– Zu Gottfried Benns Gedicht „Hör zu“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. –
GOTTFRIED BENN
Hör zu
Hör zu, so wird der letzte Abend sein,
wo du noch ausgehn kannst: du rauchst die „Juno“,
„Würzburger Hofbräu“ drei, und liest die Uno,
wie sie der „Spiegel“ sieht, du sitzt allein
an kleinem Tisch, an abgeschlossenem Rund
dicht an der Heizung, denn du liebst das Warme.
Um dich das Menschentum und sein Gebarme,
das Ehepaar und der verhasste Hund.
mehr bist du nicht, kein Haus, kein Hügel dein,
zu träumen in ein sonniges Gelände,
dich schlossen immer ziemlich enge Wände
von der Geburt bis diesen Abend ein.
mehr warst du nicht, doch Zeus und alle Macht
das All, die grossen Geister, alle Sonnen
sind auch für dich geschehn, durch dich geronnen,
mehr warst du nicht, beendet wie begonnen –
der letzte Abend – gute Nacht.
Ein auf den ersten Blick herzlich konventionelles Gedicht: fünfhebige Jamben, umarmende Reime, vierzeilige Strophen, die in eine fünfzeilige Strophe münden – lyrische Mitteilungsformen also, denen bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts etwas überkommenes anhaftete und die spätestens seit dem Erscheinen von Gottfried Benns erstem Gedichtband Morgue von 1912 zum veralteten Poesie-Eisen gehörten.
Der Dichter Benn hatte reimlos und schnörkellos begonnen – „Ein ersoffener Bierkutscher wurde auf den Tisch gestemmt“ –, und wenn er in der Folgezeit reimte, dann, um der so sinnlosen wie hoffnungslosen Lage des Menschen mit Hilfe der Dichtung und unter Zuhilfenahme all ihrer Mittel etwas Geformtes und Dauerndes entgegenzusetzen, das Kunstwerk:
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
So heroisch, ja pathetisch dichtete Benn noch im Jahre 1953, kurz darauf freilich beginnt er, dem hohen Ton zu mißtrauen. Am 12. März 1955 schreibt er an seine junge Freundin Ursula Ziebarth:
Ich habe seit langem eine solche Abneigung gegen das idealistische, erhabene, seraphische Gedicht (Carossa, Binding, Bergengruen, Stadler, Schnack, Weinheber), daß ich immer ein Nicht-Gedicht dagegen hauen muß. Also die journalistischen Gedichte meiner letzten Periode.
Zu welchen auch „Hör zu“ zählt. Der Dichter, der kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag steht, führt ein mitleidloses Selbstgespräch, dem – vorerst zumindest – jegliche „idealistische“ Verklärung fremd ist. Als welterfahrener Realist listet Benn auf, was ihm den letzten Abend – wie schon die Abende zuvor – verschönen wird: Zigarette, Bier, Lektüre. Genüsse, denen er jedwedes poetisch umschreibende, mystifizierende oder verniedlichende Mäntelchen verweigert, indem er sie beim Namen, sprich: beim Markennamen nennt. Nicht von „blauem Dunst“ oder „edlem Gerstensaft“ ist die Rede, sondern von „Juno“ und „Würzburger Hofbräu“, sogar die selbstverordnete Biermenge wird dem Leseren passant mitgeteilt: „drei“. Und der späte Gast meidet eine weitere, damals in den Medien gängige Umschreibung. Er liest kein „Hamburger Nachrichtenmagazin“, sondern den „Spiegel“.
Drei Markennamen in drei Zeilen – nähme man die Anfangsworte „Hör zu“ hinzu, man käme sogar auf vier Produktbezeichnungen –, ein in der deutschen Nachkriegslyrik unerhörter Vorgang. Ich jedenfalls weiß von keinem vergleichbaren Einbruch der Warenwelt in das so feinsinnig wie sorgsam geschätzte Gehege unserer Fünfziger-Jahre-Poesie. Auch wenn der Dichter in der letzten Strophe den Versuch unternimmt, dem finalen Wirtshausbesuch doch noch höhere Weihen abzugewinnen, indem er erst „Zeus“, dann „das All“ und schließlich „die großen Geister“ anruft, vermag es selbst dieser „pontifikale“ Schlußakkord nicht, den „profanen“ Dreiklang des Gedichtanfangs zu übertönen – um jenes Gegensatzpaar anzuführen, das laut Bertolt Brecht die Dichtung der Deutschen seit Goethe durchzieht und in zwei Linien aufteilt.
Benn wußte, in welcher Zwickmühle er sich befand. Am 27. April 1955 schickt er „eine ganze Reihe von Gedichten, die niemand kennt“, an Ursula Ziebarth, verbunden mit der Bitte um Beurteilung. „Welche kämen eventuell für den neuen Band in Frage“, fragt er, und „Welche sind unmöglich“. Sie solle „schonungslos“ urteilen, ermuntert er sie, denn „ich weiß, daß ich mich in einer Krise hinsichtlich Gedicht befinde. Das alte idealistische schwungvolle Gedicht kriege ich nicht mehr über die Lippen. Was mich daran hindert, weiß ich selbst nicht. Es kommt mir unecht, unreal und unreell vor. Trotzdem bleibe ich ihm verhaftet.“
Die Adressatin folgt der Bitte des Dichters. In einem langen Antwortschreiben beurteilt sie Gedicht für Gedicht. „Hör zu“ solle er in den neuen Band aufnehmen, schreibt sie, verbunden mit einer befremdlichen, den Schlußreim kappenden Empfehlung:
Bei diesem Gedicht würde ich allerdings die letzte Zeile fortlassen!
Am 4. Mai dankt der Dichter der Leserin: „Dein Urteil ist brillant!“, folgt ihr aber nicht in allen Punkten:
Ich streiche ferner: „Hör zu“ albern u. gemütlich.
Hier irrt Benn, und fast will es mir scheinen, als habe ihn in diesem Fall Angst vor der eigenen Courage gepackt. Von Zeit zu Zeit muß das Gedicht entpoetisiert werden, und Gottfried Benn war zweimal dazu berufen, ihm diesen Dienst zu leisten. So, wie sein „ersoffener Bierkutscher“ am Jahrhundertbeginn das Ende von Goldschnittlyrik und Décadence-Gedichten einläutete, so räumen seine drei Gläser „Würzburger Hofbräu“ auf mit dem Gräserbewisper und dem falschen Trost der Nachkriegsdichtung.
Auch wenn„ Hör zu“ nicht schon 1956 in Gottfried Benns letztem Gedichtband Après lude zu lesen war – das Gedicht wurde erst 1960 in der Zeitschrift Merkur veröffentlicht –, so haben doch vergleichbar „reale“ und „reelle“ Stimmen und Tonfälle des späten Benn junge Dichter dazu ermutigt, sich unbefangen auf – wie es Peter Rühmkorf nannte – „Weltstoff und Wirklichkeit“ einzulassen.
Gottfried Benn starb 1956; noch bevor das Jahrzehnt zu Ende ging, hatten die Debüts von Enzensberger, Grass und Rühmkorf dem „idealistischen, erhabenen, seraphischen Gedicht“ endgültig den Garaus gemacht.
Robert Gernhardt, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005
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