NACHRUF AUFS LETZTE STREICHHOLZ
Jetzt hat sich die Lage entspannt.
Der Kordon löst sich langsam auf.
Die Sonne ist kein Zitronenfalter.
Doch weiß das die übermütige Feuerwehr?
Haut ihr den Staub aus den Flügeln!
Durch die Luft fliegen Quader aus Luft.
Ich steh auf den Treppen des Winds.
– Zu Rolf Bossert und seinen Gedichten. –
Drei Männer treten finster durch das Tor
Mit Sensen, die im Feld zerbrochen sind.
Trakl
1
Rolf Bossert ist seit sechs Monaten tot, man kann es schwer begreifen. Ein Blick auf sein Foto, in das Gesicht mit dem Lächeln aus Nähe und Ferne, aus Zuwendung und Absperrung, und mir ist so, als müßte gleich eine Tür aufgehen, als würde er gleich ins Zimmer kommen, ein gerade entstandenes Gedicht in der Hand.
Dabei denke ich jedesmal, wenn ich von Göttingen aus mit der Eisenbahn nach Süden fahre, wenn sich der Zug Frankfurt nähert und ich hinter den Häusern von Oberrad die alten Bäume sehe, an das Grab auf dem Waldfriedhof, an den Vormittag Ende Februar, mit Sonne, Schneeresten in den Schattenwinkeln, mit dem dünnen Wintergesang der Meisen. Fassungslos umstanden wir Gudrun Bossert, die beiden Jungen und die kleine dünne Mutter, die zur Beerdigung aus Rumänien hatte kommen dürfen und die dorthin auch wieder zurückreisen mußte, wir sahen die erschrockenen Gesichter und waren selber erschrocken, lange brachte niemand ein Wort heraus. Fremde Gegend, schwere Stille. Aber dann traten doch nacheinander fünf von uns nach vorn und an jene unscheinbare Kante der Grube, die uns längst von ihm trennte, jeder der fünf las eines seiner Gedichte vor, es war, als wollten wir ihn festhalten, als würde er, wenn wir ihm nachsprachen, was er einmal geschrieben hatte, an uns gefesselt bleiben.
2
Ich weiß nicht, wie er gelebt hat, dreiunddreißig Jahre lang, da unten in Rumänien. Ich kenne die Stadt nicht, in der er heranwuchs, nicht die Orte, an denen er sich aufhielt und aufhalten mußte, ich bin nicht in seiner Wohnung gewesen und habe auch nicht den Tisch gesehen, an dem er schrieb.
Als wir uns begegneten, im Oktober vergangenen Jahres in Bukarest, drohte den Bewohnern eines ganzen Landes hinter dem Herbst schon ein zweiter schrecklicher Winter mit Hunger und Kälte. Am Abend gingen wir, eine Gruppe deutschsprachiger Schriftsteller aus Rumänien und aus der Bundesrepublik, durch schwachbeleuchtete ausgestorbene Straßen zum letzten Restaurant der Hauptstadt, das seinen Gästen Essen nach der Karte anbieten konnte. An der Musikkapelle, an Runden von Ausländern, einheimischen Schiebern und hohen Funktionären vorbei wurden wir in den hinteren Teil des Saales geführt, der lange Tisch, an den wir uns setzten, stand bald voller Bierflaschen, es lagen Zigarettenpackungen, Feuerzeuge, Gedichtbücher da, ein kleiner Haufen aus Geldscheinen entstand, das war unser Viertagegeld vom rumänischen Autorenverband, das wir verpraßten. Und bei aller Zurückhaltung im Fragen und Urteilen, die uns gerade Angekommenen in diesen ersten Stunden gut anstand, gab es, was es beinahe immer gibt, wenn Schriftsteller unter gegenseitiger Achtung des literarischen Handwerks zusammensitzen: das aufmerksame freundschaftliche Gespräch.
An jenem Abend im Restaurant Bucureçti habe ich Rolf Bossert kennengelernt, aus allem, was er sagte, hörte ich die starke Anspannung heraus, unter der er stand. Vor eineinhalb Jahren hatte er einen Antrag auf Auswanderung gestellt. Seitdem war ihm jede Veröffentlichung im Land verwehrt. Schon einmal hatte der Sicherheitsdienst Schläger auf ihn losgelassen, jetzt sprach er von seiner Angst, eines Morgens tot im Tümpel vor dem Haus zu liegen. Wie unter solchen Bedingungen leben, schreiben vor allem.
Damals kannte ich seine Gedichte noch nicht. Aber auf dem Rückflug gab mir einer der Mitreisenden den im Vorjahr erschienenen Band, auf den Vorsatz hatte Rolf Bossert eine Widmung geschrieben. Ich las die Gedichte im Flugzeug. Unter uns die Karpaten, die Donau. Während wir uns weiter und weiter von Rumänien entfernten und dabei die trostlosen Bilder des Mangels und der Überwachung mitnahmen, hörte ich einem Dichter zu, der immer deutlicher und eindringlicher zu mir redete und mich immer mehr erstaunte und faszinierte.
Dann, zwischen den Jahren, ein Anruf aus Berlin, von gemeinsamen Freunden, Rolf Bossert war mit seiner Familie einen Tag vor Weihnachten in Nürnberg eingetroffen. Im Gepäck hatte er, als er bei uns ankam, die Gedichtbände siebensachen und Neuntöter, 1979 und 1984 in Rumänien auf Deutsch erschienen, sowie zwei Kinderbücher. Vor allem gab es die neuen unveröffentlichten Gedichte und, aus dem Bewußtsein heraus, endlich im zentralen Gebiet seiner Sprache zu sein, eine Zuversicht auf künftiges Schreiben. Es sah so aus, als habe er sich in Sicherheit gebracht, als sei ihm die Flucht von einer sich durch Auswanderung rasch verkleinernden deutschen Sprachinsel gelungen, die Rettung aus drückendsten materiellen Verhältnissen geglückt, als habe er sich einem Regime entziehen können, das ihm kurz vor der Abreise noch einmal fünf Mann zur Haussuchung auf den Hals schickte, und als sei er dabei, sich in einer Zone normaler Mühen des Alltags am Schreibtisch niederzulassen.
Diesen Eindruck jedenfalls hatte ich bei unserer zweiten Begegnung, Anfang Februar diesen Jahres in Berlin. Ich saß neben ihm in der Gesprächsrunde der Schriftsteller, während des Treffens im Literarischen Colloquium, ich hörte abends zu, wie er dem übervollen Saal seine Verse vorlas. Dann haben wir bis in den Morgen hinein in der Küche des Hauses am Wannsee gestanden und miteinander geredet, über seine Kinder, den kommenden Gedichtband, die Pläne der Familie, sich das Leben in der Bundesrepublik einzurichten.
Eine Woche später war Rolf Bossert tot. In einer kalten Winternacht hat man ihn vor dem Haus in Frankfurt gefunden, in dem er mit seiner Familie fürs erste untergekommen war. Er lag unter einem Fenster, das offenstand. Mit dem, was er jahrelang an Druck und Menschenverachtung in Rumänien erlebt, was er acht Wochen hindurch bei uns als Mischung aus Rasanz und Unverbindlichkeit gesehen hat, mit der gewalttätigen Aufforderung auch, die unsere Art zu leben für jemanden in seiner Lage darstellt, ist er nicht fertiggeworden, zwischen Aufbruch und Ankunft der Absturz, unsere Kraft wäre nicht größer gewesen.
3
Mit diesem Tod hat sich der vorschnelle gnadenlose Schlußpunkt unter sein Werk gezwängt. Es wird keine neuen Sätze, keine anderen Gedichte mehr geben. Ein Sprechen, ein Schreiben ist abgebrochen, mitten in der Zeile, im Wort, hier die Bücher, dort der Nachlaß, wir blättern und lesen und lesen uns fest und hören die unverwechselbare Stimme wieder, voll Trauer über den Abbruch und dankbar für das, was wir in Händen haben.
4
Vom geographischen Rand aus hat Rolf Bossert, der wie alle rumäniendeutschen Schriftsteller dem Zentrum seiner Sprache und Literatur nur auf langen Wegen, nur durch verletzliche Fäden verbunden war, unsere Poesie um einen eigenartigen wichtigen Beitrag bereichert. Dieser Beitrag besteht, wie das vorliegende Buch zeigt, aus drei Teilen, nämlich den Gedichten siebensachen, den Gedichten Neuntöter und den anschließend entstandenen Texten. An ihnen lassen sich Stufen einer Entwicklung des lyrischen Sprechens, der Bilder, der Formen ablesen, die für mich nicht nur Ergebnisse von mehr als zehn Jahren Arbeit am Schreibtisch, sondern auch Folgen von Veränderungen der Lebenssituation, Auswirkungen einer weitergegangenen Biographie sind.
Die Gedichte des Bandes siebensachen hat Rolf Bossert im Alter zwischen zwanzig und sechsundzwanzig Jahren geschrieben. Sie heißen „aus meinem leben“, „wochenendreinemachen“, „hinterhof im januar“, „hühnerküche“ und „zugfahrt durchs prahovatal, 2“. Schon die Titel reißen das Thema Alltag an und deuten auf Bruchstücke aus der Geschichte eines jungen Mannes und Schriftstellers, der in den siebziger Jahren einen Platz im Land Rumänien, in der Gesellschaft des Landes zu finden versucht, auf dem sich leben, von dem aus sich sprechen ließe.
Beispielhaft in dieser Richtung ist das Prosagedicht „aus meinem leben“, das siebenundsiebzig entstanden ist, zu einer Zeit, in der Gudrun und Rolf Bossert Deutschlehrer in Buşteni waren. Erzählt wird von den wahrhaft kafkaesken Verhältnissen in der Gemeinschaftswohnung, in der dem Ehepaar, das damals bereits zwei Kinder hatte, zwei Räume zur Verfügung standen; „das kleine zimmer ist sieben komma siebenundachtzig quadratmeter groß das große zimmer ist neun komma achtundachtzig quadratmeter groß“, können wir lesen. Die übersteigernde Bekräftigung der niederdrückenden Situation aber liegt in der Tatsache, daß ein weiteres Zimmer der Wohnung, das größte, aus völlig unerfindlichen Gründen die meiste Zeit des Jahres leersteht und nur einige Wintermonate lang von zwei fremden alten Leuten bewohnt wird, zu denen „an wochenenden unbekannte familien mit kindern“ kommen. Und dabei hat gerade dieses Zimmer einen Balkon, auf dem der Schriftsteller, der atemberaubenden Enge seiner Kammern entwischt, zumindest im Sommer arbeiten könnte… Eine Momentaufnahme also, ein literarisches Dokument.
Rolf Bossert beschränkt sich freilich nicht auf exemplarische Notate. Im Gedicht „hühnerküche“ finden wir ein „stilleben“ behauptet, „das große messer unter dem tisch“, in dem sich „der ängstliche blick“ eines Huhnes spiegelt. Dann ist das Tier geschlachtet, das Stilleben wird weggeräumt, wir bekommen gezeigt, was hinter ihm versteckt war:
der mord bringt leben ins bild
Das ist nicht die Abbildung des Alltags, das ist seine eindringliche Befragung.
Fünf Jahre nach siebensachen erscheint ein weiterer Band, er trägt den Titel Neuntöter. Aus der Einleitung, die Rolf Bossert den mehr als achtzig Gedichten mitgibt, erfahren wir, daß der „muntere und singfähige Vogel“ für einen „Spottvogel“ gehalten wird, daß Brehm und andere Fachmänner der Einordnung ihm manch Schlechtes nachgesagt haben und daß der Autor das nach langer Verfolgung selten gewordene Wesen Neuntöter in Schutz nimmt, als Verwandten.
Richtig enthält das Buch Stücke, die mir in ihrer Mischung aus Hohngelächter, Zähneknirschen und Schluchzen wie die Lieder eines sehr bedrängten Spottvogels vorkommen. Ich denke an „Gartenlokal“, „Ballade vom guten Verlierer“ und an das „Lied für Frank“, in dem es heißt:
Siehst du, Kind, den tiefen Schacht?
Der ist für die Tage.
Uns bleibt eine lange Nacht
Ohne Lot und Waage.
Darüberhinaus habe ich in Rolf Bosserts zweitem Lyrikband einige der strengsten und genauesten Verse gefunden, die ich kenne, „Hälfte des Tages“, „Mein schönstes Ferienerlebnis“, „Neuneinhalb / Viertel nach zehn“, „Heimweg“, „Rosettiplatz“, „siebzehn Uhr“.
Es sind Gedichte der Konzentration, der Anspannung, in ihnen werden die Details und ihre Bedeutung, Wirklichkeit und Wahrheit, mit derart panischer Energie aufeinanderzugetrieben, daß man den Eindruck bekommt, hier habe jemand um sein Leben geschrieben. Das Ergebnis ist, wie im Gedicht „Vierzeiler“, das in vier knappen Versen die Lügen einer ganzen Despotie abtut, von erbarmungsloser harter Schönheit.
VIERZEILER
Auf hellem Feld ein Gartenzwerg.
Daneben stampft die Industrie.
Ein Kunststoffgalgen auf dem Berg.
Ein Land geht langsam in die Knie.
Dann war der Band Neuntöter endlich erschienen, Rolf Bossert stellte einen Antrag auf Übersiedelung in die Bundesrepublik, er verlor die Anstellung als Verlagslektor und durfte keine Texte mehr veröffentlichen, seiner Frau, Kustodin am Literaturmuseum, wurde das Gehalt gekürzt, eine von oben verordnete Zeit des elenden Alltags und des freien Sprechens bricht an. Rücksichten beim Schreiben muß er nicht mehr nehmen. Denn was jetzt noch aufs Papier kommt, in Bukarest, wird in Rumänien für den Druck nicht mehr geprüft, wird in Rumänien nicht mehr veröffentlicht werden.
Auch unter den Texten des Nachlasses gibt es die klaren durchgearbeiteten Gedichte, die mir Neuntöter so wertvoll machen. Sie heißen hier „Karpaten“, „gekrümmt“, „Gespräch mit einem toten Dichter“, „Elegie“, ich halte sie für vollendet.
Aber es kommt mir so vor, als sei es Rolf Bossert in den vielen Monaten des Wartens nicht in erster Linie um solche Endfassungen, sondern vor allem um eine literarische Entfesselung gegangen. Die Mittel der Verdichtung, der Verschlüsselung, das Muster aus Bild und Gegenbild, sind kühner eingesetzt, wie Liebesgedicht in eklektischer Landschaft, Monolog eines Whiskyglases in arktischem Umfeld und Nostalgie zeigen.
Rolf Bosserts eindrucksvolles Bemühen, eine andere zusätzliche Art lyrischer Sprache zu entwickeln, hängt für mich aufs engste mit der überdehnten Lage zusammen, das eine Land verlassen, das andere noch nicht gefunden zu haben. Sein Tod hat die doppelte Suche, den zweifachen Versuch abgebrochen und damit die Selbstbeschreibung aus Neuntöter schrecklich bestätigt:
SELBSTPORTRÄT
Ich schreib mir das Leben
her, schreib mir das Leben weg.
Guntram Vesper, Vorwort
Ausgerechnet die Bildzeitung war’s, die Rolf Bossert, den gerade erst aus Rumänien Zugezogenen, zum volldeutschen Dichter ernannte. „Deutscher Dichter sprang aus dem Fenster“, so die Schlagzeile nach Bosserts Tod. Rolf hätte, wie ich ihn kenne, die makabre Ironie des Augenblicks höchst poetisch gefunden, ich habe sein bitteres Lachen im Ohr. Ach, BILDs unvergleichliche Schlagzeilenkunst! – Auf’ Halbmast Hölderlin „im Winde / klirren die Fahnen“.
Einen Monat war Rolf Bossert in der BRD, als er nach Berlin zu einer Schriftstellertagung Die Uneinigkeit der Einzelgänger fuhr. Auf einer Postkarte nach Bukarest schrieb er mir wenige Tage vor seinem Tod, Berlin erinnere ihn an Reschitza, er fühle sich hier – „lach nicht“ – geborgen.
Reschitza ist der Geburtsort des deutschen Dichters, und es ist keine deutsche Stadt; auch nicht im weitesten Sinne, wie etwa die deutschen Städte Siebenbürgens. Ebenso wenig ist Reschitza jedoch eine rumänische Stadt – obwohl sie, seit 1918, in Rumänien liegt; oder eine tschechische, slowakische, polnische Stadt – obwohl Tschechen, Slowaken, Polen hier seit langem mit Deutschen und Rumänen zusammenleben. Reschitza hat seinen Charakter nicht von den Leuten, sondern von der Industrie, die da auf den Hängen wächst, vom Eisen. Die Schlote, die Kühltürme, das ganze „stampfende“, qualmende Monstergeschlecht macht sich nicht irgendwo außerhalb, vor der Stadt breit, sondern „thront“ richtig über den ins Tal geduckten Häusern, drückt sie in trübselige Unscheinbarkeit. (Ideale Filmkulisse für einen Aufklärungsfilm über die frühkapitalistische Sklaverei. Mister Dickens läßt grüßen, Hard Times. Atmen bitte nur auf eigene Gefahr, der Umweltschutz wird erst nächstes Jahrhundert erfunden.) Ein kurzer Gang durch Reschitzas Straßen fördert das Nachdenken über die Frage, ob die Industrie nicht vielleicht doch der Erzfeind aller Kultur sei, ihr perfidester, gefährlichster Gegner; gräbt er ihr nicht das Wasser schon ab, bevor sie auch nur ein erstes zartes Würzelchen ausstreckt? Wie sonst wäre diese erschreckende Ausdruckslosigkeit zu erklären, die einem hier auf Schritt und Tritt entgegengähnt? Fassaden, Giebel, Fenster, Tore: da ist kein Schmuck dran, da fehlt jeder irgendwie eigen-artige Zug. Die Stadt hat kein Gesicht. Und dann diese merkwürdigen Farbflecke zwischendrin: nebst Schwarz und Grau hauptsächlich ein tintig schmutziges Blau und ein paar ebenso triste Grüntöne (von Gift bis Galle, sozusagen). Über Vorlieben und Geschmack der Bewohner verraten sie nichts, können sie nichts verraten, sie sind ganz eindeutig nach anderen als ästhetischen Kriterien gewählt: schlichte Schutzfarben, ins Bild gekleckst unter dem Diktat des Eisens, des empfindlichen, rostanfälligen Monopolherrn. Hier ein grünes Tor, dort ein blaues Becken, drüben ein schwarzer Zaun. Alles klotzig, roh, die Hüttenindustrie beglückt die Bürger mit Abfällen, erniedrigt sie mit Almosen, hat alles fest im Griff. Bis in den Tod hinein, wie man sehn kann, denn auch der Friedhof leuchtet schwarzblaugrüngesprenkelt vom Berg wie Schimmelpilz, auch die Gräber – viele davon – sind in eiserne Planken gefaßt; damit der Regen sie nicht den Hang runterspült, ganz klar, doch dies war vormals ausschließlich Sache des Steins. Zwischen Steinplatten ruht beispielsweise ein gewisser Herr Zima, der sich allein dadurch ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, daß er das Eisen schmiedete, bzw. schmieden ließ. Seinen vollen Namen braucht sich keiner zu merken, er wird im Gedächtnis der Stadt nicht anders geführt als „der Zima, von dem das schmiedeeiserne Tor am Parkeingang stammt“. – Billiger Ruhm? Hat Zima lediglich das für ihn und seine Zeit Selbstverständliche getan? Dafür ist die Stadt kaum alt genug. Vielmehr dürfte es ein wahres Ereignis gewesen sein, daß man nun einen Park hatte und am Eingang ein hohes, kunstvoll geschmiedetes Tor. Mitten in der Arbeitersiedlung so etwas richtig Nobles! Das sieht nach „Initiative von oben“ aus, als hätte da jemand seine fremdartig bürgerliche Vorstellung von dem, was eine Stadt zu sein hat, mutwillig durchzusetzen versucht. (Man müßte die Ortsgeschichte näher befragen.) Ein „kulturtragendes“ Bürgertum hat es fürs erste sicherlich nicht gegeben; zwischen den (ausländischen) Kapitalisten und dem keineswegs alteingesessenen Proletariat war zunächst mal nichts da als eine dünne Schicht von österreichischen Verwaltungsbeamten. Aber vielleicht markiert die Anlegung des Parks mit dem schmiedeeisernen Tor den Zeitpunkt, da der gesellschaftliche Differenzierungsprozeß weit genug fortgeschritten war, um gewisse typisch bürgerlich-städtische Lebensformen entstehen zu lassen. In diesem Fall hat die Geschichte das hoffnungsvoll aufstrebende Reschitzer Bürgertum zu früh aus der Kulturträgerpflicht genommen – den neuen Kulturträgern nach 1945 fiel kein sehr ansehnliches Erbe in den Schoß. Die neuen Kulturträger, die nichtbürgerlichen, waren nicht die alten Proleten von gestern; die neuen Kulturträger – auf ging’s in die Ära der Tautologien – waren diejenigen, die im Auftrag der neuen Macht die neue Kultur trugen. Und so bekam denn die Arbeiterstadt nicht etwa ein Arbeitergesicht, sondern ganz einfach ein neues. Neu und sonst nichts, und als solches kaum zu beschreiben.
Ich kenne Leute, die seit dreißig oder vierzig Jahren in Reschitza leben, ohne an die Industrie gekettet zu sein, die also ihrem Beruf ohne weiteres auch anderswo hätten nachgehen können, beispielsweise in ihren Heimatorten. Ich habe sie gefragt, was sie an dieser Wüste denn so anziehend fänden, daß sie hier blieben. Und sie sagten mir, das schönste an Reschitza sei die Nähe zur Natur, man habe die Berge vor der Nase.
„…geborgen, wie in der Kindheit.“
Berlin, den 13. Februar 1986.
Vor Rolfs Ausreise ging es in unseren Gesprächen verständlicherweise oft darum, vorwegnehmend die Situation zu umreißen, in die sich einer wie er durch den Landwechsel begab. Modellfälle standen genug zur Verfügung, die von Exilanten, Emigranten und sonstigen Stichwortlieferanten mitgeteilte Erfahrung mußte nur auf die eigenen Verhältnisse bezogen und entsprechend ausgewertet werden. Auf eines dieser Gespräche spielte die eingangs erwähnte Postkarte an, und zwar polemisch – Geborgenheit war ja ein Wort, das wir, wie alle Aufklärungsgeschädigten, nur in Gänsefüßchen als halbwegs brauchbar empfanden. Wir hatten uns damals zunächst gegenseitig ein paar öffentliche Äußerungen ehemaliger Landsleute vorgeführt, die kurz nach ihrer Ankunft im Westen der berauschenden Illusion erlegen waren, hier erstmals voll und ganz zu Hause zu sein. Endlich unter ihresgleichen! Raus aus den unsäglichen, keinem zivilisierten Wesen zumutbaren walachischen Zuständen! – Hinter jedem Wort dieser kryptogermanische Überlegenheitskomplex, der so vielen Rumäniendeutschen die Welt wunderbar einfach und die Minderheitenexistenz zur unverdienten Strafe, zum Dauerfrust macht. Aber vielleicht doch auch, uneingestanden, Angst vor der Heimatlosigkeit: Da werfen sie sich dem „Mutterland“ schnell und stürmisch an die willfährige Brust, um nicht in den Abgrund blicken zu müssen, der zwischen Gestern und Morgen klafft. Und manch einer schafft es, bereits nach wenigen Monaten ein „Wir“ hinauszuschmettern, daß es klingt, als hätte er seit jeher Kruppstahl im Rücken und die harte D-Mark in der Tasche gehabt. Gar keine Frage, unser Fall war das nicht, durfte „unsereins“ nicht passieren. Gut, daß es Gegenbeispiele gab. Sie sollten bestätigen, daß es grundsätzlich möglich war, mit der neuen Umwelt in ein freies, lockeres und produktives Verhältnis zu kommen, zwischen Ghetto und Überangepaßtheit einen Ort zu finden, wo man seine mitgebrachte Biographie sinnvoll „aufheben“ konnte, statt sie eilfertig wegzuwerfen oder verschämt unter den Teppich zu kehren. Ja, sicher, grundsätzlich ging das, theoretisch ließ sich sogar so etwas wie ein Fahrplan aufstellen, um hinzugelangen. Das Schwierige dran: Der Weg führt quer durch die eigene Sprache, und du entdeckst sie als Labyrinth. Verlorenheit, nicht anheimelnde Nestwärme wird die erste Erfahrung auf dieser Reise sein. Und: wer überhaupt je ans Ziel kam, hat Jahre dafür gebraucht.
Der Teufel grinst heute noch schwarz von der Wand, an die wir ihn damals malten.
Hast du Ariadne? Ariadne ist immer gut, wenn’s einen ins Labyrinth verschlägt. Klar hab ich Ariadne, sitzt da im Bersautal auf einem Stein, irgendwo zwischen Bogschan und Reschitza. So? Dann sind ja sicher auch Grass und Bobrowski nicht weit.
Rolf hatte das Banater Bergland tatsächlich im Gepäck verstaut, stillschweigend, geheimnistuerisch, gewissermaßen. Die von Alexander Tietz gesammelte Arbeiterfolklore aus dieser Gegend, ein paar Bücher zur Geschichte seiner Heimatstadt, bei den Gesteinproben zögerte er und ließ sie schließlich liegen. Wir versprachen ihm, sie bei Gelegenheit nachzuschicken:
Wer weiß, vielleicht ist die Kaschubei ja wirklich nur einen Steinwurf von Reschitz entfernt.
Spuren weisen darauf hin, daß im Banater Bergland im Altertum von den Römern, hernach im Mittelalter und in der Türkenzeit spärlicher, primitiver Bergbau betrieben wurde. Aber die eigentliche Berg- und Hüttenindustrie im Banater Montangebiet ist erst nach dem Abzug der Türken durch die Wiener Regierung geschaffen worden. (…) In Bogschan wurde ein Eisenwerk errichtet, in dem das Eisensteiner (Morawitzer) Eisenerz verhüttet wurde (1719). Etwa fünfzig Jahre später (1771) wurde im Zuge der Erweiterung des Bogschaner Eisenwerkbetriebes, zwanzig Kilometer flußaufwärts im Bersautal, oberhalb des alten rumänischen Dörfchens Resita, das Eisenwerk Reschitz gegründet. (…)
Zum Aufbau und Betrieb der Banater Berg- und Hüttenindustrie wurden von der Wiener Hofkammer fachkundige Berg- und Hüttenleute, Schmelzer und Röster, Kupferschmiede, Hammerschmiede, Eisenknechte, Hütten-, Bau- und Pochmeister von auswärts, aus verschiedenen Teilen der Monarchie, zunächst aus der Zips (einer deutschen Sprachinsel in Oberungarn, heute Tschechoslowakei), dann aus Tirol, aus der Steiermark, aus Salzburg, aus Böhmen usw. in wiederholten größeren und kleineren Transporten hereingebracht. Diese aus der Fremde importierten deutschen und tschechischen Facharbeiter bilden den Grundstock der Banater deutschsprachigen Arbeiterbevölkerung (…). Die Tschechen (zumeist Bergleute) sprachen als zweite Sprache schon immer auch Deutsch. An die französischen Fachleute erinnert die einstige Franzosengasse in Reschitz. Zu Erd- und Tunnelarbeiten wurden Italiener herangezogen. Diese und die als billige, ungelernte Arbeiter hereingebrachten Slowaken und Polen bilden eine zweite Kategorie der deutschsprachigen Arbeiter im Banater Industriegebiet. Deutsch war die offizielle Sprache am Arbeitsplatz, in der Verwaltung, beim Militärdienst. Diese Tatsache wie auch das enge Zusammenleben mit den Deutschen, vorzüglich die gemischten Ehen, lassen diese Arbeiter verschiedener nationaler Herkunft zunächst zweisprachig werden; der Großteil ihrer Nachkommen aber nimmt die deutsche Sprache als Muttersprache an.
Die Industrie, die die eingewanderten fremden Arbeiter unter der neuen fremden Herrschaft aufgebaut haben, zieht auch den alteingesessenen rumänischen und den kraschowänischen Bauer der umgebenden Dörfer in ihren Bann. (…) Auf diese Weise verwandelt die wachsende Industrie das Banater Montangebiet zu einem Sammelbecken nach den halbkolonialen Methoden der Zeit ausgebeuteter Arbeitskräfte: es entsteht ein mehr oder weniger homogenes Industrieproletariat. (Alexander Tietz in der Einleitung zu Wo in den Tälern die Schlote rauchen, Bukarest, 1967).
Rolfs Eltern wohnen auf der Strada Castanilor, irgendwann haben hier sicher Kastanien gestanden. Die Wohnung ist eng, Diele zur Wohnküche umfunktioniert, ein Zimmer gehört der Omi, anderthalb der Familie Bossert; kein Bad, das Klo hinten im Hof. Die Hälfte eines Ein-Familien-Hauses (die andere Hälfte ist von Rumänen belegt). Herr Bossert hat rund dreißig Jahre als Beamter beim städtischen Volksrat gearbeitet und ist trotzdem zu keiner größeren Wohnung gekommen. Hier in der Diele hat Rolf seine Schulaufgaben gemacht, der Schreibtisch ist noch derselbe. Frau Bossert war bis vor kurzem Sekretärin in der sogenannten Betonschule, wo Rolf, und später dann auch dessen Ältester, die ersten vier Klassen der Grundstufe hinter sich brachte. Betonschule heißt sie aus keinem andern Grund als nur deshalb, weil das Gebäude der erste Betonbau in Reschitza war. Die Omi, knapp über achtzig, hat bessere Zeiten erlebt. Ihr Mann war Rechtsanwalt. Aber 1949 wurde er von den neuen Machthabern des Ortes verwiesen, innerhalb von 48 Stunden mußte er samt Familie die Stadt verlassen; so blieb das meiste an Möbeln und Hausrat in der großen, standesgemäßen Wohnung zurück. Sechs Jahre saßen Omi und ihr Mann in Bogschan fest und nahmen Rolf gleich nach seiner Geburt in ihre Obhut. Die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte er also meist dort. Rolfs Mutter arbeitete unterdessen aber weiter in der Betonschule, so daß es ein ständiges Hin-und-Herfahren gab. Rolf war ein äußerst schwaches, anfälliges, gefährdetes Kind, man hatte seine liebe Not, bis man ihn hochgepäppelt hatte. Später dann war er ja ganz gut beisammen, er hat Sport betrieben, Hundertmeterlauf, Rudern. Und er stieg sehr viel in den Bergen herum, die liegen hier ja direkt vor der Nase, in zwanzig Minuten ist man mit dem Auto mitten in der herrlichsten Natur. Aber auch ohne Auto kommt man leicht hin, sonntags pilgert halb Reschitz hinaus, bis Crivaia und weiter. Das ist hier Volkssport. Crivaia? Ja, ein beliebter Ausflugsort, ehemalige Forstarbeiterkolonie, da stehn jetzt Kabanen, also Berghütten und ein paar Hotels. In Franzdorf am Stausee haben die Bosserts ein Häusl, übers Wochenende oder im Urlaub sind sie mit den Enkelkindern oft dagewesen, und auch der Rolf und die Gudrun, seine Frau, sind immer gern hingefahren, wenn sie mal für ein paar Tage aus Bukarest wegkommen konnten. Das war immer sehr schön.
(Lokomotiven Hallen Hohe Öfen
schwarz wie Humor, wie
Galle grün. Den Herrgott
überlistet, an Seinem Tag, mit
Rucksack oder Raki, ein Lied
davon gesungen.)
Von Literatur und Gedichteschreiben war bis gegen Ende der Lyzealzeit keine Rede, die Leidenschaften des Jungen deuteten in eine andere Richtung. Sein liebstes Spielzeug waren Landkarten und seine liebsten Bücher Reisebeschreibungen. Geologe wollte er werden, genauer: Höhlenforscher. Daß es anders kam, lag hauptsächlich – so stellte er selbst es stets dar – an der Begegnung mit einer Gruppe von Redakteuren der Bukarester Neuen Literatur, die im Herbst 1970 eine „Tournee“ durch die (damals) sieben deutschen Lyzeen des Banats unternahmen. Das große Erlebnis, das sie vermittelten, hatte auf den ersten Blick mit Literatur gar nicht sehr viel zu tun. Sie luden zu einem offenen (!), freien (!!) Gespräch ein, über Themen, die die Schüler selbst bestimmen konnten, sie bestanden geradezu auf der Voraussetzung unbedingter Freiwilligkeit und Offenheit, die Schüler durften sogar entscheiden, ob sie ihre Lehrer dabeihaben wollten oder nicht. Was wurde da gespielt? Da wurde unverkennbar Demokratie gespielt, laßt uns bloß nicht drauf reinfallen, wer weiß, was in Wirklichkeit dahintersteckt. Das Mißtrauen saß tief und wich nur ganz langsam der Neugier.
Nachwehen des Prager Frühlings in Rumänien. Hier, aber natürlich nicht nur hier, ging es manchem Intellektuellen nicht in den Kopf, daß der kleine Dammbruch an der Moldau den Lauf der Dinge um keinen halben Grad sollte abgebracht haben von der fatalen Richtung, die dieser Lauf seit – spätestens – Stalin genommen. Die gängigste Interpretation der Ereignisse wurde nämlich von einer anderen Metapher gesteuert (Bilder tun das ja gern): das Rad der Geschichte, hieß es, würden nun selbst die fossilen Kreml-Altstalinisten nicht mehr zurückdrehen können. Man wollte hoffen dürfen, und der Nichtmitmarschierer Ceauşescu ließ hoffen; allerdings nicht sehr lang.
Gerade lang genug immerhin, um einem Mann wie Paul Schuster Gelegenheit zu jener folgenreichen kulturpolitischen Privatinitiative zu geben, die ihn und seine Kollegen von der Neuen Literatur ins Banat und somit auch nach Reschitza führte. Hier, im Banat, hatten sich gewisse Anzeichen einer unprovinziell frischen Geisteshaltung bemerkbar gemacht. Unspektakuläre, nur bei genauem Hinsehn sich offenbarende Verschiebungen im Realitätsbezug Siebzehnjähriger, nicht mehr; abzulesen allein am nüchtern-konkreten, falschen Formzwängen widerstehenden Diskurs einzelner Texte in der Schülerbeilage eines Lokalblatts (der NBZ = „Neue Banater Zeitung“). Daß diese Signale so prompt registriert wurden, daß sie ernstgenommen wurden und in der Folge eine regelrechte Expedition zustande kam, ist unzweifelhaft Schusters und der andern NL-Redakteure Verdienst, doch ohne die nachwirkende Schwungkraft des Jahres ,68‘, ohne den noch lebendigen Zukunftsglauben jener Zeit läßt sich das alles nicht entsprechend begreifen.
Die Schüler machten schließlich begeistert mit, in Reschitza wie in den übrigen Städten. Sie rüttelten unbekümmert an den Gitterstäben der repressiven Schulordnung, rebellierten gegen falsche Autorität, brachten Mißstände zur Sprache, forderten ihre Rechte ein – und bekamen von den hauptstädtischen Gästen, also „aus berufenem Munde“, bescheinigt, daß sie damit richtig lagen, daß kritisches Bewußtsein dringend gefordert sei, Dogmen, Schablonen, Tabus und dergleichen hingegen gehörten unwiderruflich in die Klamottenkiste der finsteren Vergangenheit. Die Lehrer und Schuldirektoren trauten ihren Ohren nicht, der verunsicherte Sicherheitsdienst wird sich wohl (sicherheitshalber) ein paar Namen notiert haben, hielt sonst aber still, die zuständigen Parteibehörden, die die Aktion vor dem Start abgesegnet hatten, waren ebenfalls besser beraten so zu tun als wäre die Sache durchaus in ihrem Sinne gelaufen, und so tickte die Zeitbombe, die da gelegt worden war, eine Weile unauffällig vor sich hin.
Im Mai desselben Jahres (1970) hatte die Neue Literatur ein Themenheft „Lyrik“ herausgebracht, dessen kunstideologische Stoßrichtung ebenfalls vom Bedürfnis nach radikaler Emanzipation aus den proletkultistischen „Schablonen“ bestimmt war. Doch in den Texten ist der 68er Geist kaum zu spüren, jedenfalls nicht unmittelbar. Die tragende Autorengruppe – Leute um fünfundzwanzig, neubackene Hochschulabsolventen zumeist – war 1968 eben bereits anders programmiert. Sie gehörten zu den ersten Nutznießern der rumänischen „Unabhängigkeits“politik, der Politik der „friedlichen Koexistenz“, d.h. der Öffnung zum Westen hin, die unter anderem die Aufhebung des Bannspruchs gegen „dekadentes“ (spät)bürgerliches Kulturgut zur Folge hatte. Sie wollten, in Abgrenzung gegen die „Aktivistengeneration“, vor allen Dingen modern und gebildet sein. Dementsprechend war ihr politisches Interesse gering, denn Bildung war das alternativ „Höhere“ zur Trivialität und Geistlosigkeit der Gegenwart, die Kunst hatte einzig und allein ihren eigenen, „immanenten“ Gesetzen zu folgen, die Sprache mußte „zertrümmert“ oder doch in den Ausnahmezustand gehoben werden, der Lyriker war ein Anachoret. Trakl, Benn, Celan – die wichtigsten Leitfiguren.
Und da kam Brecht aus der Tiefe des Raumes und rannte mit gewaltigem Vorsprung durchs Ziel. Gleich bei den ersten gemeinsamen öffentlichen Auftritten der jungen Banater, die sich, sofern sie sich nicht vorher schon kannten während der „Schüleraktion“ kennengelernt und dann, ein Jahr danach, auf der Temeswarer Germanistik wiedergefunden hatten, tauchte im Hintergrund das kräftige Profil des verschlagenen Dialektikers mit auf und entwertete feixend die hochgradig velleitären Bizarrerien der Weltfremdgeher. Die Partie gewann der erfahrene Lehrmeister aber erst dadurch, daß er dort, im Hintergrund, auch weiterhin blieb; daß er seine Anwesenheit weder verleugnete noch besonders betonte. Der Umgang mit ihm hatte nichts Götzendienstliches. Waren seine literaturtechnischen Erfindungen von Nutzen, so stellte er sie – leihweise – gern zur Verfügung (dann brauchte sie keiner zu stehlen); man bediente sich frei nach Bedarf, doch keineswegs ausschließlich bei ihm. Jeder durfte, mit wem er wollte, vorausgesetzt, es kam was dabei raus. (Und Spaß sollte es natürlich auch machen.) Vor allem gegen die „Konkreten“ hatte er überhaupt nichts (war nicht er es, der sagte, die Wahrheit sei konkret?), aber ebenso wenig störten ihn kleine Flirts mit den Surrealisten. Und die „Absurden“ – haben sie nicht ein recht scharfes Licht auf gewisse katastrophale Verirrungen des menschlichen Geistes geworfen? Und Handke hat auch einiges drauf, wie übrigens noch ein paar andere neuere und ältere Österreicher. Die Schweizer nicht zu vergessen, die Amerikaner, O’Hara und Ferlinghetti (und Rolf Dieter Brinkmann), ja, und den Dirty Old Man…
Über all dem wölbte sich wie eine leuchtende Klammer (oder wie ein poppiger Regenbogen) das Wesentliche: das Engagement. Jede nähere Bestimmung wäre gewagt. Nicht weil die Autoren, von denen hier die Rede ist, den Begriff in seiner ursprünglichen westlichen Unbestimmtheit übernommen hätten, sondern im Gegenteil, gerade weil sie das nicht getan haben: sie haben ihn sehr wohl auf die Verhältnisse in Rumänien zugeschnitten – die aber sind bislang taxonomisch nicht klar erfaßt.
Diese Texte hier sind Lehrstücke, obwohl ihr das wahrscheinlich nicht sofort einsehen werdet, sondern vielmehr glauben werdet, es seien Einleitungen. Ihr werdet es kaum feststellen können, daß sich diese Texte schon weit über ihre Einleitungen hinaus entwickelt haben. Ihr werdet Verdacht fassen und nach einer Fabel, Idee, Situation suchen. Ihr werdet Gedankenschlupfwinkel im leisesten metapherverdächtigen Wort und parabelverwandten Satz ausfindig machen wollen. Ihr werdet Anspielungen, Zweideutigkeit, eine innere Problematik suchen. Ihr werdet durchschaubare Wirklichkeit vermuten. Ihr werdet glauben, daß ihr euch irrt oder daß sich die Autoren geirrt haben. Ihr werdet zweifeln. Ihr werdet prüfen, vergleichen, Argumente suchen, um diese Texte zu widerlegen. Ihr werdet die Grundabsichten herausfinden und auch diese widerlegen. Ihr werdet behaupten, daß Lehrstücke, die man nicht versteht, keine Lehrstücke sind, daß Lehrstücke, die man zu gut versteht, keine Lehrstücke sind. Ihr werdet schlußfolgern, daß die Methoden dieser Texte darin liegen, daß beliebige Texte als Lehrstücke ausgegeben werden, um die Lehrstücke von beliebigen Texten zu unterscheiden. Ihr werdet zufrieden sein, daß ihr vieles auch so gedacht habt, wie es hier steht. Ihr werdet herausfinden, daß hier vieles nicht steht, was ihr denkt. Ihr werdet unzufrieden sein, daß die Autoren euch viele kritische Gedanken vorweggenommen haben. Ihr werdet die Texte ablehnen, ihr werdet darüber lächeln, ihr werdet sie loben, ihr werdet nichts darüber sagen können. (Anton Sterbling, NL 11/1972; es handelt sich um den Vorspann zu einer ersten Textmontage der „Aktionsgruppe Banat“, die dann allerdings, anders als geplant, nicht unter diesem Firmenschild und zusammen mit Texten anderer, gruppenfremder Banater Autoren erschien. Überschrift: Übungen für Gleichgültige.)
Die Konstruktion dieses „Ihr“, das hier, überzogen kanzelrednerisch, einem weithin unsichtbaren Publikum gilt, gab den literarischen Äußerungsformen der „Aktionsgruppe“ ihr typisches Gepräge. Man war auf der Suche nach einem Partner, nach Solidarisierungsmöglichkeiten im Widerstand gegen die institutionalisierte Lüge, gegen den schamlosen Mißbrauch des „Volksmacht“gedankens zur Erstickung jeder Lebensregung im Volk, gegen die Pervertierung sämtlicher Kategorien des „Systems“; und wußte doch zugleich, daß kein Weg über den Textrand hinaus, in die sogenannte Realität führen würde. Die Kommunikationsbrücken waren teils von der offiziellen Phraseologie besetzt, teils hatte man sie, zum Schutz vor tödlicher Redundanz, selbst abgerissen. Und außer den berufsmäßigen Lauschern hörte zudem sowieso keiner hin, wenn da ein kleiner deutscher Spinner dem „Sozialismus“ linksutopisch die Leviten las. Die Sachsen und Schwaben fühlten sich für die „walachischen Zustände“ nicht zuständig, und die Rumänen konnten erstens nicht deutsch und brauchten zweitens Marx und seine kommunistische Utopie als Prügelknaben (wer sonst sollte denn schuld sein an dem ganzen Elend?). – Kritische, aufs öffentliche Bewußtsein zielende „engagierte“, „progressive“ Literatur machen, in derart schalldicht abgeschlossenem Raum? Witz und Aberwitz: Ironie total. Ich glaube nicht, daß es in Rumänien seit dem Machtantritt der KP etwas Vergleichbares gegeben hat, irgendeine Ecke in der Literaturszene, wo so unverkrampft frech, so einfallsreich schlitzohrig, so virulent wie hier, in diesem schalltoten Winkel, „produktiver Widerspruch“ (V. Braun) vorgetragen worden wäre. Drei Jahre lang ging das so hin. Dann verlor der Staat die Geduld und zeigte die Instrumente. Sicherheitshalber. Vielleicht sprang ja doch mal ein Funken über.
Rolf Bossert war 1975 nicht dabei, als es geschah. Ihn traf die Nachricht in Buşteni, wo er gerade seine Lehrerstelle angetreten hatte: Vier seiner Freunde unter fadenscheinigem Vorwand verhaftet! Zehn quälend lange Tage der Ungewißheit. Schock und Verstörung. Aber auch – unausbleiblich, ununterdrückbar – sowas wie gesteigertes Selbstbewußtsein: Ende der Narrenfreiheit, jetzt wird es ernst.
Wenn wir später gemeinsam die Entwicklung überblickten, die mit der – ja doch erstaunlich mühelosen – Zerschlagung der „Aktionsgruppe“ begann und den Exodus (auch) dieser Schriftstellergeneration einleitete, so pflegte Rolf von Zeit zu Zeit punktierend eine Verszeile seines geliebten Theodor Kramer einzustreuen:
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.
Er sprach damit die Schwierigkeit an, die subtileren Repressionstechniken des Regimes namhaft zu machen und nachvollziehbar zu vermitteln. Auf die Frage, was „man“ ihm (und den andern) angetan habe, läßt sich nicht viel erzählen, bzw. es müßte in ganz engmaschig detailbesessener Prosa beschrieben werden, wie der Alltag eines Schriftstellers, eines kritischen zumal, im Ceauşescu-Staat aussieht; wie der Schriftstellerverband lahmgelegt wurde (nicht etwa aufgelöst, wie in Polen: das spränge ins Auge), welch methodischer Wirrwarr in den Verlagen herrscht, die offenbar genau berechnete Unberechenbarkeit der Zensur, die systematische Verunsicherung in allen Bereichen, das bedrohliche Schattenspiel der Gewalt, bevor sie wirklich zuschlägt: kaum greifbar, das alles, und dennoch – oder gerade deshalb – unheimlich effizient.
Was für einen deutschen Autor hinzukommt: das unaufhaltsame Zusammenbrechen des kulturellen Gefüges, das, wie auch immer, „Heimat“ war, wo neben vielem Unbedeutenden sich doch auch manches Bedeutende für die Zukunft aufgehoben wissen konnte; das (wie auch immer) „Nachwelt“ versprach. Zusehn zu müssen, wie die Welt, der man entstammt, der „Geschichtslosigkeit anheimfällt“ (Celan), ist gewiß nicht jedermanns Sache.
„Es ist verdammt schön, als weiche Seele mit den Harten der Welt im Kampf zu liegen. Und wir ,Weichen‘ kämpfen am schönsten“, schrieb Robert Walser in einem Brief. Ja, doch erkämpft sich nicht jeder die Unsterblichkeit.
Gerhardt Csejka, Hamburg, 2.6.1986, Nachwort
CORAM PUBLICO
für Rolf
Stramm stehen Lücken geschlossen
In Reih und Gliedmaßen. Es dröhnt
Gewaltig, Genossen, über den geschorenen
Rasen der Titan am Xylophon.
Hineingeboren schreiben wir genervt
Mit kalter Tinte dem Staat. Und Gedichte.
Schreiben uns die Schubladen hinter
Die Ohren, schwer wie Gewichte
Schreiben wir uns auf
Und davon, schreiben das Land leer.
Vor der Oper flattert im Winde die Wurst.
Horst Samson
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag des Autors.
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung (online) zum 35. Todestag des Autors.
Auf den Treppen des Windes: Eine lyrisch-musikalische Hommage auf Rolf Bossert. Aufführung am 14.10.2021 im Deutschen Staatstheater Temeswar.
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