf sie steuert Desnos zu. Er hängt an ihrem Rockzipfel. Sie wird seine teuerste Mätresse, und es sind nicht die eiskalten Dialektiker, die ihn veranlassen, sie aufzugeben.
In der gleichen Epoche veröffentlicht Gallimard den Sammelband Mit Mann und Maus, der alle seit 1919 geschriebenen Gedichte enthält. Eine wahrhafte Bilanz.
Eine Bilanz, wie sie niemand wieder vorlegen wird.
Desnos zitierte gerne einen Satz von Robespierre:

Wer die Unsterblichkeit der Seele leugnet, richtet sich selbst.

Hier lüftet sich der Schleier ein bißchen. In der Revolution ist also eine Seele möglich? Ja, antwortet Desnos, und diese Seele ist unsterblich. In der Leere seiner Einsamkeit schafft er eine ganz neue Welt. Es fällt ihm leicht, herauszufinden, was er hätte sein können. Aber die alten Versprechungen hat er alle gehalten. Sie sind rein geblieben. Wozu dann neue machen? Ich habe eine Seele, schwört der Dichter. Wohlverstanden: ich bin einer Seele würdig. Die meisten Gedichte seiner ersten Mannesjahre spiegeln diesen Sachverhalt wider: die „Ode an Coco“, eine Humoreske; „L’Aumonyme“, deren erste Teile er anläßlich seiner Begegnung mit den ehemaligen Dadaisten verfaßte; „P’Oasis“ (danke für den unvermeidlichen Schwulst), einem Louis Aragon gewidmeten Spiel:

Wir sind Gedanken, die wie Bäume an den Wegen der Hirngärten blühen…

Und weiter unten dieses reinste Manifest:

Die Wörter sind unsere Sklaven…

Das Problem der Wörter war für ihn von äußerster Bedeutung. Hat er – wie Rimbaud – die Notwendigkeit empfunden, ein neues Vokabular zu schaffen?
Doch bald verliert er den Geschmack am Sprachlichen und läßt sich von der Macht seiner Mythen und Halluzinationen gefangennehmen. Die Geheimnisvolle steht vor der Tür seines Lebens. Von ihr träumt er, nachdem er Man Ray das Filmdrehbuch L’Etoile de Mer (Der Meeresstern) abgeliefert hat. Der Meeresstern ist diese Geheimnisvolle. Sie hat ein wirkliches Gesicht und einen Körper von Fleisch und Blut. Und auch eine Stimme. Singt ihm diese Stimme an Abenden allgemeinen Katzenjammers jene genauso herzzerreißenden Lieder wie das Meer?

Und wir fahren nach Valparaiso…

Und der Dichter antwortet mit leidenschaftlicher Bereitschaft, sich zu binden – überhaupt wie immer, wenn er der Liebe begegnet:

Ich hab so viel von dir geträumt, daß du an Wirklichkeit verlierst.
Bleibt mir noch Zeit, diesen lebendigen Leib zu fassen und auf seinen Mund die Geburt der Stimme zu küssen, die mir teuer ist?

Viele der zuvor in der Littérature und der Révolution Surréaliste veröffentlichten Gedichte findet man in Mit Mann und Maus wieder. Mit der Zeit erhalten sie einen neuen Wert, der ihre Güte bestätigt. Sie stellen somit ein echtes Beispiel einer Dichtkunst dar, die niemand zu schreiben vermochte, die jedoch seit Apollinaire, Max Jacob, André Salmon und Blaise Cendrars in uns allen angelegt war.
Nach seinem Bruch mit den Surrealisten ändert Desnos seine Lebensweise. Youkis Gegenwart nährt in ihm eine Flamme, die das Siegel der wunderbaren und absoluten Liebe trägt. Von nun an versucht er alle Gefühlskräfte an eine Front zu werfen: an die des Herzens. Man könnte meinen, es sei ihm geglückt.
Seine Liebe zu der Sirene bestimmt den größten Teil seiner Handlungen.
Er gibt den täglichen Journalismus auf und beschränkt sich auf einzelne Berichte und Reportagen in Wochenzeitschriften, die bei Gallimard verlegt werden. Gleichzeitig nimmt er eine Stelle als Wohnungsvermittler bei einem gewissen Makler namens Schwob an. Seine Aufgabe besteht darin, in Paris freie Wohnungen zu ermitteln. Zweifellos eine trübselige und mühsame Tätigkeit. Doch abends kehrt er in seine Welt zurück.
1932 bietet ihm Paul Deharme, ein Altmeister des Rundfunks, die Mitarbeit beim Funk an. Das bedeutet für ihn ein neues Abenteuer. Bis zu seiner Mobilisierung im Jahre 1939 stürzt er sich als Dichter hinein, – was die einzige Art war, die Gefahr zu umgehen. Letztlich kannte er die Methode recht gut, er hatte sie während seiner Zeit als Journalist reichlich geübt. Es ist bekannt, daß er seine unerschöpfliche Phantasie und seinen Humor der Funkwerbung zugute kommen ließ. Armand Salacrou, der ihn in die Geheimnisse des Mikrophons einweihte, erzählt, daß er genauso stolz auf eine gelungene Sendung war wie auf ein schönes Gedicht.
Materiell ist das Leben annehmbar geworden. Da er jeden Monat tausend Francs zurücklegen kann, vermag er die in der Jugend gemachten Schulden zurückzuzahlen. Er hat das Atelier in der rue Blomet aufgegeben. Nach seinem vorübergehenden Wohnsitz in der rue Lacretelle in der Nähe der porte de Versailles hat er sich in der rue Mazarine Nr. 19 niedergelassen. Er wird sie nur noch verlassen, um apokalyptische Behausungen kennenzulernen.
Seine neue Lebensform hat jedoch aus ihm noch kein durchschnittliches, diszipliniertes und sich einordnendes Wesen gemacht. Mehr als je zuvor arbeitet er an dem Gebäude des Wunderbaren. Ein Feind jeden Zwanges und seines Instinktes sicher, widmet er sich endgültig dem Ungewöhnlichen: ungewöhnlich die dreitausend Slogans, die er für den Rundfunk schafft, ungewöhnlich die Gegenstände, mit denen er seine Vitrinen füllt, ungewöhnlich diese Fauna, die unaufhörlich die rue Mazarine entlangzieht und von der viele Angehörige seinen Neigungen entgegenkommen: Jean-Louis Barrault, Madeleine Renaud, Félix Labisse, Henri Jeanson, Galtier-Boissière, Charles Granval, Georges Hugnet, Paul Eluard, Lise Deharme, der Graphiker Soro, André Masson, Antonin Artaud (dem er bis zu seiner Inhaftierung regelmäßig ein bißchen Geld schickt), Salacrou, Picasso… und manchmal ein Hemingway, ein John Dos Passos. Den Hauptraum der Wohnung nimmt ein riesiger Bauerntisch ein. Die Wände treten hinter abstrakten, gegenständlichen und meist naiven Bildern zurück. Das schönste ist das zeitgenössische Porträt einer Dame aus der Epoche Louis-Philippes. Meine Urgroßtante, eine der berühmtesten Kurtisanen ihrer Zeit, stellte er sie vor.
Stunden, Tage, Nächte, Monate, Jahre war dieses Zimmer der Treffpunkt von Freunden – wie es Max Ernst einmal für seine surrealistischen Freunde erträumte.
Es wäre absurd, Desnos als Dandy hinzustellen. Jedenfalls hing er eher der dilettantischen Auffassung an, von der er vielleicht schon in Zeiten geträumt hatte, als er noch in der rue Saint-Martin wohnte: ein Seher zu sein, ein Dichter, ein Wahrsager, ein Liebhaber, ein Freund, ein Journalist, ein Filmfachmann, kurz, ein freier Mann.
Jedes Verlassen des Hauses ähnelte einer unsichtbaren Heimkunft vom Karnevalstreiben. Er nahm einen freundschaftlich beim Arm und sagte:
– Siehst du die Menge, Väterchen… Nun, sie tut unrecht, sich bei dieser Hitze nach Art der Harlekine zu kleiden. Rautengewächse lieben die Sonne nicht. Nein, sieh nur diese Kalesche! Die Herzogin von Berry sollte sich jetzt nicht nach Paris wagen… Sieh an, was treibt Alexandre Dumas in diesem Viertel? Du kennst Alexandre Dumas nicht! Er gibt eine Wochenzeitschrift unter dem Titel Der Musketier heraus, die solltest du lesen. Gestern rief er mich an und bat mich um einen Artikel über Picasso. Er scheint gut zu bezahlen: drei Pfennig pro Zeile.
Ab und zu hielt er inne, um eine Katze zu streicheln.
In der rue Mazarine beherbergte er übrigens drei oder vier Kater, so daß ihm seine Katze alle drei Monate erlaubte, lebendige Geschenke zu machen. Die Jungen gab er jedoch nicht jedem. O nein! Er zog vorher Auskünfte ein. Einmal hätte er beinahe den Polizeikommissar aus der rue de l’Abbaye bemüht, um die in Frage kommenden Besitzer zu verhören. Die alte Katze ist heute zwölf Jahre alt. Sie bekommt keine Jungen mehr, sie schläft.
Sie schläft seit dem 8. Juni 1945, sagt Youki.
Seit der Veröffentlichung von Mit Mann und Maus wird sich Robert Desnos der Kontinuität seiner Dichtung bewußt. Bis dahin hatte er nur intuitive Übungen darin gesehen. Plötzlich bezieht er die Vernunft ein. Im großen und ganzen tut er das gleiche wie die orthodoxen Surrealisten: über den Graben springen und den absoluten Idealismus ein wenig beiseite schieben. Er beginnt also einen Teil seines dichterischen Elans auf den Film und die Musik zu übertragen.
Von der Bedeutung des Lyrischen überzeugt, sammelt er Schallplatten. In einigen Zeitschriften stehen ihm Rubriken zur Verfügung, in denen er seine Leser mit dem Jazz und allen Arten authentischer Musik bekanntmacht, ganz gleich, ob sie aus den Tropen, vom Äquator oder von den Ufern des Mississippi stammen. Eine besondere Vorliebe hat er für die argentinischen Tangos und die portugiesischen Fados. Bis 1939 hat er eine Diskothek aufgebaut, die in ihrer Auswahl einzig dastehen dürfte. Von Damia bis Mistinguett, von Maurice Chevalier bis Fréhel ist die ganze Volksseele vertreten. Denn für Desnos darf die Musik wie die Dichtung oder die Kunst ganz allgemein nicht das Erbteil der Glücklichen dieser Welt sein, sondern soll im Gegenteil die einfachsten Gemüter durchdringen. Neben dieser volkstümlichen Musik hat er alles von Mozart, Brahms und Beethoven gesammelt, dazu Eric Satie und vor allem Offenbach. Besonders letzterer bezaubert ihn durch seine Verve und seinen Humor, die in der Tat einigen seiner eigenen Gedichte wie zum Beispiel der „Ode an Coco“ nahekommen.
Was den Film betrifft, so hat er unzählige Szenarien geschrieben. Die meisten sind offensichtlich nicht realisierbar. Wie überhaupt die seltenen Versuche eines poetischen Films (Das goldene Zeitalter, Der andalusische Hund, Der Meeresstern, Die Mysterien des Schlosses von Dé, Intermezzo, Das Blut eines Dichters und zwei oder drei weniger bekannte) letzten Endes nicht überzeugten. Es bedurfte des Talents von René Char, um das Extravagante des Unwirklichen mit dem Positiven des Wirklichen zu verbinden.
Denen, die heute die filmischen Fähigkeiten Desnos’ beurteilen wollen, würde ich empfehlen, mit aller Muße in den Auslagen an den Quais zu stöbern. Mit einem bißchen Glück können sie dort Zeitschriften wie die Cahiers du mois, die Cahiers jaunes, Feuilles libres oder Variétés finden, die in einigen Nummern Originalszenarien des Dichters enthalten. Die besten Filmschöpfungen Luis Buñuels wenden sie zu schwarzem Humor. Der größte Teil seiner hinterlassenen Szenarien blieb unveröffentlicht. Man hat einen ganzen Stapel davon aufgefunden. Es wäre zu wünschen, daß sich eines Tages ein Herausgeber dieser verdienstvollen Arbeit annähme. Sie würden eine unerschöpfliche Quelle für unsere phantasiearmen Filmleute darstellen. (Anm. d. Übers.: Robert Desnos: Cinéma, Hg. v. André Tchernia, Gallimard, Paris 1966).
In filmischen Angelegenheiten wollte Desnos kein Theoretiker sein. Trotzdem definierte er gerne die Aufgaben der siebenten Kunst. Er propagierte damals eine Verbindung von Pamphlet, Metaphysik und Dichtung – den einzig gültigen Hervorbringungen des Geistes.
Mit den nach 1930 geschriebenen Gedichten, d.h. gleichzeitig mit seiner Begeisterung für den Film, steht Robert Desnos an der doppelten Schwelle der Universalität und des Volkstümlichen. Bis zur „Nacht der lieblosen Nächte“ gab es gegen die Einsamkeit des Dichters kein Mittel. Seitdem hat er sich eine greifbare Welt geschaffen. Sein Reich wird nicht mehr von Auflösung und Hoffnungslosigkeit bewohnt. Die Ära der Ausgeglichenheit steht ihm offen. Doch die Welt besteht nicht nur aus Höhepunkten. Desnos wird zu ihrem unermüdlichen Schöpfer. Sie basieren auf den unterschiedlichsten Überzeugungen: geheiligten oder nichtgeheiligten, atheistischen oder nichtatheistischen.
Ziehen Sie nicht den voreiligen Schluß, daß Desnos ein für allemal mit der Einsamkeit gebrochen habe. Er hat lediglich die seine gewählt und diejenige zurückgewiesen, die ihm eine alte Grausamkeit immer wieder aufzuerlegen sucht. Für ihn hat die Einsamkeit aufgehört, eine bewaffnete Wache vor der Tür der Liebe zu sein. Das bedeutet das Ende der Zwiesprache mit der Verzweiflung, die über Jahre hinaus in seinen Ruinen beheimatet war. Ein solcher Dialog ist unmöglich geworden, da die Verzweiflung tot ist und einer unendlich empfindlichen und brüderlichen Poesie Platz gemacht hat. Die Ohne-Hals kündigen den „Veilleur du Pont-au-Change“ (den Wächter vom Font-au-Change) an.
Die einzige Erbschaft, die Desnos bewahrt und auf unbestimmte Zeit bewahren wird, ist der Humor, dem wir 1933 die „Complainte de Fantômas“ (Fantômas’ Klagelied) verdanken, deren fünfundzwanzig Strophen das Bleibende im Werk des Autors untermauern.
Bevor wir endgültig die brüderliche Periode Desnos’ erörtern, wollen wir noch einen Augenblick bei einem der letzten Gedichte dieser Zeit der „Liebe für die Liebe“ verweilen: bei „Siramour“.
Es handelt sich um ein Schlüsselgedicht, dessen Ziel es ist, die Vereinigung der Sirene (Youki) mit dem Seepferdchen (Desnos selbst) zu besingen:

O, nichts kann die Sirene vom Seepferdchen trennen
Nichts kann diesen Bund entzwein.

„Siramour“ stellt insofern einen neuen Schritt auf dem Wege traditioneller Lyrik dar, als das Hinübergleiten der Sprache zum Experiment unterbleibt. Aus freien Rhythmen und reiner Prosa bestehend, wird das Gedicht ganz vom Rhythmus der Gedanken getragen. Wie üblich, vermischt hier Desnos Mythen und Ideen, Hoffnungslosigkeit und Humor, Moral und Konzession miteinander. Man spürt eine neue Tragik. Das Sehertum erfährt hingegen einen resignierenden Rückschlag:

Nimm das Buch nicht von der leichten Seite
Ich weiß besser als alle, was es besagt
Ich weiß, wohin ich gehe
Es wird nicht immer einfach sein
Doch die Liebe und wir
Haben es so gewollt.

„Siramour“ ist ein sinnliches Gedicht, das jedoch – paradoxerweise – gleichzeitig den Willen zur Askese zum Ausdruck bringt, die der angeborenen Reinheit Desnos’ durchaus nicht fremd ist. Seine Begeisterung für Don Juan, für die Liebe, für die Erotik und Marotten jeder Provenienz hängt einzig und allein von dieser Reinheit ab. Bald zu den Antipoden romantischer Mythen, bald zur Avantgarde realer Bilder übergehend, verstrickt uns „Siramour“ in einen höllischen und unentrinnbaren Kreis. Es geht nicht darum, dort herauszukommen. Wie sollte man sich auch Allegorien entziehen können, die abwechselnd mystisch und realitätsnah sind? Das gehört schon ein wenig zu der Über-Verzweiflung in der „Nacht der lieblosen Nächte“, die hier durchblickt:

Die Sirene begegnet dem Double und lächelt ihm zu
Sie entschlummert zur Stunde des goldigen Schlafs
der sie nicht mehr entläßt.
Vielleicht träumt sie, sie träumt bestimmt.
Wir stehen am Beginn eines Tages lichtvoller Ernte
Und von Erdbeben und diamantener Flut,
die erste sinkt auf dein Haar und taucht empor
aus deinen Augen, die zweite verkündet deinen Weg
und die dritte bezwingt im Sturme dein Herz.

Das ist in den gleichen sinnlichen Regionen angesiedelt wie diese zwei von sechs Vierzeilern, die ganz besonders den Sinnenrausch der „Nacht der lieblosen Nächte“ kennzeichnen:

Mit ihr schlafen
Wegen des Schlafs neben ihr
Wegen der parallelen Träume
Wegen des Atmens zu zweit.

Mit ihr schlafen
Wegen des einmaligen, seltsamen Schattens
Wegen der gleichen Wärme
Wegen der gleichen Einsamkeit.

Der überraschendste, d.h. der täuschendste Zug von „Siramour“ steckt in diesem Wunder, in dem sich der ewige Ruf der Liebenden mit der armseligen Atmosphäre eines Stunden-Zimmers vermischt, dessen Wände zurückgetreten sind, um sich vor dem Zauber zweier Wesen zu verneigen.
Es fehlt nichts von der überraschenden Klarheit, von der Demos unter keinen Umständen abweicht. Einer Klarheit, die zwar auf die Spitze getrieben ist, der Klarheit eines Geistes aber, dessen Besorgnis nicht immer von der Verzweiflung diktiert wird. Das Herz des Corsaire Sanglot blutet noch ein wenig in der Dichtung von der Sirene mit dem Goldhaar. Wieder einmal folgt die Nacht auf die Nacht. Der Gang der Liebe setzt sich seinen Rhythmus selbst. Und manchmal fügt er seinem eigenen Geschick irgendeine auf die Nerven gehende Musik eines Tanzlokals oder einer Vorstadtkneipe hinzu. Desnos hat nie aufgehört, die Formen einer zukünftigen Revolte vorauszusehen, zu der die Liebe notwendigerweise ihr Gefolge betäubender Nächte und fahler Morgengrauen beisteuert.
1934 erscheinen Die Ohne-Hals mit Radierungen von André Masson. Desnos genoß den seltenen Vorzug, daß seine Werke von Künstlern illustriert wurden, die seine Dichtkunst schätzten und verstanden. Sie haben jeden Augenblick seines Rauschzustandes miterlebt. Nur ein Zeuge wie Georges Malkine konnte zur bildlichen Ausmalung der „Nacht der lieblosen Nächte“ beitragen. Nur André Masson vermochte mit seiner Kunst die herzzerreißenden und ironischen Strophen der Ohne-Hals auszuschmücken. Picasso schuf zwei wundervolle Radierungen für Contrée (Gegend), und Félix Labisse stellte sein Können in Le Bain avec Andromède (Das Bad mit Andromeda) und Lucien Coutaud in der Rue de la Gaîté (Straße des Frohsinns) unter Beweis.
Desnos verstand sehr viel von alten Chansons. Sein gewohntes Repertoire reichte von „Adieu eher camarade“ bis zur „Piémontaise“ oder „Sur les marches du Palais“. Ich weiß nicht, ob er bei einigen Stücken aus Ohne-Hals ernsthaft an eine Angleichung an Chansons dachte. Warum schließlich nicht? Ich könnte jedenfalls versichern, daß Dichterlesungen, in deren Verlauf ganz unabsichtlich Folkloristisches in einige seiner Texte einfloß, den gleichen Enthusiasmus und die gleichen Tränen hervorgerufen haben. Als die französischen Dichter den Mut der Gefangenen von 1940 bis 1945 bis zum letzten anfeuerten, waren es ohne Zweifel Eluard, Aragon und Desnos, die – natürlich physisch – in den Lagern und Gefängnissen am meisten geknechtet wurden.
Doch wir sind noch nicht bei den Gedichten der Kriegsjahre angelangt. Vorläufig sind die Ohne-Hals noch von keinem anderen Freiheitsgeist getragen als dem, der Desnos teuer war.
Neben den Verwünschungen gibt es ein Gedicht, für das er eine Schwäche hatte, weil es die Übersteigerung seines Lieblingsmythos von Don Juan verewigt.
Während er in der „Nacht der lieblosen Nächte“ den Stolz auf sein Liebesabenteuer offenbart:

Ist es nicht Don Juan, der diese Alleen durchstreift,
Wo der Schatten sich eint mit den Geistern der Liebe?
Dieser Schritt, der durch die trostlosen Nächte hallt,
Hat er mit hartem Absatz die Herzen gezeichnet?

Es ist nicht Don Juan, der gelassen herabsteigt
Die Treppe, die in höllischer Pracht erstrahlt.
Auch der nicht, der auf die Bibelverse spuckte
Und höhnisch mit dem steinernen Gast gezecht hat.

ist der finstere Held der spanischen Legende nunmehr niedergestreckt. Er hat sich zu sehr an allen heißen Eisen verbrannt. Bevor er sich stolz zum geizigen Acheron einschifft, bevor er eine unerträgliche Hitze um sich aufsteigen fühlt, bevor er die letzten Spötteleien seines Dieners vernimmt, macht Don Juan die Reise seines Bankrotts:

Es bleibt tatsächlich nicht viel davon,
Ein Loch im Asphalt,
Ein Loch, nichts als ein richtiges Loch, ein kleines Loch.

Doch bevor er ihn dem Nichts überantwortet, führt Desnos den fatalen Liebhaber in die Stadt Don Juans. Sie kommen dort zur gleichen Zeit an wie die Bettler. Sie haben nichts weiter vorgefunden als einen Wallace-Brunnen auf dem Marktplatz.

Er blieb dort bis Mitternacht
Er blieb dort ohne Überdruß
Er blieb dort allein in der Nacht.

Dann, um Mitternacht, eine Frau in Trauerkleidung… Ist das der Beginn der Liebe? Nein. Desnos will es nicht. Die Stadt Don Juans soll eine sterile Stadt sein.
Mit den Ohne-Hals hat Desnos, vielleicht unbewußt, einer alten Forderung der Surrealisten entsprochen:

Öffnet die Gefängnistore!

Aber ist es nicht gefährlich für sein Sehertum, die Zukunft der Guillotinen zu besingen? Geduld, es wird sich alles finden! Ein Dichter kann immer mit Blut hantieren. Das ist eine Bloßstellung, die nicht sehr schwer wiegt. Zögern wir also nicht länger, und gestatten wir uns den Luxus einiger wirklich treffender Anklagen:

Häuser ohne Fenster, ohne Türen, mit zertrümmerten Dächern,
Türen ohne Schlösser,
Guillotinen ohne Fallbeil…
Mit Euch spreche ich, die ihr keine Ohren mehr habt,
Keinen Mund, keine Nase, keine Augen, keine Haare, kein Gehirn,
Keinen Hals.

Nun, mir scheint, die Gefängnisse sind offen. Da steht der Desnos des letzten Elends mit seinen Gewaltmaßnahmen. Während er die Ohne-Hals schreibt, weiß er nicht, was ihn erwartet.
O traurige Guillotine! O, Ihr armen Enthaupteten! O Ihr unfreiwillig Kopflosen! Wenn Ihr wüßtet, was man mit Eurem Barden gemacht hat, wenn Ihr das Schicksal dessen kennen würdet, der über Euch schrieb:

Doch wenn sie sprachen, war es von Liebe,
Sie hätten für einen Kuß
Ihr letztes bißchen Blut gegeben.

Aber vielleicht kennt Ihr sein Geschick, vielleicht ist Desnos jetzt bei Euch zu Gast. Ich möchte wetten, daß Ihr gerade Belote spielt und in kalten Schenken verlorener Planeten bei einem Glas Rotwein sitzt. Zerbrecht vor allem die Gläser nicht! Wenn Ihr Euch jedenfalls mit unserem armen Dichter ohrfeigen wollt, haltet getrost still, denn er wird nicht zurückschlagen. Ihr könnt beruhigt sein, man ohrfeigt die Guillotinierten nicht! Schlimmstenfalls kann man sie in den Hintern treten. Aber man schlägt seine Helden nicht. Das tun höchstens die falschen Brüder.
Die meisten Bewunderer Desnos’ sind von den Ohne-Hals besonders angetan. Die einen vernehmen hier die Aufrufe zur Revolte, die anderen weiden sich an dem Liebesrausch. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Man sollte jetzt vielleicht erwähnen, daß zwischen Desnos und Majakowski kein allzu breiter Graben liegt. Im Reich des einen und auf der Wolke des anderen fühlen wir uns meiner Überzeugung nach mit einigen wenigen daheim.
Desnos arbeitete damals in einem der Rundfunkgebäude in der rue Bayen. Gegenüber befand sich eine kleine Schenke. Sie existiert heute noch. Man erinnert sich dort noch gut daran, daß dieser Herr mit der dicken Brille fürchterlich war. Das ist natürlich übertrieben, man darf lebhaft und fürchterlich nicht miteinander verwechseln.
An der Theke notierte er manchmal einen Vers. Es war eine Manie von ihm, überall Notizen zu machen: in Gesellschaft, in der Metro usw. …
1936 hatte er sich gewaltsam vorgenommen, jeden Tag ein Gedicht zu verfassen. Das währte ein Jahr. Einige davon sind in den „Portes battantes“ (Flügeltüren) enthalten. Auf die Dauer war das Ergebnis dieser Übungen sehr unterschiedlich. Er sagt es in der Vorrede zu dem Band Etat de veille (Wachzustand) selbst, in den er einige andere aufgenommen hat. Es handelt sich vornehmlich um Versuche. Sie umfassen selbstverständlich auch den Automatismus der goldenen Zeit. Doch „Au baut du monde“ (Am Ende der Welt) und „Les hommes sur la terre“ (Die Menschen auf Erden) haben diesen archaischen Charakter der Texte von 1922 nicht. Im Gegenteil, der Dichter verleiht ihnen einen strengen Zug und einen Hauch von Didaktik. Das Gedankengut wird immer volkstümlicher, familiärer, nach dem Motto „auf-dein-Wohl-Stephan-zerbrich-das-Glas-nicht“.
Er ist jetzt dreißig Jahre alt. Um diesen Geburtstag hervorzuheben, hat er dem Viertel von Saint-Merry einen Gruß geschickt.

Eines Abends ging ich dort wieder vorbei,
Eines Abends im April,
Ein Trunkenbold schlief in der Gosse.

An der Front des Mietshauses an der Ecke der rue Saint-Martin und der rue des Lombards suchte er den Balkon, über dessen Brüstung er sich zuweilen gebeugt hatte, um die zweifelhafte Straße zu überblicken und die ersten Schatten der Trostlosigkeit dieser Welt auftauchen sehen zu können. Er hat den Balkon wiedergefunden:

Das gleiche Fenster war erhellt.

aber es lehnte sich kein Seher-Lehrling über seinen Rand, um ihn anzurufen und nach den Geheimnissen seines Werdegangs zu fragen. So ging er weiter, begegnete Phantomen aller Art

Und die seltsame Nacht zerfaserte über Paris.

Bald darauf lauscht er in sich hinein. Er bittet sich selbst um Audienz.
Er sucht sich. Beinahe würde er aus seinen Handlinien lesen. Aber keinerlei Vertrautsein stellt sich ein, es sei denn eine neue Ahnung, der tausendste Aufruf seines Geschicks, das er nicht vorherzusagen wußte – er, der so vielen anderen Vorhersagen gemacht hat. Bist du dieser Flüchtige, der mit geschlossenen Augen in der Ecke eines Hauseingangs träumt? Nun? Ein Flüchtiger verbirgt sich, duckt sich. Es ist noch nicht soweit, daß du gewisse Schreie deines Herzens unterdrücken und heimlich tun mußt. Du hast noch viel Zeit, deine Grüße überallhin zu entbieten, aufs Geratewohl am rechten Ufer, unserer einzigen Heimat.
Dennoch hörst du bereits:

Den Schritt der Bewacher, die Lieder in der Nacht,
Die Gefangene singen, um das Schweigen zu fliehen…

Ach, Robert, verschließ deine Ohren vor diesen Aufrufen! Da draußen ist die Hoffnung, das vorbeiziehende, singende Proletariat der Welt… Da draußen ist der 14. Juli 1936. Die Freiheit hat noch nie so viele Zungen gehabt.
An jenem Tag hast du geweint zwischen dem Platz der Bastille, in dessen Nähe du geboren bist, und dem Platz der Nation, wo die Revolution von 48 begann. Und einige von uns murmelten ein Gedicht vor sich hin, das du gerade erst geschrieben hattest:

Geh deines Wegs, es gibt keine Grenzen mehr
Keine Zollschranken, keine Polizei, kein Gefängnis…

Zum erstenmal warst du ein zu eifriger Seher: die Stunde der Befreiung der Gefängnisse schlägt morgen noch nicht.
An den Menschen zu glauben, ist eine Ethik, die wenigen Denkern eigen ist. Glücklicherweise bringt das Ansehen alles wieder ins Lot. Je mehr die Gläubigen in der Minderzahl sind, desto größer ist ihr Ruhm. Sie sind so selten, daß ihre Namen gleich hinausposaunt und in alle Welt getragen werden. Höchstens die Politiker machen sich über sie lustig.
Auf der kleinen Liste der Optimisten hat der Name Robert Desnos’ neben dem Heraklits, Rousseaus, Diderots, Saint-Justs, Grachus Babeufs und einiger Träumer, die sich zwischen 1940 und 1945 die Märtyrerkrone teuer erkauft haben, einen guten Klang.
Jeder Straßenpassant ist für Desnos ein Freund. Sein Herz ist allen offen. Schließen Sie daraus nicht auf seine Einfältigkeit! Er kennt die unerschöpflichen Quellen des Spottes und der Bosheit. Aber er weiß auch, daß jedes Herz leicht zu bewegen ist, sobald es um Sonne, Liebe und Freiheit geht. Man braucht nur über die Schlüsselwörter zu verfügen, mit denen man die verkrusteten Schlösser aufzwingen kann. Desnos’ Vokabular ist ein Schlüsselbund. Auf gut Glück greift er zu einem Schlüssel, führt ihn schalkhaft ins Schloß und dreht ihn vorsichtig und zartfühlend um. Das zugängliche Herz ist gewonnen, gewonnen für seine Brüderlichkeit. Und bald ist seine Welt überbevölkert. Er hat wahrhaftig ein ungeheuer großes Herz, aber mit jedem Gedicht treten so viele Leute ein, daß es in ihm schon so aussieht wie in der Metro zur Zeit des Berufsverkehrs.
Für Desnos ist immer Berufsverkehr.
Und dennoch ist er kein Apostel. Er hat keinen Sinn für Predigten. Er ist jedoch unvergleichlich, sobald er zu sprechen beginnt, dann entsteht eine magnetische Wirkung, die wie ein Wunder alles anzieht.

Endlich heraustreten aus der Nacht
Herauskommen aus dem Schlamm.
O wie sie an Füßen und Gliedern kleben
Die Nacht und der Schlamm!

Dann wird der Optimismus wach:

Dieser Weg führt mich zu klaren Flüssen
Wo zwischen grünen Ufern man baden kann.
Flüsse im Schatten der Bäume,
Von den Flügeln der Vögel gestreift,
Wasser, klare Wasser, ihr wascht mich rein.

Und die Nacht ist für uns zu Ende, die Nacht der Menschen; die als Obskurantismus bezeichnete Nacht löst sich im ersten Eifer der Vorstadttumulte auf.
Überall zerstören die Dichter das gescheiterte Leben, überall wird Verzweiflung ausgespuckt. Überall steigt Gesang auf und umschmeichelt unser Herz wie mit kostbarem Samt.
Desnos, an der Spitze der Hoffenden, ist der Mann ohne Schatten. Und doch war er an ihn gewöhnt. Ein letztes Mal vor dem allerletzten Weg zum Glück sucht er ihn:

Wo habe ich ihn gelassen, in welchem Keller? In welchem Brunnen?
An welchem Kreuzweg des Tages oder der Nacht?
In welcher Kneipe, in welchem Kamin voll Rauch und Ruß?

Laß deinen Schatten, Desnos! Er ist des Lichtes nicht wert, das du in dir trägst und das du nur wegen der seltenen Diamanten der Humanität geschaffen hast – diesem Kaufhaus der Apokalypse.
Es ist Zeit, und es wird immer Zeit sein, „O Aufruhr!“ zu rufen.

Als ich J.-L. Barrault meine Absicht mitteilte, über Robert Desnos zu sprechen, verlor er sich nicht in lyrischen Beschwörungen. Er erzählte mir einfach eine Erinnerung:
– Ich inszenierte Numance mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Das heißt: ohne. Wir probten Tag und Nacht. Allein ich fragte mich wirklich, ob derart viele Bemühungen jemals das Rampenlicht erblicken werden. Zwei Tage vor der Generalprobe galt es unbedingt eine größere Summe aufzutreiben: sechstausend Francs. Wo sollte ich sie hernehmen? Ich machte meiner Verbitterung vor meinen Kameraden Luft. Robert war an diesem Tag zu uns gekommen, wie er es oft machte, wenn er konnte, denn er liebte uns. Plötzlich war er verschwunden. Eine Stunde später tauchte er wieder auf. Er zog mich beiseite und drückte mir etwas Papier in die Hand. Es waren die sechstausend Francs. Er hatte einfach darum gebeten, ihm sein Monatsgehalt vorzuschießen.
Die meisten seiner Freunde (es waren viele) habe ich um eine Erinnerung an ihn gebeten. Alle antworteten mir:

Eine Erinnerung! Wie? Tausend, wenn Sie wollen!

Dann begannen alle:
– Robert war…
Er war alles.
Keiner konnte über eine stumme Schwärmerei hinausgelangen. Wie sollten sie auch sagen, was man nicht zum Ausdruck bringen kann! Rührung verschlägt oft die Sprache. Im übrigen sagt man nicht das Unsagbare. Oder aber man stellt eine Anekdotensammlung zusammen. Doch das war nicht meine Absicht. Dennoch steigen persönliche Erinnerungen in mir auf, während ich dies hier schreibe. Die frühesten gehen auf das Jahr 1928 zurück. Die letzten stammen aus der Zeit kurz vor dem September 1942. Ich kann sie nicht alle aufzeichnen.
Ich war vierzehn Jahre alt. Ich trug noch kurze Hosen. Man versuchte mir klarzumachen, daß die Wahrheit dem Bürgertum vorbehalten ist. Es ist ein Wunder, daß man in meiner Bibliothek keinen François Coppée, Sully Prudhomme und schlimmere gefunden hat. Ich schätzte ekstatische Begeisterung nicht. Ich versuchte, vollkommen „im Bilde zu sein“. Ich hätte darauf geschworen, daß Paul Bourget ein ganz großer Schriftsteller war. Ich war verloren. Eines Abends nahm mich mein Journalisten-Onkel mit in eine beliebte Bar. Wir fanden dort zwei Männer vor, die sehr laut waren. Der eine war Henri Jeanson, der andere Robert Desnos. Sie führten in meiner Gegenwart ,abscheuliche‘ Reden. Ich hörte etwas vom Sex der Frau A…, vom Schriftsteller T…, der ein Provokateur war, vom Maler V…, der P. J. zu Diensten stand, von Chiappe, den man eines Tages in seiner eigenen Kacke wälzte, von Poincaré, den man bei kleinem Feuer rösten sollte, von einem Gesellschafter des Francais, der Maschinisten vergewaltigte, von der Syphilis eines Pfarrers von Saint-Sulpice.
Am folgenden Sonntag empfing mein Onkel auf unserem Familienbesitz Literaten, Theaterleute und Politiker. Ich erkannte Marcel Pagnol, Steve Passeur, Marcel Achard. Ich sah auch Henri Jeanson und Robert Desnos wieder. Zwei Tage zuvor hatte ich zufällig eine Reportage von ihm über die Leistungen Jack des Bauchaufschlitzers gelesen. Um mich hervorzutun, nahm ich ihn beiseite und sagte ihm, daß ich seinen Artikel sehr gut gefunden habe. Er klopfte mir auf die Schulter und wendete sich wieder den Damen zu, die ihn mehr interessierten als meine Komplimente. Nach dem Essen spielte Desnos – auf allen vieren – auf gleicher Ebene mit unseren Hunden. Ich war voller Begeisterung. Man bat ihn, Gedichte vorzulesen. Er rezitierte mehrere. Das glich ganz und gar nicht meinen Lektüren. Ich fragte ihn, von wem die Gedichte seien. „Von Guillaume Apollinaire“, antwortete er. Dann kehrte er zu den Hunden zurück. Ich hatte noch nie etwas von Apollinaire gehört. Von anderen allerdings auch nicht. Ich wußte, daß es Rimbaud gab, da meine Großmutter, die sich ,einbildete, etwas von Literatur zu verstehen‘, dann und wann mit viel Aufwand das „Sonett von den Vokalen“ oder „Das Trunkene Schiff“ aufsagte. Zu meiner großen Freude sah ich Desnos häufig wieder. Inzwischen hatte man beschlossen, mich lange Hosen tragen zu lassen. Ich erfuhr, wer Apollinaire war. Jedesmal, wenn uns Desnos besuchte, bat ich ihn, den „Emigranten von Landor Road“ vorzutragen. An einem Empfangstag hatte mein Onkel neben den üblichen Gästen einen jungen Schriftsteller eingeladen. Er war sehr dick, gab sich gravitätisch und lästerte über Abwesende. Ich habe ihn gleich verabscheut. Er lebt wahrscheinlich noch und heißt auch immer noch Alain Laubreaux. An jenem Tag war ich dem Dicken gegenüber so aggresiv, daß er mir eine Ohrfeige gab. Ich wollte zurückschlagen, als mich jemand daran hinderte und mir erklärte, „daß das nur von relativer Bedeutung sei und der Tag kommen werde, an dem…“ Es war Robert. Er war großartig. Er beleidigte Alain Laubreaux, wie es nur ein Surrealist vermag. Von diesem Tag an war er mein Freund.
Hin und wieder sagte er mir, daß die Literatur erbärmlich sei, daß ich unrecht täte, schreiben zu wollen, doch wenn es mir wirklich ernst damit sei…
– Auf jeden Fall keine Geschichten, ja? Man muß der ganzen Welt Grobheiten an den Kopf werfen, auch mir.
Er sprach manchmal in meiner Gegenwart von Leuten namens André Breton, Aragon, Paul Eluard, Roger Vitrac, Philippe Soupault, Picasso, Man Ray. Was er von ihnen sagte, rief in mir die Vorstellung von Tieren wach, die man nicht streicheln darf. Vor allem, weil sie am Montparnasse wirkten, und der Montparnasse war für mich der Dschungel.
Eines Tages beschloß ich jedoch, selbst dorthin zu gehen. Ich lernte die Bars de la Rotonde, du Dôme und Boule Blanche kennen. Dann und wann drang ich bis zur rue Blomet vor.
Natürlich nahm er meine moralischen Probleme und ihre Aspekte nicht sehr ernst. Aber es machte ihm Spaß, mir aus meinem Loch herauszuhelfen. Doch an jenem Abend war er wenig zufrieden, als ich ihm meine Absicht ankündigte, mich grundsätzlich zum Surrealismus zu bekennen. Wie! Ich habe keinen anderen Ehrgeiz, als mir die Verantwortung abnehmen und mich ins Schlepp nehmen zu lassen? Ich führte ihm vor Augen, daß ich schon eine Reihe befreiender Handlungen vollzogen habe (wenigstens war ich davon überzeugt), daß ich den Befehl Bretons: „Gebt alles auf… Geht auf die Straßen“ ausgeführt habe, daß mir das Wort ,Revolution‘ nicht in der Kehle steckengeblieben sei. Er sah mich mitleidig an:
– Du willst also auch Rimbaud spielen? Nun, das ist sehr schwer. Ich kenne viele Leute, die sich den Hals dabei gebrochen haben.
Ich begriff den Grund seiner Trauer erst später, da ich als Zeuge der letzten Zuckungen des Surrealismus eine Menge junger Leute kennenlernte, die in gesicherter materieller Position mit der Revolution und dem Nonkonformismus spielten und Scheiben zerschmissen, die ein Diener am nächsten Morgen bezahlen ging.
Jahre vergingen. Manchmal sah ich ihn lange nicht, aber bei jeder unserer Begegnungen stellte ich fest, daß sein Schwung immer der gleiche blieb. Auch sprudelte er stets vor Begeisterung und Aufruhr über. Ich versäumte nie, ihn über meine Entdeckungen auf dem laufenden zu halten. Meine Naivität angesichts einiger Ausdrücke musikalischen Rausches amüsierten ihn sehr. Im Grunde war er ganz zufrieden, mir als Amme gedient zu haben. Aus Spaß sagte er augenzwinkernd zu mir:
– François Coppée… ist gar nicht mal so schlecht.
Eines Abends tranken wir in irgendeiner Schenke an der place Danton ein Gläschen Wein. Wir warteten auf Youki, die ins Kino gegangen war. Und wir sprachen vom Krieg. In Paris wurden bereits die Nummern 2, 3 und 6 angeschlagen. Ich hatte eine Nummer 6 und mußte mich am nächsten Tag melden. Er sagte mir ungefähr folgendes:
– Der Krieg, Väterchen, ist die gräßlichste Schweinerei. Aber wenn es Krieg gibt, dann bin ich für den Sieg.
Ich habe Vichy und die Organisatoren der Niederlage kennenlernen müssen, um den vollen Sinn seiner Worte zu begreifen.
Dann kam die Zeit ohne Sterne.

Eine Weile wurde er eingesperrt, dann kehrte er in die rue Mazarine zurück.
Nur schwer gewann uns die Hoffnung wieder. Um uns gegenseitig beizustehen, lebten wir in einer kleinen Gruppe praktisch zusammen: er, Eluard, Georges Hugnet, Picasso… Da waren die Abende im Café Flore, die Essen im Catalan, das Picasso soeben entdeckt hatte. Desnos schrieb literarische Notizen im Aujourd’hui, verteidigte den damals scharf angegriffenen Gide, empfahl besonders umstürzlerische Lektüren, deren nonkonformistischer Geist uns vertraut war. Ich möchte nicht beschwören, daß er gerade zu jener Zeit der Résistance beitrat, aber er nahm bereits – wie man sagt – eine Haltung ein…
Er strahlte Hoffnung aus. Vielleicht bestand darin seine Vergeltung gegenüber den schweren Jahren in der rue Blomet. 1941 beschimpfte er öffentlich die Leute, die keine Kraft mehr besaßen, den Sieg abzuwarten, und in Resignation verfielen. Und da ihm Prophezeiungen gang und gäbe waren, sprach er von schönen Tagen, als gäbe es sie schon.
Er hatte sich seine Manuskripte wieder vorgenommen, hier ein Gedicht zerrissen, dort eins korrigiert. So erschien 1942 Fortunes (Glücksfälle). Das war ein großer Tag für uns und für ihn. Doch das Eigenartigste an dem Buch ist das Nachwort, in dem er seinen eigenen Kurs festlegt. Seitdem habe ich den Eindruck, daß dieser Text vielleicht sein persönliches dichterisches Testament ist. Er schrieb insbesondere:

Mit dem Band Glücksfälle, in dem Gedichte aus einem Zeitraum von zehn Jahren zusammengestellt sind (die neuesten sind fünf Jahre alt), habe ich das Gefühl, mein Leben als Dichter zu Grabe zu tragen.
Aber auf der anderen Seite kann ich dank des nötigen Abstandes über diese Verse ein freieres Urteil fällen. Ich verkenne keineswegs, was in den beiden ersten Gedichten veraltet ist. Ich stecke dort Wüsten ab, die Passagen einer feurigeren Inspiration voneinander trennen… Eine gewisse Hemmungslosigkeit stört mich in diesen Texten noch, deren Aufbau ins Großartige weist, sich aber schlecht von dem Wortnebel abhebt…

Desnos urteilt hier über „Siramour“ und die „Nacht der lieblosen Nächte“. Ferner gehört das Zitat hierher:

Ich bin heute der Ansicht, daß die Kunst (oder wenn man will, die Magie), die die Inspiration, die Sprache und die Phantasie zu koordinieren erlaubt, dem Schriftsteller eine höhere Ebene der Aktivität bietet.

Was vor allem von dieser Selbstkritik festzuhalten ist, ist der anarchistische Zug in der dichterischen Ethik Desnos’. Er hat bei weitem nichts von den Erfahrungen von 1920 verleugnet. Aber er sucht noch nach einer Sprache. Sie soll gleichzeitig volkstümlich und treffend sein.
Es kam zuweilen vor, daß Unbekannte an seine Tür klopften. Oft waren es junge Dichter, die irgendeinen Stein der Weisen suchten. Unter dem Eindruck der surrealistischen Fata Morgana dachten fast alle an ein Wiederaufleben der abenteuerlichen Erscheinungen des Dada und der Littérature. Desnos erklärte ihnen also mit aller Geduld, daß der Weg bereits freigeschaufelt, die Straße durchgelegt und es nun an ihnen sei, die letzten Trümmer fortzuräumen. Langsam geriet er in Schwung und folgerte abrupt:
– Wenn Ihnen so sehr daran gelegen ist, mit einem erlesenen Leichnam zu spielen, brauchen Sie nur nach Amerika zu fahren.
Und warum sollte er diese „Amateure“ getäuscht haben? Das hätte ihn nur älter gemacht. Er war gegen das Alter und auch gegen die hierarchische Ordnung, die diese Anfänger stets unbewußt schaffen. Warum sollte er immer dasselbe wiederkäuen? Er war ein äußerst sensibles Medium gewesen. Seine Träume und Weissagungen hatte er in Gedichte und Taten umgesetzt. Es war Zeit, mit einem neuen Akt der Befreiung zu beginnen. Aber die jungen Dichter bebten vor Angst.
– O, Lautréamont hätte sich keineswegs soviel Mühe zu geben brauchen… 1920 hatten wir den Polizisten, Feiglingen und Schwachköpfen offen den Kampf angesagt. Soviel ich weiß, sind diese Rassen noch nicht ausgestorben. Was treiben demnach unsere sogenannten Erben? Nun, sie glänzen nicht gerade.
Um sich zu beruhigen, schleppt mich Desnos zum Flohmarkt und stillt dort sein Verlangen nach Andersartigem und unfreiwilliger Poesie.

Bald nach den Glücksfällen veröffentlicht Desnos einen Roman über die Welt der Droge: Le vin est tiré (Es gibt kein Zurück).
Erstmals nimmt der revolutionäre Schriftsteller unumwunden ein soziales Problem in Angriff, Aus diesem Titel kann man eine Auswirkung seines dichterischen Lebens ablesen. Im Namen dieser absoluten Freiheit, die die Surrealisten nie zu proklamieren aufhörten, nimmt Desnos auf Erfahrungen Bezug, die er vielleicht selbst gemacht hat. Vor allem hofft er, daß sein Werk dazu beitragen wird, die Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Problem der Drogen zu revidieren. Es gibt kein Zurück ist kein soziologisches Buch. Praktisch gibt es sich als romanhafter Bericht. Man hätte hundertmal lieber gesehen, wenn die Poesie im Spiel gewesen wäre.
Um eine ständig bedrohte Freiheit zu retten, hat Desnos natürlich mit Bedacht alle Formen des Vergessens hervorgehoben – einschließlich der des Wahnsinns, zu dem der Genuß von Rauschgift führt. Die Süchtigen, die er gekannt hat, sind auf diesem Wege sehr weit fortgeschritten. Aber es bleibt erstaunlich, daß ein anarchistisch so stark ausgeprägter Dichter auch nur einen Augenblick glauben konnte, die Droge von der Seite des Gefühls auswerten zu können. Es ist festzustellen, daß sie für die Süchtigen lediglich ein Laster und keines der befreienden Mittel ist, wie es der Dichter möchte.
Die Tatsache, daß Es gibt kein Zurück gleichzeitig mit der neuen Gedichtsammlung Wachzustand publiziert wurde, verwirrt etwas. Man möchte manchmal annehmen, daß es sich nicht um den gleichen Autor handelt. Zweifellos übt der Roman an der Integrität des Traumes Verrat. Er ist noch nicht einmal volkstümlich. Der Wachzustand erscheint im rechten Augenblick, um uns den Irrtum des Dichters vergessen zu lassen:
Von neuem branden „übernatürliche“ Visionen über uns hin. Niemals hat das Wort Eluards: „Man muß der Welt die Empfindlichkeit nehmen“ rigoroser Anwendung gefunden. Der Schriftsteller darf den Träumer nicht preisgeben. Was sollte sonst aus den Erleuchtungen werden, die Edgar Allen Poe und später Desnos, den anderen phantastischen Träumer, heimsuchten? Die Mythen klopfen oft vorher an, bevor sie eintreten. An die Tür Desnos’ brauchten sie nicht zu klopfen, denn sie stand weit offen. Der Herr des Hauses erwartete sie seit langem. Sogar eine gewisse Ungeduld läßt sich an dem Blick hinter der dicken schwarzen Brille ablesen.
– Herein, liebe Erleuchtungen, kommt doch herein! Wir warteten nur noch auf euch, um uns langsam zurückzuziehen. Wir haben es nicht eilig.
Und er fügte hinzu:

Noch mit hunderttausend Jahren hätt ich die Kraft,
Dich zu erwarten, o Morgen, von der Hoffnung erahnt.

Obwohl einige Gedichte in dem Band Wachzustand relativ alt sind, scheint der Dichter weniger ein Opfer seines gewohnten kosmischen Rausches zu sein. Seine Sentimentalität ist nicht so lyrisch wie sonst. Es handelt sich hier eher um eine volkstümliche Poesie als um abstrakte Betrachtungen. Alles in allem ist Desnos dabei, die Äußerungen in die Tat umzusetzen, die er in dem Nachwort zu den Glücksfällen formuliert hat.
Diese Tendenzen werden in den Gedichten noch deutlicher, die man bald als die letzten bezeichnen kann: „Gegend“, „Das Bad mit Andromeda“, „Die Straße des Frohsinns“. Dennoch gibt er sein früheres zweites Ich nicht völlig auf. Man findet es stellenweise in den „Chantefables“, die er für Kinder geschrieben hat.
Es ist nicht das erste Mal, daß Desnos an einen Reigen mehr oder weniger neuer Abzählverse denkt. 1932 schenkte er den noch recht kleinen Kindern von Lise Deharme zwei Alben, für die er nicht nur den Text verfaßt, sondern die er auch selbst farbig illustriert hat. Beide sind noch unveröffentlicht. Zwei Beispiele finden sich in dieser Anthologie. Hoffen wir, daß die Ménagerie de Tristan (Tristans Tierschau) und Parterre de Hyacinthe (Hyazinthenbeet) eines Tages den Kindern – ob sie nun Dichter sind oder nicht – nicht mehr vorenthalten werden.
Während seine letzten Werke erscheinen, gehört Robert Desnos bereits seit zwei Jahren der Widerstandsbewegung an. Wie hätte es auch anders sein können? Der Dichter bestätigt auf diese Weise den Sinn seines ganzen Lebens. Die Sache ging wie von allein, weil sie nicht ungeschehen bleiben konnte, weil Desnos zu vieles zu verteidigen hatte: zuerst die Freiheit, dann aber auch die rue Saint-Martin, die rue Mazarine, die rue Blomet, die Terrassen von Saint-Germain-des-Prés, die Katzen, die Bouquinisten an den Quais, ganz zu schweigen von den Geistern der liebevollen oder lieblosen Nächte. Für viele ist es eine Zeit der Schmach, doch es ist auch die Zeit des verborgenen Lichts.
Robert Desnos ist nicht nur aktives Mitglied eines Informations- und Aktionsnetzes, sondern gehört außerdem zur Gruppe der Editions de Minuit. Unter verschiedenen Pseudonymen, darunter vor allem Valentin Guillois (das bis auf einen Vokal dem Mädchennamen seiner Mutter entspricht), nimmt er an dem Kampf der Intelligenz teil. So werden in den Verstecken Gedichte gemurmelt, deren Klang die Gemüter aufputscht und die Herzen zum Bersten bringt, da jedes Wort mit Sprengstoff geladen ist. Einsam in Paris, geht „der Dichter“ um. Er ist der Wächter vom Pont-au-Change, der über Paris wacht. Er hört:

Schreie, Gesang, Röcheln, Lärm, sie kommen von überall her…

Er vernimmt den Schritt der Befreier auf dem Lande, zur See und in der Luft. Er weitet seine Dichterbrust, die denen offen ist, die bald allerorts auftauchen:

Ich grüße euch, die ihr schlaft
Nach harter Untergrundarbeit,
Ihr Drucker, Bombenträger, Schienensprenger, Brandstifter…
Ich grüße euch an der Schwelle des neuen Tags.

Jede der großen Stunden der Menschheit hat den Schrei eines Dichters hervorgerufen. Robert Desnos ist derjenige, der in unserer Nacht ausgerufen hat, daß die Freiheit zurückkehren wird. Und da er ahnt, daß er vielleicht nicht dabeisein kann, um die zu empfangen, auf die ein ganzes Volk wartet, ruft er schon jetzt über den Atlantik, den Ärmelkanal und das Mittelmeer:

Guten Tag, guten Tag, von ganzem Herzen guten Tag!

Ach, man möchte es unterdrücken, noch vor freudiger Erregung zu zittern, weil all das schon weit hinter uns liegt, weil wir das Jahr 1949 schreiben und die Zeit der Schande zurückgekehrt ist… Aber es gibt Worte, gegen die man nichts vermag. Worte, immer Worte, sogar Worte, die längs der alten Mauern widerhallen, wo die Geheimnisse der ehemaligen Barrikaden schlummern, auf denen sich die zukünftigen erheben werden. Der freie Robert Desnos hat sie hinausgerufen, der gefangene Robert Desnos hat sie in das Lager hineingerufen, der sterbende Robert Desnos hat sie noch in Gegenwart zweier Freunde aus einem anderen Land und einer Blume geflüstert, die nicht leben wollte, weil ein Dichter im Sterben lag.
So werden immer und immer die Dichter gemordet.

Am 22. Februar 1944 wurde Desnos durch einen Anruf einer wohlinformierten Freundin vor dem unmittelbar bevorstehenden Eintreffen der Gestapo gewarnt. Aus Furcht, daß man an seiner Stelle Youki verschleppen würde, wollte er nicht fliehen. Als sie kamen, war er bereit, zu allem bereit, sogar lächelnd. Beinahe hätte er mit seinem gütigen Gesicht gesagt:

Guten Tag, meine Herren, treten Sie näher…

Während er abgeführt wird, werden an den Pariser Mauern Plakate angeschlagen, Plakate von dem Film über den Rundfunk, den er soeben fertiggestellt hat und dessen Titel an jenem Tage von einem grausamen Humor ist:

Guten Tag, meine Damen, guten Tag, meine Herren.

In der rue des Saussaies fordert ihn der diensthabende Beamte auf, seine Brille abzunehmen. Er weiß, was das bedeutet. Er führt den Befehl aus, dann sagt er:
– In Anbetracht des Altersunterschiedes ziehe ich einer Ohrfeige einen Schlag in die Fresse vor.
In Fresnes belegte er für einige Wochen die Zelle 355 der zweiten Abteilung. Nach unglaublichen Bemühungen fand Youki seine Spur und konnte ihm Pakete schicken.
Am 20. März wurde er nach Compiègne transportiert. Dort organisierte er Vorlesungen und Dichterabende. Youki setzte sich bei den Dienststellen der deutschen Polizei so lange ein, bis sie erreichte, daß sein Name von der Transportliste gestrichen wurde. Einige Tage später dinierte ein hoher Beamter des Sicherheitsdienstes mit einigen Schriftstellern und Journalisten der Tagespresse in einem Pariser Restaurant. Man befragte ihn nach seinen Funktionen, nach den Lagern und den bedeutenderen Persönlichkeiten, die sich dort befanden. Er sagte, daß es in Compiègne Intellektuelle, Professoren und Mediziner gäbe – sogar einen Dichter, fügte er hinzu. Er heißt Robert Desnos. Ich glaube nicht, daß er deportiert wird. Da erhob sich einer der Gäste:
– Nicht deportiert? schrie er, den sollte man doch erschießen. Er ist ein gefährlicher Mann, ein Terrorist, ein Kommunist.
Dieser Gast war Alain Laubreaux.
Als diese Tatsachen später bekannt wurden, erinnerte ich mich an die Szene meiner Kindheit, die ich in einem der vorhergehenden Kapitel geschildert habe.
Am 27. April war Robert Desnos bei dem Transport nach Buchenwald dabei.
Zehn Tage später empfing der Wächter vom Font-au-Change die Befreiungsarmeen.
Alain Laubreaux ist gegenwärtig bei Franco.
Aber wenn er erwischt wird…

In Compiègne hatte Desnos einige Gedichte geschrieben. Bekannt ist „Sol de Compiègne“ (Der Boden von Compiègne). In Deutschland gelang es ihm, weitere zu schreiben. Auf der Flucht in die Tschechoslowakei gingen sie verloren. Nur das letzte, das an Youki „Ich habe so lebhaft von dir geträumt“, ist dank Josef Stuna auf uns gekommen.
Desnos’ Abenteuer in den Konzentrationslagern war ein lebendiges Epos. In der Anthologie wird man einen Brief finden, den er Youki zukommen lassen konnte und der auf seine Art bezeichnender ist als ein Bericht.
Sein Gefährte, der Dichter André Verdet (der am gleichen Tage verhaftet wurde und dessen Buch La nuit n’est pas la nuit [Die Nacht ist keine Nacht] ein dichterisches Zeugnis von diesem höllischen Zyklus ablegt), berichtet, wie eintausendachthundert Kameraden des Transportes vor den Gaskammern in Auschwitz den Tod erwarteten. Abgestumpft durch Müdigkeit, Hunger und Angst, baten die meisten, daß er schnell kommen möge. Plötzlich ereignete sich etwas: ein Mann eilte durch die Reihen der Tiere, ergriff nacheinander die Hand eines jeden, prüfte die Lebens- und Glückslinien, sagte ein langes und glückliches Dasein voraus, das Ende des Unheils, prophezeite noch… Es war unser Dichter Robert Desnos, die Reinkarnation von Nicolas Flamel.
Am nächsten Morgen ging der gleiche Transport nach Buchenwald ab, das keine so schreckliche Hölle darstellte. Aber immerhin eine Hölle.
Den Rest kennen Sie.
Damit ist diese Studie abgeschlossen.
Bevor ich allein in die Nacht zurückkehre, in der mich manchmal mein Freund verfolgt, der nun seinerseits ein Phantom ist, erwarte ich seinen letzten Gruß. Ich kenne ihn im voraus:
Es grüßt Sie Victor Hugo, Gérard de Nerval, Coleridge, Lautréamont, Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire… Es grüßt sie Robert Desnos.

Pierre Berger, Juni 1949, Vorwort

 

EIN SPAZIERGANG DURCH DIE LITERATUR

39. Ich träumte, ich schliefe ein, während meine Schulkameraden versuchten, Robert Desnos aus dem Konzentrationslager von Theresienstadt zu befreien. Als ich erwachte, befahl mir eine Stimme, ich solle mich in Bewegung setzen. Schnell, Bolaño schnell, es gibt keine Zeit zu verlieren. Als ich ankam, fand ich nur einen alten Detektiv, der in den vom Überfall rauchenden Ruinen stocherte.

Robert Bolaño

 

,DOMAINE PUBLIC‘
i. m. Robert Desnos, gest. Theresienstadt 1945

Zur Lektüre empfehlen kann ich
aaadie Kirchenväter. Wie sie
das verwesende Fleisch pflegen:

leckere Betrachtung: Maden,
aaadie säuberlich Milz zu Milch
schäumen. Zur Leibesübung, längeres

Verdrängen von viel unsauberer
aaaRede, die aus sauberen Gräbern dringt.
Wenn die Erde sich auftut, soll Menschenmund

sich dann auch auftun? ,Ich bin nichts,
aaawenn nicht alsbald errettet!‘ oder
,Gott, was für eine Farce!‘ Die Wochen-

tage sind sieben Gruben. Siehe,
aaaO Herr, wieder erstehn
wir auf und die Richter kommen.

Geoffrey Hill
Übersetzung Werner von Koppenfels

 

 

 

neopostpunk: Die surrealistische Revolution. Robert Desnos – Worte zu Überleben…

Klaus Möckel: Robert Desnos, Dichter der Résistance

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA

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