GRAMMATIK DES KNOTENS
Etwas ist uns voraus. Todbringend. Wie der Tag, an
aaaaadem wir unsere ersten Knoten knüpften.
Aus jedem Knoten schlüpft ein Rhythmus eine Bürde
aaaaaein Brocke eine Blindheit ein Versteck
– gefangenes Tier, kaum Intuition oder
aaaaaLichtexplosion.
Etwas schreit nach einem Platz mit grünen Baumreihen und ins
Mundmoment gewachsenen Eschen.
aaaaaWer spricht in meinem Kopf und erstickt den Keim mit seinem Schluchzen?
Das Denken sucht den Ursprung:
Schwarze Kunst, um das Geheimnis der Kindheit
zu besänftigen (zu verankern).
Die Erinnerung saugt sich fest. Klebt an der Haut wie ein
aaaBakterium, Escherichia Coli, das seinen Wirt selbst in der
aaaflüchtigsten Heimat nicht verlässt.
Todbringende Ahnung, die Ahnung fremd zu sein. Und jeder
aaaVorfahre erscheint als Fremdling schlechthin bei den
aaaAnekdoten zu Tisch:
Hofarzt Feldwebel
Bergbauingenieur Kurpfuscher
Paläontologin Weizendrescher
In einer einzigen Figur (Kontur) findet sich der Gerechte wieder,
in einer einzigen Linie findet das Sich zu sich selbst.
Vater. Oder ist es Mutter, die unten im Haus zu hören ist?
Jeder frühere Name ist ein Eigenname, ist mein.
Ruinen, etwas erhebt sich aus den Ruinen als Geste.
Handschrift und Familienband. Merkmal.
Etwas ist uns voraus. Todbringend. – Durchbrich die Linie:
aaadie Nachfolge, die Linie,
wirst um die Asche deines Namens buhlen.
Die Wanduhr (Antik: 1890. Gustav Becker Uhrenfabrik.
Nussbaum, Glockenspiel zu jeder Viertelstunde) diktiert,
was altbekannt:
zwischen Beerdigung und Mittagsmahl die alten Raucher,
der namenlose Eisverkäufer.
Tiento/Fühlung ist ein Ensemble von thematischen Exkursen über die Beziehungen und Konflikte in einer Familie. Ausgangspunkt ist die Migration: Eine bzw. drei Frauen überqueren den Ozean und finden sich in Situationen wieder, die sie mit ihrem schweren „Gepäck“, mit der Bürde, Teil eines Clans zu sein, konfrontieren. Das Erbe, die Migration, der Konflikt, die Intensität und der Nebel bilden somit den poetischen Stoff des Buches. Die Geschichten überschneiden sich, das Wort erzeugt ein Bild, von den Signifikanten lösen sich Klänge, bilden konzentrische Kreise wie Steine, die auf eine glatte Wasseroberfläche geschleudert werden.
Rocío Cerón entfaltet, einer Art mentalem Plan folgend, drei Geschichten, drei Erfahrungen – alle von Frauen (die vielleicht ein und dieselbe sind): die Großmutter, die Mutter und Eleonora. Die Migration dieses Familienclans erschließt sich dem Leser zwischen den Zeilen des Buches.
Der Name Kalemegdan steht für die im Laufe der Jahrhunderte von verschiedenen Kulturen eingenommene und zerstörte Festung und beliebte Parkanlage Belgrads, ist sich in Metapher verwandelndes Indiz für eine Geschichte von Migrationen und Blutsbanden. Erinnerungen, sorgfältig gehütete Kleidungsstücke in der Truhe der Enkelin. Die Hoffnung, jemand rühre an die Signifikanten von Eleonora, dem von marmornen Brandmalen gezeichneten Körper. Die von einem leeren Namen aufgerissene Wunde. Allein seine Nennung bedeutet einen Akt des Exorzismus; dennoch eitert die Wunde.
Die Mutter beobachtet. Sie offeriert Ausflüchte oder gibt Anweisungen, gefangen in ihren eigenen Worten, die wie ein Strauß Blumen sind. Dombeya. Blüte oder Laub, Farbe oder Fadheit, wo die Frage nach dem Wie, Warum oder Wozu hinfällig geworden ist. Die Antworten liegen weit zurück, an einem Ort auf dem Balkan, wo die Spirale, deren Ausläufer bis nach Amerika reichen, einst ihren Anfang nahm. Sie zieht ihre Kreise von der Küste Uruguays über die Hochebene Perus und endet in der Wüste von Sonora.
Die Gedichte bestehen auf der Angst, „da ist etwas Schreckliches“, sagt die Autorin. Sie versuchen die Zahl, die Nebel verhangenen Tage zu entziffern, das Unsagbare zu erzählen. Eleonoras Stimme hallt im Klang des Cellos wider, in der Musik von Enrico Chapela, wobei diese Gleichzeitigkeit den ursprünglichen Sinn der Poesie offen legt: gesungene Geschichten, Metamorphose des Wortes in klangvollem Akkord. Dazu die Fotografien von Valentina Siniego: Bilder, die ihrerseits das punctum der Szenerie unmittelbar enthüllen, den intensiven Moment, wo Objekte oder Orte, Personen oder Handlungen eine Erinnerung erhellen.
Das innerste Mark von Tiento bildet, wie bereits in Imperio, dem vorigen Gedichtband, die Darstellung einer Familiengeschichte. Sie schlägt den Ton der Elegie an, streift die Tragödie, doch das Ende bleibt offen. In beiden Gedichtsammlungen macht die ewig abwesende Anwesenheit des Vaters klar: ein endgültiges Bild oder hundert Bilder können die Melancholie nicht heilen. Die Dinge auszusprechen, mit aufgespürten, fremden Worten beim Namen zu nennen, ist wie lautes Beten: eine Beschwörung oder ein thaumaturgischer Akt.
Das Ungesagte nimmt mehr Raum ein als das Wort und sagt genauso viel, wenn nicht gar mehr als dieses. In diesem Schweigen aus Blumen, Bäumen und Steinen tragen die Stimmen die Diskurse von Mutter und Vater; Steilhänge, die zu imaginären Geografien führen. Die Frauen, die Frau, überqueren den Atlantik, kommen nach Amerika, erschaffen Amerika, und haben scheinbar ein ganzes Leben hinter sich gelassen. Doch nur solange das Schweigen anhält, denn mit dem Wort begeben sie sich erneut auf die Suche nach ihrem Schicksal.
Fühlung (Tiento) bedeutet Maß nehmen, bedeutet abwägen, bedeutet betasten. Kalligrafie der Berührung, Hauch der Stimme, Impression von Haut an Haut. Die Poesie findet in der Phantasie statt; die Poetik geschieht im Gedächtnis. Das Wort sät, die Metapher sprießt. In Tiento bringt der klangvolle Wortakt den Leser zum Verstummen. Die Gedichte quellen aus einem Grund fürs Schreiben/Beschreiben, streifen Bilder, die suggestiver sind als alle Wörter zusammen. Ceróns Dichtung ist Poesie in höchster Potenz, die der visuellen, auditiven, olfaktorischen und taktilen Wahrnehmung entspringt. Ihr Wort wechselt vom Imperium der Sinne ins Territorium von Verstand und Gefühl, pendelt zwischen linguistischer Spekulation und dem Bild des Wesentlichen, dem unwahrscheinlichen Maßstab aller Dinge und Handlungen.
In jeder Generation wiederholt sich eine Geschichte. Krieg, Familie, Abwesenheit. In Tiento verstricken uns die Worte in ihre permanente Zirkularität, ihre Kadenzen: Echos, die sich gegenseitig antworten und in Frage stellen. Da es sich um Poesie handelt, die laut vorgetragen werden muss, Performance-Poesie, ist der Klang ausschlaggebend für die langsam ins Bewusstsein rinnende Emotion, die Gewissheiten pflanzt, wo das geschriebene Wort Fährten zu einem vorgestellten Präteritum legt. In uns ist ein Ort, der die Wortpfeile empfängt. Dann öffnen diese Schlüsselworte die Erinnerung und kratzen an der Büchse der Pandora.
José Manuel Springer, Nachwort, Juni 2010
bezeichnet „tiento“ eine bestimmte Form der freien Improvisation, eine Art des „Sich-Herantastens“ an ein Thema. In Anlehnung an diese iberische Musikform heißt auch der neue Lyrikband der mexikanischen Dichterin Rocío Cerón: Tiento.
Zentrales Thema von Tiento, welches in Variationen kunstvoll umspielt wird, ist die Migration: Serbien, Peru, Mexiko sind nur einige der geografischen Koordinaten zwischen denen sich die Frauen des Clans – die Großmutter, die Mutter und Eleonora – auf ihrer Suche bewegen. Was die Großmutter in der Alten Welt zurückgelassen hat, beherrscht ihre Schritte in der Neuen Welt, ist mit Melancholie getränkter Ballast, die Wunde, die sich in jeder Epiphanie der Enkelin manifestiert.
Tiento ist mehr als eine autobiografisch gefärbte Geschichte; Tiento tastet sich an die verschütteten Erinnerungsräume mittels Sprache, Bildern und Musik heran, einen einzigartigen poetischen Klangkörper kreierend, der die singuläre Familiengeschichte zu einer universalen Erfahrung transzendieren lässt.
Verlag Hans Schiler, Klappentext, 2011
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