– Zu Christine Lavants Gedicht „Des Nachbars Perlhuhn schreit wie eine Uhr…“, aus Christine Lavant: Gedichte. –
CHRISTINE LAVANT
Des Nachbars Perlhuhn schreit wie eine Uhr
so unentwegt und immer in demselben
verrückten Abstand, während sich die gelben
Blätter der Weide lösen und als Schnur
im kleinen Dorfbach schaukelnd weitergleiten.
Der schwarze Hund hebt heftig an zu streiten
Wider die Schreie, die er nicht verträgt.
Ein tauber Bettler, der durch Nägel sägt,
lächelt voll Hoffnung auf das Abendbrot.
Die letzten Hängenelken blühen rot,
und wenn der Wind will, duften sie herüber.
Sehr tief im Osten steigt ein dunstig-trüber
Herbstmond herauf und äugt uns alle an.
Das Perlhuhn schweigt, – ein rostig-brauner Hahn
Kommt ihm fast höflich durch die Nacht entgegen.
Der Bettler sitzt schon unterm Küchensegen,
und in der Hundehütte rauscht das Stroh.
Jetzt dürfte man vom Tage nichts mehr wissen!
Ich aber wende immerfort das Kissen;
denn unter meinem Schädel irgendwo
verbarg das Perlhuhn seine schrillen Schreie.
Der Mond tritt langsam aus der Sternenreihe
Und an mein Fenster als ein gelber Hahn.
Wie eine Uhr fang ich zu beten an.
Für Goethe waren Gedichte „gemalte Fensterscheiben“, man könnte diese glänzenden Kunstgebilde auch anders, herzloser deuten. Als Blinker beispielsweise, die Leser aber wären die Fische, die geradezu reflexhaft nach einleuchtenden Worten, Zeilen oder Versen schnappen und dann oft ein Leben lang an der Angel hängen, weil sie die aufgeschnappten Brocken einfach nicht mehr aus dem Kopf kriegen: „Ich zoch mir einen valken“, „Der Mond ist aufgegangen“, „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“.
Freilich: Nicht jeder Blinker funktioniert. Leserinnen und Leser schnappen keineswegs nach allem, was Dichterinnen und Dichter ihnen im Wörtersee der Poesie vor Augen führen, im Gegenteil. 99 Prozent der Köder werden, fürchte ich, verschmäht, und in der Regel wird es nicht schwer fallen, derlei Verweigerung zu begründen: Der Blinker ist zu unscheinbar, zu unattraktiv, zu kompliziert konstruiert, zu ungenau plaziert, zu schlecht gemacht, zu hoch gedacht oder zu tief gefühlt. Um so aufregender, wenn es klappt, um so schwieriger freilich auch die Erklärung, warum das so ist: Was hat dieses eine Gefühl, was andere – auch Gedichte des gleichen Urhebers – nicht haben?
„Des Nachbars Perlhuhn schreit wie eine Uhr“ – das Gedicht, welches mit dieser Zeile beginnt, hat überdurchschnittlich häufig eingeleuchtet, und dafür gibt es Zeugen. Rudolf Helmut Reschke gehört zu ihnen, Axel Marquardt, auch Thomas Bernhard. Sie alle haben Lyrik-Anthologien herausgegeben – die ersten beiden trugen eine Blütenlese der deutschsprachigen Dichtung dieses Jahrhunderts zusammen, der eine für den Bertelsmann Club, der andere für den Haffmans Verlag, Bernhard schließlich traf für die Bibliothek Suhrkamp eine Auswahl aus den vier Gedichtbänden der Christine Lavant – und bei keinem der drei fehlt „Des Nachbars Perlhuhn schreit wie eine Uhr“.
Daß ich von dieser Übereinstimmung weiß, ist Zufall – ich habe keineswegs alle erreichbaren Anthologien überprüft. Es war allerdings eine Anthologie, in welcher ich das erste Mal etwas von Christine Lavant las. In Karl Otto Conradys Sammlung Das große deutsche Gedichtbuch stieß ich auf – nein, nicht auf das „Perlhuhn“, das fehlt –, sondern auf die Zeilen „Es riecht nach Weltenuntergang / viel stärker als nach Obst und Korn“. Da bereits biß ich an, ganz und gar gefangen nahmen mich dann die letzten Zeilen der ersten Strophe:
Ergreifend flach ohne Schein
schiebt sich der Mond herein.
Auch dieses Gedicht traf übrigens nicht nur Conradys und meinen Nerv, ich fand es auch bei Reschke und Bernhard.
Lavant – so heißt ein Fluß in Kärnten, und unter diesem Namen veröffentlichte Christine Habernig zwischen 1956 und 1962 ungefähr 400 Gedichte. „Des Nachbars Perlhuhn“ findet sich in ihrem ersten Gedichtband Die Bettlerschale und hat seither offenbar nicht aufgehört, Leser zu finden und zu blenden, obgleich sein packender Beginn mit so suggestiven anderen Gedichtanfängen konkurriert wie „O Mond, dir steht das Kranksein gut“, „Aus den Steinen bricht der Schweiß“, „Alter Schlaf, wo hast du deine Söhne“ oder „Es riecht nach Weltenuntergang“.
Zugegeben: „Des Nachbars Perlhuhn“ ist ein perfekter Köder, in fast jeder Zeile beißt man sich fest. Der „verrückte Abstand“, der schwarze Hund, der „heftig wider die Schreie streitet“, der Mond, der „uns alle anäugt“, der „fast höfliche rostig-braune Hahn“, die Schlußzeile schließlich – alles Widerhaken, die in solcher Häufung auch bei Christine Lavant selten sind. So, wie der Trakl-Leser mit jedem Gedicht zuverlässig ins Trakl-Land gelangt, so entführt auch jede Lavant-Lektüre ins Lavant-Tal, jene nicht ganz geheure Gegend, in welcher ein leidendes Ich mit einem krankmachenden Gott, einer verrückten Weltordnung und einer bedrohlichen Natur hadert und für all diese Kränkungen immer neue Worte und unerwartete Bilder findet, manche freilich noch neuer und noch unerwarteter als die anderen. Und aus denen sind dann wohl auch diejenigen Gedichte der Christine Lavant gemacht, die sich so besonders hartnäckig festsetzen.
Robert Gernhardt, Hörfunksendung, gesendet am 13.6.1999 in der Reihe Das Archiv der Poesie im Radio 3 des NDR, gedruckt in Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik, S. Fischer Verlag, 2010
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