WAS MAN MAN DEM WORT „MACHEN“ ALLES MACHEN KANN
(Ein Konjugationsmodell)
ich mache
aaaaazwar noch immer Gedichte & Liebe aber
du machst
aaaaaes mir manchmal wirklich schwer
er macht
aaaaasich elegant aus dem Staub
sie macht
aaaaasich nichts draus
es macht
aaaaanichts
wir machen
aaaaauns doch nicht vor so hieß es immer doch
ihr macht
aaaaaeuch mal wieder lächerlich
sie machen ja doch was sie wollen
Eine Mitteilung aus der Praxis
für Gudrun
Dieser Text ist ein Versuch, die Entstehung eines bestimmten Gedichtes unverfälscht zu rekonstruieren. Vor mir liegen vier Blätter mit handschriftlichen Entwürfen: Ich werde sie im Folgenden vollständig zitieren – nichts Plattes oder Skurriles wird verborgen, nichts Abwegiges ausgespart. In meinen Kommentaren war ich bemüht, Eingriffe, die während der Niederschrift der Entwürfe eher halb bewusst vollzogen wurden – einzelne Streichungen, Umstellungen usw. −, im Nachhinein nicht als eindeutig bewusste auszugeben. Aus diesem Grund können die Notate den Eindruck von Unfertigem erwecken. Hätte ich daran gefeilt – in der besten Absicht, so präzise, differenziert und authentisch wie nur möglich zu berichten −, wäre ich kaum der Gefahr entgangen, nachträglich einiges hineinzuinterpretieren. Ich hätte, von der Warte des abgeschlossenen Gedichts, seinen Entstehungsprozess so wiedergegeben, wie er nie stattgefunden hat. Die Rekonstruktion eines Vorgangs, dessen Komplexität ich nur andeuten kann, wäre einer Selbstinterpretation gewichen. Es lag mir jedoch nichts daran, mein Gedicht oder gar mich zu erklären.
Auch werden Verallgemeinerungen weitgehend fehlen. Ich sage nicht: „So entstehen meine Gedichte“, sondern: „So entstand dieses bestimmte Gedicht.“
1
Ich werde viel vom (poetischen) Bild sprechen, ohne es zu definieren. Wichtiger scheint mir eine andere Feststellung: Einem Bild geht immer ein Eindruck oder ein Bündel von Eindrücken voraus. Dabei müssen es nicht die jüngsten Eindrücke sein, die sich zu einem Bild konstituieren. Eindrücke können sich überlagern, können verschüttet und konserviert werden, können sich in ihr Gegenteil verkehren: Sie aus dem Bild filtern zu wollen, ist so gut wie unmöglich. Sein Konstituierungsmechanismus ist – ich komme da über eine Binsenweisheit nicht hinaus – viel zu kompliziert. Weshalb habe ich die „Eindrücke“ ins Gespräch gebracht? Weil ich nicht glaube, auch wenn es am Ende meiner Ausführungen so scheinen könnte, dass es „pure Schreibtischtäter“ gibt. Vor etwa einem Monat setzte sich in meinem Kopf eine Wortgruppe fest. Sie erschien mir poesieverdächtig. Um sie nicht zu vergessen, schrieb ich sie noch am selben Tag auf ein Zettelchen: die schwarzen Hoden der Nacht. Ein Bild war geboren. Es weckte in mir die vage Vorstellung von etwas befruchtend Bedrohlichem oder bedrohlich Befruchtendem. Zwei Wochen später hatte ich den Zettel verlegt oder verloren, doch das Bild war geblieben. Manchmal fiel es mir ein, dann sagte ich es mir in Gedanken einige Male auf. Damals übersetzte ich einen Aufsatz über Blaga ins Deutsche, es waren auch Zeilen aus Blagas Gedichten wortwörtlich zu übertragen. Darunter jene bekannten, in denen er die schwarzen Augen der Geliebten mit einem (Ur-)Quell vergleicht, „aus dem geheimnisvoll die Nacht fließt“ und sich über Ebenen und Täler ergießt. Sofort war „mein“ Bild präsent. Fließen, sich ergießen: Sind die Hoden nicht auch eine Quelle? Eine durchaus traditionelle Auffassung des Bildes.
2
Unabhängig davon habe ich auf ein leeres Blatt (Ab nun: „Wolkenblatt“) als in Frage kommenden Baustein für ein Gedicht geschrieben: In den Wolken liegt ein Kamm. Eine eher absurde Banalität, zur Niederschrift bewogen hat mich wahrscheinlich der Rhythmus. Und zwei-drei Tage später, ohne irgendeine Verbindung herzustellen, auf dasselbe Blatt: (Echte) Radikalität ist immer banal. Das schien mir der Embryo eines Aphorismus zu sein, der Ausgangs- oder Endpunkt eine Gedankenganges. Wiederum später – die veränderte Schrift zeigt es – kamen zwei weitere Notizen aufs „Wolkenblatt“: die Innentreppe der Seele und die stachlige Stadt – die Distelstadt.
3
Um eine Zeit setzte ich mich vor die spärlichen Notizen des „Wolkenblatts“ und versuchte, mit ihnen etwas anzufangen. Vielleicht ließen sich die ersten beiden Aufzeichnungen zusammenbringen, das Wolken-Bild und die Radikalitäts-„Weisheit“? Wichtig war der Akt des Aufschreibens, weniger als Finger-, eher als Gedanken(?)übung, als Überprüfung einer Haltung, als Spiel, wer weiß? Das Resultat steht hier, es gilt nichts:
Schwarzweiß will er’s haben.
Er liefert das schwarze Objekt
ich die Sprache dazu:
In weißen Wolken liegt ein Kamm.
Blumig, blutig und banal.
Und am Ende radikal.
Schwarze Welt, frei haus:
Weiter schaffte ich’s nicht. Ich war auf dem Holzweg.
4
Damit meine weiteren Ausführungen verständlich bleiben, will ich auf ein älteres Gedicht zurückgreifen:
NACHTSTÜCK
die Frau sich
der Mond denkt
das gelbe Gehirn
der Nacht das Kind
die lange Wolke
unter der Achsel
da der Frau die
Lektüreerfahrungen (Expressionisten, deutsche Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre, französische Surrealisten) und anschließende Reflexionen führten dazu, dass mir das Problem des BiIdes immer wichtiger wurde. Auch empfand ich die Notwendigkeit einer Veränderung der eigenen Schreibweise. Doch bloß so „bildhafte“ Gedichte schreiben, das haben schon andere gemacht und sehr gut gemacht. Was bot sich an? Eine Konfrontation des Metaphorisch-Bildhaften mit anderen Sagweisen, auch wenn sie miteinander scheinbar unvereinbar sind. Man kann einzelne Techniken der Konkreten Poesie nutzen, das habe ich im „Nachtstück“ versucht. Darin gibt es zwei klassische Bilder, ein leicht nachvollziehbares („der Mond… / das gelbe Gehirn der Nacht“) und ein etwas ausgefalleneres („das Kind / die lange Wolke / unter der Achsel!… der Frau“). Daneben gibt es jedoch Sprachauflösung, -zerstörung, so z.B. bleibt eine reflexive Partikel ohne Reflexivverb und dadurch ein Subjekt mit der Andeutung eines Prädikats oder, wenn Sie wollen, mit einem „falschen“ Prädikat („die Frau sich“). Durch Enjambement, Verzicht auf Interpunktion und andere handwerklich-poetische Tricks erscheinen unlogische Gruppierungen wie „der Nacht das Kind“ oder „da der Frau die“, wobei die letzte Zeile den Kreis zum Anfang schließen kann oder auch nicht. Doch ich will das „Nachtstück“ „nicht selbst interpretieren, sondern bloß zeigen, worum es mir dabei ging: um das Einbetten des traditionellen, ,schönen’ Bildes (nach dem Surrealismus gibt es keine ,neuartigen’ Bilder mehr) in einen neuen, ungewohnten Kontext.“
(Erst bei der Abfassung dieser Überlegungen bin ich darauf gekommen: die schwarzen Hoden der Nacht – dieses Bild habe ich von mir selber gestohlen! Das Schema von „das gelbe Gehirn der Nacht“ wurde – unbewusst bis ins Detail übernommen (Farbe – Körperteil- „Nacht“, Genitiv). Unüblich ist so etwas nicht. Eine Erfahrung, ein Eindruck, eine Empfindung kann sich aufspalten, in mehreren Bildern versprachlichen.)
5
Das im 3. Abschnitt geschilderte Experiment war gescheitert. Ich wollte jedoch ein Gedicht machen. Die schwarzen Hoden der Nacht – das Bild war plötzlich wieder da. Ich versuchte, an den entstehenden Text ähnlich heranzugehen wie an das „Nachtstück“, nach dem Motto: Wie man ein Bild bettet, so steht es. Diesmal wollte ich harte Brüche; eine Art Story, eine Anekdote sollte erzählt werden, eine unlösbare Situation in einem epischen Gerüst dargestellt. Die „lyrischen Dinge“ hätten sich im Kopf dessen abzuspielen gehabt, der mit der für ihn unlösbaren Situation als Protagonist konfrontiert wurde. Ich schreib unten aufs „Wolkenblatt“:
Der Lehrer rief R. an die Tafel / drückte
ihm eine weiße Kreide in die Hand /
u. forderte ihn auf /
einen Blutstropfen zu zeichnen.
Die schwarzen Hoden der Nacht
Veilchen Veilchen
Ich möchte das nicht kommentieren. Zu bemerken wäre bloß, dass ich die Zeilen 5 und 6 durch einen Pfeil zwischen die Zeilen 1 und 2 rückte. Dabei blieb es vorläufig.
6
An einem der darauf folgenden Tage kam auf die Rückseite des „Wolkenblattes“ etwas zu stehen, das gewiss im Alkoholrausch hingeschrieben wurde, denn: a) ich kann mich an die Niederschrift nicht erinnern; b) die Schriftzüge sind kaum zu entziffern; c) Politisches und Sensuelles äußert sich, in typischer Verkrampfung, dennoch recht ungehemmt; d) die Kohärenz fehlt vollkommen.
Durch die Wolken den Kamm
ich Nichtparteimitglied
spät später spätersten / sic! /
u. die Hoden der Nacht,
gekämmt. Es lebe mein
Vorurteil: Zitze und
Bunte Haut.
Opposition der Stalinisten
St. Gegenüber-
dem Väterchen???
aaaaaaaaaVaterfigur, ha?
Interessant: Die beiden Bilder (Wolke/Kamm: Hoden/Nacht) werden zum ersten Mal zusammengebracht.
7
Vor einer Woche setzte ich mich an den Schreibtisch, nahm mir ein neues Blatt vor („Lehrerblatt“) und rekapitulierte:
Der Lehrer rief
R. an die Tafel /
Die schwarzen Hoden der Nacht
Veilchen Veilchen
Drückte ihm eine Kreide in die Hand /
Und in den Wolken liegt ein Kamm −
Und forderte ihn auf /
einen Blutstropfen
Hier merkte ich endlich, dass es auf diese Weise nicht ging. Die letzte Zeile ist durchgestrichen, darunter habe ich hingeschmiert: Blumig, blutig und banal. Wenn ich an einem Gedicht arbeite, lese ich die alten Entwürfe immer wieder durch, oft mechanisch, geistesabwesend. Die durch Stabreim gebundene Adjektivreihe hatte sich in meinem Kopf festgehakt als illusionsloser, ironischer Kommentar zu dem erneut misslungenen Anlauf. Ich legte das Blatt weg.
8
19. Oktober. Seit einigen Tagen bin ich mit dem Überarbeiten und Tippen älterer Texte beschäftigt, ein Gedichtband soll demnächst erscheinen. Nach 22 Uhr verbieten mir die Nachbarn das Tippen. Auf die Arbeit mit Gedichten eingestimmt, nehme ich das „Lehrerblatt“ zur Hand. Nach mehrmaliger Lektüre scheint es mir, dass der hemmende Faktor die Dürftigkeit des Skeletts ist, der Story, die die Brüche und alles „tragen“ müsste und dazu außerstande ist. Ich versuche, mir darüber Klarheit zu verschaffen, und schreibe: Der Lehrer war nicht kahl/noch grau, streiche es aber sofort durch. Dennoch geht’s in die Richtung weiter:
Nicht kahl war der Lehrer,
noch grau. Er hatte mir
eine kreideweiße Kreide zugeworfen
u. forderte mich auf, einen roten Bluts-
tropfen zu zeichnen
Und in den nächsten Minuten, schon etwas mehr stilisiert:
Ein Lehrer: nicht kahl,
nicht ergraut. Eine kreide-
weiße Kreide. Der Auftrag:
Zeichne einen Blutstropfen.
Die Lösung: Das Messer.
Es beginnt konsistent zu werden. Doch was geschieht? Ich bin drauf und dran, die Hilfskonstruktion zu einem eigenständigen Gedicht auszubauen, unter Verzicht auf die Bilder, die mich so sehr beschäftigen. Die Sackgasse ist perfekt, doch an ihrem Ende steht eine Einsicht, Die Lösung: Das Messer, sozusagen. Die Lehrerstory wird weggeschnitten, das „Lehrerblatt“ brutal zur Seite gefegt, doch nicht fortgeworfen. Vielleicht wird mal ein Text, ein Gedicht daraus.
9
Ein leeres Blatt muss her. Später wird es zum „Traumblatt“. Vorläufig bin ich jedoch so weit wie vor einem Monat. Die beiden verwertbaren Bilder, befinde/beschließe ich, sind: 1) Die schwarzen Hoden der Nacht, 2) Und in den Wolken liegt ein Kamm. Ich schreibe sie untereinander.
Ich werke am Rhythmus herum, und für einige Augenblicke öffnet sich mir die Aussicht auf einen Vierzeiler, von der Sorte etwa wie der im Juni entstandene, „Wir liegen“ (Wir liegen in einem Bett aus Rauch. / Die Lerche windet sich in der Luft, / ein feuchtes Klingen aus deiner Gruft. / Ich treib dir das Messer, rund, in den Bauch.), den ich für gelungen halte. Doch aus dem neuen Vierzeiler wird nichts:
Schwarze Hoden hat die Nacht,
In den Wolken liegt ein Kamm.
Wenn mein Traum daran erwacht,
Glücklicherweise konnte ich keinen der Reime auf „Kamm“ sinnvoll unterbringen. Denn mit der dritten Zeile – die eher dem Reim auf „Nacht“ und der Assoziation „Nacht-erwachen“ zu verdanken ist als einer „disziplinierten“ gedanklichen Leistung – habe ich ein neues Element, das mir entschieden weiterhelfen wird. Jetzt schreibe ich:
Schwarze Hoden
der Nacht, woran
erwacht mein Traum?
Vorläufig habe ich den Traum an die Nacht gekettet, ich finde das Resultat gut, und sofort placiere ich mein nächstes Bild:
In den Wolken liegt ein Kamm.
Aus irgendeinem Grunde habe ich plötzlich unbegrenztes Vertrauen in die Möglichkeiten der Assoziation (Kammkämmen – Lorelei). Mechanisch „geschieht“ die Zeile:
Lorelei springt hinüber.
Eine kleine Pause, ich lese die letzten fünf Zeilen durch und werde nüchterner: Wohin springt die Lorelei, wie springt sie und warum tut sie’s überhaupt? Die beiden letzten Zeilen müssen umgeschrieben werden:
Lorelei unzüchtig, in den
Wolken liegt ein Kamm.
10
Das Substantiv „Zucht“ ist für mich, in allen seinen Bedeutungen, negativ befrachtet. Das Adjektiv „unzüchtig“ ist es (auch) demzufolge nicht; ich fasse es eher als „wild, leidenschaftlich“ im positiven Wortsinn auf. Die Zauberin Lorelei, die einen Schiffer unters Wasser bringt, ist mir, auch wenn ich sie als kaltblütige Mörderin betrachte – in diesem Kontext eher zu harmlos. Es muss etwas her, das nicht nur einen armseligen Kahn schluckt, sondern alles verschlingen kann, weil es alles geboren hat: das Elementarisch-Weibliche (ich denke halt auch nur in Klischees). Grammatisch gesehen stellt sich die Frage nach einem weiblichen Substantiv, als nicht „der Ur-Ozean“, nicht „das Meer“, nicht „das Wasser“.
Ich streiche Lorelei durch und schreibe Die See darüber. Das war der Durchbruch. Jetzt geschieht vieles fast von allein. Das träge Verb „liegen“ passt nicht zur unzüchtigen, d.h. auch: alles andere denn statischen See. Ich setze „springen“ ein, das Wort findet sich (auf dem „Traumblatt“) nur 2 Zeilen weiter oben! Notgedrungen wird der Dativ (den Wolken) zum Akkusativ (die Wolken).
Die See unzüchtig, in die
Wolken springt ein Kamm.
Das Bild Wolken – Kamm wird sinnvoll und steht endgültig: aus dem Kämm-Instrument ist ein Wellenkamm geworden.
Nun überstürzen sich die Dinge. Die zügellose See gebiert Wort auf Wort und hält paradoxerweise auch meine Gedanken zusammen. Ich hole mir die älteren, „gesicherten“ Elemente herbei – zuerst den Traum; die Hoden der Nacht, die ich als starkes Bild empfinde, will ich gegen das Gedichtende verschieben-:
Woran erwacht mein Traum,
mein enger Traum?
Kontrast: weite, wilde See vs. enger (zahmer?) Traum. Es folgt:
The dragon, Blitze
über die Schulter, salzige
Fracht.
Und fast atemlos weiter, bis auf dem „Traumblatt“ kein Platz mehr ist:
Schleppen(d) das Lied, die Kette.
o schwarze Hoden der Nacht
Stimme im Stein, Schleppendes
Lied, Sandwurm, die Kette.
11
Der untere Blattrand zwingt mich zum Innehalten. Nüchternes Überprüfen. Inventur: Es ist fast alles da, was ich brauche. Was stört, was muss ersetzt werden? The dragon ist fehl am Platze. Ich habe der Versuchung des Exotischen, Ausgefallenen nicht widerstehen können. Und dann wäre noch… Aber dazu brauche ich ein neues Blatt, das vierte, ich nenne es jetzt, nachträglich, „Herdenblatt“, ich ziehe also ein leeres Blatt vor mich und versuche, ein Gedicht zu formen:
Unzüchtig ist meine See, springt
in die Wolken ein Kamm.
Woran erwacht mein Traum,
der enge Traum.
Die Herde, Blitze
über die Schulter, salzige
Fracht. Stimme im Stein,
schleppendes Lied, Sand-
wurm, die Kette.
Ihr schwarzen Hoden der Nacht.
Ich lese den Text durch. Anstelle von mein Traum setze ich der Traum, das empfinde ich nicht nur als ungeheuere Ausweitung: dadurch erhält der Text eine ganz andere Wendung. Und dann müssen die Zeilen 3/4 und 1/2 ihre Plätze tauschen. Und plötzlich ist ein wichtiges Element da: der Titel. In den oberen Freiraum quetsche ich Sintflut. Stimmt nun auch jedes einzelne Element mit dem Titel überein bzw. steht es in einem wie immer gearteten Verhältnis zu ihm? Ich lese das „Herdenblatt“ noch einige Male durch. Darauf steht schon fast ein Gedicht.
12
Ich spanne ein leeres Blatt in die Maschine ein, es ist vielleicht der schönste Moment beim Gedichtemachen. Kleine, bisweilen winzige Änderungen, die so ungemein wichtig sind, weil sie das Gedicht in den Augen des Autors erst zum Gedicht machen, kann man – glaube ich – erst beim Tippen vornehmen. Aber vielleicht sehe ich das bloß so, weil ich mit zwei Fingern tippe. Buchstabe für Buchstabe setzt sich vor meinen Augen folgendes zusammen:
SINTFLUT
Woran erwacht der Traum,
der enge Traum.
Unzüchtig ist meine See, springt
in die Wolke der Kamm
Die Herde. Blitze
über die Schulter, salzige
Fracht. Stimme im Stein,
schleppendes Lied, der
Sandwurm. Die Kette.
Ihr schwarzen Hoden der Nacht.
(19.–20.10.83)
Rolf Bossert, in Rolf Bossert: Ich steh auf den Treppen des Winds, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, 2006
Hellmut Seiler spricht mit Florian Kührer-Wielach über Rolf Bossert, sein Umfeld und den Rolf Bossert-Preis
ROLF BOSSERT
Wer zubeißen will, schweige besser.
Wer hungrig ist, am besten auch.
Wer keinen Ausweg mehr sieht,
kann immer noch in sich gehen.
Märchenstunden sind vor allem
etwas für Normale und Verrückte.
Wer die Angst verschluckt hat,
soll aus dem Wald treten, soll
Vor dem Wald nachsehen gehen,
was seine Angst so ohne ihn treibt.
Peter Wawerzinek
SCHNEEBALLGEDICHT
für Rolf Bossert
Ein Blick aus dem Fenster: Es schneit.
In der Nähe trägt ein Berg geduldig
sein Kreuz, nicht umsonst heißt er
Caraiman, der schwarze Gelehrte.
In dieser Jahreszeit können ihm alle
den Buckel runterrutschen,
wenn sie es könnten. Zehn Tage Urlaub
bei dir in Busteni.
aaaaaaaaaaaaaaaIch habe den Bademantel
zu Hause gelassen, und die Luftmatratze,
auch alle guten Vorsätze und Illusionen.
Daran änderst du nichts, und wenn du
zehnmal sagst, ich habe nicht recht.
Mein schwerstes Gepäckstück
bin ich, das wirst du noch merken,
das läßt sich nicht so leicht
rühren und vor die Tür setzen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaReisen und irgendwo bleiben
ist schwer, aber wenn man’s schon kann, bleibt man
am besten gleich lange, damit auch Zeit
bleibt für das bißchen unverbaute Natur,
fürs Begreifen der Menschen und Gelegenheiten,
für Wodka und lange, unvermeidlich
lange Gespräche. Es ist auch schön
auf den Schnee zu warten, dem man die Kälte
nicht ansieht.
aaaaaaaaaaaAber angesichts von so viel weißem
Belag auf den gefrorenen Wegen
erlaube ich mir heute einen schwarzen Blick
auf die beladenen Tannen
vorm Fenster.
aaaaaaaaaaaEin langer Satz,
und ich wollte bloß sagen, daß wir
die Beladenen sind; und auch jene fünf Zeilen
sind nichts als ein Maß für das Gewicht
unserer Last.
aaaaaaaaaaaLies weiter, es soll nicht elegisch
klingen, lies, was du wahrscheinlich
schon weißt und was sicher präziser gesagt werden
müßte, nimm meine gute Absicht
für die Tat: Wir alle mit unseren kleinen, vertanen
oder verratenen Chancen, mit unsren verdrängten
oder bewußten Beklemmungen, mit unsrem abgründig schweren
oder fliegenden Schlaf, wir alle könnten
anders sein.
aaaaaaaaaUnd es hilft
auch nicht mehr, daß ich’s sag.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDiesen Satz las ich
vor drei langen, schneereichen Jahren
in einem Gedicht, das mir gefiel,
und ich frage mich, weshalb
ich, halb schon erstarrt, noch dies Schneeballgedicht
schreibe gegen den unbeirrbar fallenden
Schnee. Ist es vielleicht nur ein Zeichen,
daß wir gar nicht versuchen sollen
andre zu sein, sondern nur unser Leben
zu ändern?
aaaaaaaaaAuch dies wäre
eine der brennenden Fragen unsrer Bewegung,
die jeden auf besondere Art
ergreift, es wäre vielleicht
in möglicher Anfang.
aaaaaaaaaaaaaaaaaAber ich merke es
auch schon, dies Gedicht wird wie
andere, lang. Es ist, wie das Schweigen, nichts
als eine Form der Sprachlosigkeit,
schlimmer noch, als mit Blindheit
geschlagen zu sein.
aaaaaaaaaaaaaaaaWas aber läßt uns
verstummen? Nicht der Schnee
ist es doch, der mir den Mund
verschließt und nur ein entschärftes Parlando
hervorquellen läßt; es ist, sagen wir’s
einfach, was überall auf der Erde
den Menschen den Gedanken umdreht im Kopf,
bevor sie ihn denken, das Wort im Mund
und das Gefühl, das keinen genauen Sitz
hat.
aaaEs ist, es verschlägt mir
die Sprache, es ist die Herrschaft
der Redner über die Sprachlosen, die Herrschaft
jener, die sagen:
aaaaaaaaaaaaaDie Traurigen werden geschlachtet,
die Welt wird lustig.
Nein, ich habe nichts
dagegen, wenn du mehr Klarheit
forderst, aber warte, wir haben ja
Zeit, noch einige Tage, und überhaupt, wer bin ich
denn, daß du mich fragst:
Ich stehe ja auch nur fröstelnd im Nieseln
der Behauptungen, im Matsch
der Erlässe, wie wir alle,
ein kleines Häufchen, uns an den Händen haltend,
um nicht zu versinken im mäßigen
Schnee, der uns den Mund
Werner Söllner
WAS ER IN SEINEM BART HAT
(Rolf Bossert)
Einen Diktator vorm Kinn Donau Karpaten sie winden sich um seinen Hals
dieses Feuerwerk aus Zigaretten kein Haar sengt es an
unterm Mund Nester aus elektronischen Ohren
messerscharf schwingen Mondsicheln vor seiner Kehle im Bart
der sich um Flaschen rankt Tanzschuhe Gott den Paukisten wenns donnert
Stempelkissen
ein Grabstein der mit seinem Namen beschriftet ist als sei er tot
er brennt ja er brennt ja sein Streichholz an
im Gartenlokal einen Fußmarsch vorm Weltall
wringt seinen Bart aus Diktator Karpaten und Pferdefuhrwerke
purzeln zu Boden man kennt seinen Wutausbruch wenn er sie niedertritt mit seinen Hacken zerstampft
bald hockt er im Schlamm
setzt alle Ohren und Mondsicheln wieder zusammen
und weint
Jan Koneffke
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag des Autors.
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung (online) zum 35. Todestag des Autors.
Auf den Treppen des Windes: Eine lyrisch-musikalische Hommage auf Rolf Bossert. Aufführung am 14.10.2021 im Deutschen Staatstheater Temeswar.
Wir Autoren sind alle ein wenig krank, sonst wären wir keine Autoren 😉