PROGRAMMSCHLUSS
Die alten häßlichen Dichter, Reklame für
ein neues Schuhputzmittel, Dreitausendmeterläufer
und Fernsehansagerinnen machen weiter, glänzen
lächeln und murmeln wie ein Stück Scheiße in
der Sonne, das von Maden wimmelt und grinst
morgen, übermorgen, nächste Woche. Aus dem
Himmel fällt der Dreck zurück, und das Essen wird
grau. Ich wasche die Turnschuhe aus, die Ölflecken vom
letzten Sommer, mürrisch und ein bißchen verzweifelt. Dazu
fällt mir van Gogh ein, die Leidenschaft, einfache
Dinge zu sehen, zu tun, sie anzunehmen, und Hunger. Wo
bin ich? Ich blicke mich um. Leute waten im Dunst.
Kinoreklamen. Die Turnschuhe sind über Nacht
getrocknet. Jetzt wate ich selber im Dunst.
Wo ist der Ausgang? Ich sehe ihn nicht
mehr. Vor mir kollert eine Blechdose die
Steintreppe hinunter. Das Geräusch gleicht
dem Geräusch, mit dem Zähne aus einem Gesicht
geschlagen werden, böse, gleichgültig und ohne
Bedeutung. In wessen finsteren Tagtraum habe ich
mich verirrt? In einem billigen Café sah ich heute
Nachmittag eine alte Frau in schwarzem Mantel,
schwarzem Kleid, schwarzen Strümpfen und schwarzen
Schuhen allein mit einer schwarzen Handtasche neben
sich auf dem Stuhl vor einer Flasche Selterswasser
sitzen und unverwandt nach draußen sehen auf Lastwagen,
Volkswagen, Kinderwagen, Straßenbahnen und Busse, die
stinkend vorüberfuhren mit irrem Lärm. Sie mochte
sich sagen, wenn man aufhört zu träumen, ist man tot,
selber schon ein Traum? Solche Bilder füllen den
Tag. Ein ödes Bild. Ein trauriges Bild. Ein Bild,
das leerer ist als die abgeschlagene Hand auf der
Straße, vor dem verträumt ein Mädchen steht wie in dem
Film von Buñuel, genauso traurig, öde und leer wie
das Rascheln der alten Männer nachmittags in einem
Park, die dort herumschleichen und hinter Aktentaschen
ihre schlaffen Glieder zeigen, traurig, erschreckt
und verwirrt wie Haarausfall nach der Geburt, wie das
Weinen meiner Frau mitten auf der Straße, als sie
das Kreischen eines Unfallwagens hört, genauso
traurig, öde und leer wie das Klappern eines
schnell sich entfernenden Zuges, wie die
weißen Hüte der Rentner den ganzen Sommer
lang. Es gibt zu viele Bilder, die sich
gleichen. Sie verstopfen die Fantasie. Sie
machen mir Angst. Jetzt zieht eine kühlere Luft
durch den Park und macht das wenige Grün schwarz,
das eine schmutzige Collage ist aus Hundekot,
alten Zeitungen, Zigarettenschachteln und einem
ausgelatschten, staubigen Halbschuh. Ich gehe
im Kreis. Wo ist der Ausgang? Ich weiß es
nicht mehr. Ich bin müde. Ich bin erschöpft von all
den weißen Hüten, Kinderwagen, Dreitausendmeterläufern,
Angst und lebenden Toten jeden Tag neu.
Über die Person Rolf Dieter Brinkmanns, der 1940 in der südoldenburgischen Kleinstadt Vechta geboren wurde und 1975 starb, als er in London von einem Auto überfahren wurde, geben seine Gedichte reiche Auskunft: Brinkmann hat nur über sich selbst geschrieben, über seine Alltagseindrücke, seine Erregungen, Ängste und Erinnerungen. Seine Sätze bezeichnen exakt, was in ihm vorging, während die äußere Welt mit tausenderlei unsortierten Eindrücken auf ihn einströmte. Gefühle und Sinneswahrnehmungen erscheinen unbeschönigt als das, was sie sind: Naturereignisse, die keiner vernunftgemäßen Wertskala gehorchen. Brinkmanns Gedichte kommen nicht zu mitteilbaren Erkenntnissen, Urteilen, Haltungen. Sie bieten das Bild einer aufgewühlten Emotionalität, in dem sich die äußeren und sehr konkreten Anlässe der Erregung spiegeln. Diese Anlässe sind es ganz offensichtlich, die Brinkmanns private Gefühle zu einer öffentlichen Angelegenheit machten, zu Gedichten aus einer Sphäre, in der soziale Realität und eine gleichwohl sozial geprägte Subjektivität konflikthaft aufeinanderstoßen.
Brinkmanns Gedichte sprechen von einer Existenznot, von der Unfähigkeit, sich der alptraumartigen Bilder zu erwehren, die ihn als tiefere Wahrheit des Geschehens um und in ihm verfolgten. Hineingeboren in eine als unannehmbar empfundene gesellschaftliche Realität, blieb ihm nichts anderes, als die falschen Lebenszusammenhänge, die ihn bedrängten und von sich selbst zu entfremden drohten, abzuschütteln und ihnen die unleugbaren Tatsachen seiner Beobachtungen und Gefühle entgegenzusetzen. Die Überzeugung, daß solche Tatsachen nicht auf einer „Reise nach innen“ zu finden sind, sondern, im Gegenteil, im Versuch, seine innere Realität in der äußeren geltend zu machen, hat Gedichte von sinnlicher Kraft und einer eigenartigen, versteckten Schönheit hervorgebracht.
Die Ordnung, die sich in Versen, Strophen und Zäsuren zeigt, ist keine metrische. Sie orientiert sich am Takt der Gedankenschübe und kommt den Bedürfnissen des Auges entgegen. In den späten Gedichten ist sogar die Linearität des Textes aufgelöst. Sie muten wie sorgsam über das Papier gebreitete Flickenteppiche an und visualisieren so eine scheinbar willkürliche, in Wirklichkeit aber streng komponierte Gedankenarbeit: Genau bezeichnete Realitätspartikel und Emotionen bilden ein loses Netzwerk von Beziehungen, sie vermischen und überlagern sich, rufen Erinnerungsfetzen herauf; Gedankenketten entwickeln sich, verflechten sich und zerfallen wieder. – Brinkmann entwirft Porträts einer angespannten Wahrnehmungstätigkeit, die ihren Sinn in sich selbst findet, im Aufsuchen und Festhalten lebenswichtiger Wahrheit. So, wie der Leser die Schönheit eines Gedichtes im Nachvollzug neu schaffen muß, um sie genießen zu können, soll er den Gegenstand des Gedichts zum Gegenstand der eigenen Erfahrung wandeln und sein eigenes Gedicht daraus herstellen. Die offene Form, die danach verlangt, geschlossen zu werden, enthält eine Aufforderung an den Leser, sich mit Hilfe des Gedichts der eignen Realität schöpferisch zuzuwenden, selbst Erfahrungen zu machen, statt vorgestanzte Maximen kritiklos in sein Wunsch-Ich zu überführen.
Brinkmann hat zu Lebzeiten mit seiner Dichtung vor allem Befremden bewirkt – wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Westwärts 1 & 2, wenige Wochen nach seinem Tod erschienen, war sein zehnter Gedichtband und der erste, der auf breitere Resonanz stieß. Beteiligt an dem Erfolg war allerdings die Nachricht von seinem Tod, die kurz zuvor durch die Presse gegangen war und seinen Namen mit dem Nimbus des tragischen Dichterschicksals umgab. Aber abgesehen von den Spekulationen auf die Folgerichtigkeit eines solchen Endes gibt es wenig Anhaltspunkte in Brinkmanns Schaffen für eine formale oder inhaltliche Orientierung an literarischen Traditionen und Vorbildern. Brinkmanns unverwechselbarer Gestus, der, läßt man epigonale Versuche außer acht, bis heute keine Fortsetzer gefunden hat, scheint organisch aus seinem Naturell hervorgewachsen zu sein. Seine Vorlieben aus der deutschsprachigen Literatur – er nannte bei Gelegenheit unter anderen Ludwig Tieck, Jean Paul, Hans Henny Jahnn, Gottfried Benn und Arno Schmidt – verraten zwar eine Sympathie für Schriftsteller, die es wagten, meist auf Kosten ihres guten Rufs, mit festgeschriebenen literarischen Normen zu brechen. Doch lediglich sein erster Gedichtband Ihr nennt es Sprache (1962 – er zog ihn übrigens vor Erscheinen zurück) offenbart neben einigen Unsicherheiten im Ausdruck literarische Einflüsse, die aber sehr bald rücksichtslos den eigenen Zwecken unterworfen werden so zum Beispiel die zitathaften Anklänge an Gottfried Benns „Einsamer nie –“ in Rolltreppen im August.
Die Absage an den Formenkanon und den Themenkatalog der westdeutschen Nachkriegsdichtung hat Brinkmann des öfteren schroff artikuliert, und sie steht in engem Zusammenhang mit der Absage an die von Normen und Zwängen beherrschte Welt, in die er hineingeboren wurde.
Brinkmanns Kindheitserinnerungen sind vom Kriegserleben bestimmt. Im „Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land“ sieht er Vater und Mutter umarmt im Keller hocken:
Die Fenster und Türen sprangen aus dem Rahmen, die Bilder fielen von der Wand, die Einmachgläser zerklirrten, es war im Frühling…
Solche Erinnerungssplitter sind allgegenwärtig in Brinkmanns Gedichten und halten mit der äußeren Zerstörung durch Fliegerbomben eine innerliche Verletzung fest, ein Lebensgefühl akuter Gefährdung, das ihn durch Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Erwachsenwerden verfolgte. Das Milieu seiner Kindheitsstreifzüge – die Ödnis der Schutthalden, der Bahndämme, der verwilderten Stadtrandgärten – blieb ihm Gefühlsheimat und zugleich Wahrzeichen einer Verwüstung, die er später in maskierter Form wiederfand: in keimfreien, abweisenden und stereotypen Häuserfluchten, im Anblick autoverstopfter Straßen, in den Einsamkeiten der von Waren und Werbung überfluteten Großmarktwelten, in der von den „Medien“ angepriesenen Fiktion von Ordnung, Harmonie und Fortschritt – und in Menschen, die sich nur noch in ihrem Marktwert begreifen konnten. 1974 schrieb er in einem „Unkontrollierten Nachwort zu meinen Gedichten“: „Warum nicht zugeben, daß die Öffentlichkeit ein Dreck ist? Warum nicht zugeben, daß ein Sprachbezirk, ein Land, das jahrelang ausgeräuchert und runtergekommen ist, nur noch aus Gespensterstraßen und Gespenstermenschen besteht? Gespenstervororte, Gespensterentzückungen, Gespensterbanken und Gespensterbüros, Gespensterfamilien und Gespensterschulen, ist der Krieg tatsächlich vorbei?“
Die Sätze Brinkmanns zeigen Wut und Verzweiflung. Er hat sich nie mit den „normalen“ Verhältnissen abfinden können. Das Gymnasium in Vechta verließ er, ein schlechter Schüler, ohne Abschluß. Die Lehrzeit als Verwaltungsangestellter hielt er nicht lange durch. Eine 1959 begonnene Buchhändlerlehre, nun in Essen, kam bereits, wenn auch nur notdürftig, seinen Neigungen entgegen: 1960/61 erschienen erste Gedichte von ihm in rheinischen Lokalblättern. 1962 wurde Brinkmann in Köln ansässig, und er blieb der Stadt in einer Art Haßliebe treu. Bald fand er Anschluß an den Freundeskreis um den Schriftsteller und Verlagslektor Dieter Wellershoff und begann ein Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln. 1966 heiratete er und wurde freischaffender Schriftsteller. Von seinen Veröffentlichungen konnte er nicht leben, obwohl er fieberhaft arbeitete. Neben Gedichten schrieb er Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze; 1968 erschien der Roman Keiner weiß mehr, wie alle seine Bücher in minimaler Auflage, nur von wenigen Kritikern, vor allem wegen anstößiger Darstellungen, beachtet. Die „Öffentlichkeit“ zeigte die kalte Schulter und half eine persönliche Konstellation befestigen, die in Brinkmanns poetischer Sicht unverändert reproduziert wird: Ein isoliertes Individuum am unteren Ende der sozialen Skala, ausgeliefert einer Realität, die er mit allen seinen Sinnen als eine bedrohliche empfand, einer alles beherrschenden Ideologie, die die wahren Zusammenhänge bis zur Unkenntlichkeit entstellte und sich die Sprache, sein einziges Ausdrucksmittel, dienstbar machte:
Außer den bestehenden Zusammenhängen, den politischen und wirtschaftlichen Zwängen, was für Zusammenhänge sind noch da? Die Sprache, sagen sie, überall. Ja, aber die Sprache heute wird von den Massenmedien bestimmt, von Verwaltungen, Ämtern, den sogenannten Kulturinstituten wie Schulen und dem Geschäft…
An einer Straßenkreuzung in einem der unzähligen gleichen Vororte Westdeutschlands sah ich in einem Kiosk sonntags, hinter der Fensterscheibe, in durchsichtiges Plastik eingehüllt, einen Sexroman, dem ein Kleenextaschentuch beigegeben war.
In der Ausformulierung gewinnt die beiläufige Beobachtung, eingestreut in obigen Aufsatz, Symbolcharakter, auch im Hinblick auf die Funktion der Literatur in der sozialen Landschaft der BRD: Literatur als Ware, plastikumhüllt, versehen mit einer Zutat, die den Gebrauchswert dieser Ware augenfällig macht.
Aber nicht nur der billigen Massenliteratur schrieb Brinkmann eine solche Ersatzfunktion zu. Auch Gesellschaftskritik, vorgetragen mit den bewährten Mitteln der geistig-literarischen Auseinandersetzung, werde als käufliche Ware letztlich zum Argument für die „Freiheitlich-Demokratische Grundordnung“ und so um ihre entscheidende Wirkung gebracht. Brinkmann sah darin nicht nur eine hoffnungslose Übermacht des kapitalistischen Verwertungsmechanismus gegenüber seinen Kritikern, sondern auch einen Mangel von Literatur, die der Gefahr des Mißverständnisses und des Mißbrauchs, angelegt in der Verselbständigung der Form, in der beliebigen Ausdeutbarkeit der Metapher, in der Darbietung bloßer Meinungen, nicht von vornherein und nachdrücklich genug entgegenwirkte.
Die zwei bekanntesten Dichter jener Generation, deren Nachfolge der um elf Jahre jüngere Brinkmann antrat, Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf. begegneten in ihren Gedichten den Fragwürdigkeiten der wirtschaftlich-kulturellen Aufstiegsphase der BRD mit kritischer Schärfe, Brillanz und Beredsamkeit, und sie mußten erleben, daß sie wegen ihres literarischen Talents gelesen und gelobt wurden. Politische Inhalte wurden – gegen den Willen dieser Autoren – zum Dekor eines Zeitstils, einer „linken“ Mode, die selbst von der großbürgerlichen Presse als originell empfunden wurde, solange sie im Bezirk der Literatur verblieb. Brinkmanns Zweifel richteten sich aber weniger auf die radikaldemokratischen Positionen seiner Dichterkollegen als auf die Frage, ob ihre Darstellungsweisen überhaupt fähig seien, außer oppositionellen Gesten ein wirklich kritisches Bewußtsein an Leser zu vermitteln, die sich nicht einmal über ihre reale Stellung im gesellschaftlichen Gefüge im klaren waren. Ohne sich viel um die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des Gedichtemachens zu kümmern, bezog er Gegenposition und machte sich auf die Suche nach sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die geeignet schienen, den dunklen Bezirk, in dem die falschen Selbst- und Weltbilder entstehen, auszuforschen und menschlicher Verantwortlichkeit zugänglich zu machen.
Brinkmanns dichterische Methode läßt sich gut mit der eines Photographen vergleichen. Begründete Motivwahl, Eingrenzung des Motivs und Blickwinkel geben Auskunft über die Beziehung, die der Photograph zu seinem Objekt entwickelt hat, heben das Bild aus der Beliebigkeit heraus und machen es zu einer Botschaft. Nicht zufällig hat Brinkmann seine frühen, kurzen Gedichte, die lediglich ein punktuelles Ereignis festhalten, „Standphotos“ genannt. Auch wenn sie nur ein Minimum an Information enthalten, beginnen sie bei längerer Betrachtung zu sprechen. Sobald man etwa das Bild der Frau im blauen Mantel („Photographie“) als einen mit Bedacht gewählten Realitätsausschnitt akzeptiert, tun sich Fragen auf, die unmerklich zur Selbstbefragung werden:
− Warum der extrem reduzierte Blick, der die lebendige Teilhabe am äußeren Geschehen auf eine bloße vegetative Reaktion herabdrückt?
− Welches Gewicht bekommen die wenigen Realien, die Brinkmann für nennenswert hält: Straße, Frau, Mantel, blau? Wofür stehen sie?
− Welche Rolle spielen „Pawlowsche Reflexe“ bei der Ausbildung von Wünschen, Überzeugungen, Haltungen?
Die Fragen lassen sich beliebig fortsetzen, jede Frage ermöglicht verschiedene Antworten, jeder Leser wird zu anderen, ihm gemäßen Schlüssen kommen. Dennoch sind alle Leser in einem Punkt vereint: Sie sind herausgefordert, die Realität der Sinne und Gefühle zum Prüfstein ihrer Vernunft und nach außen hin geltend zu machen.
Brinkmann setzt bei den einfachen Wahrnehmungen an, um dem Einströmen der vorgeformten, unüberprüften, dem herrschenden Bewußtsein entstammenden Denkraster in das Gedicht und in dessen Lektüre zuvorzukommen. Und er nimmt die Einsamkeit der geistigen Entleerung, die Verlorenheit an den Affekt, die die Standphotos offenbaren, in Kauf: Sie sind – nicht nur für ihn selbst – notwendiges Durchgangsstadium der unverstellten Selbstwahrnehmung auf dem Weg zum Aufbau einer neuen Beziehung zur Welt, die entfaltete Sinnentätigkeit mit gesellschaftlicher Praxis in Einklang zu bringen vermag und – so seine Hoffnung – diese Praxis im Sinne des Menschen verändern hilft.
Das unbeschönigte und rückhaltlose Offenlegen der Affekte wurde Brinkmann des öfteren zum Vorwurf gemacht: Flucht nach innen, pubertäre Aggressivität, Schwelgen in Banalität. Dahinter stehen Rezeptionsgewohnheiten, die dem Anliegen Brinkmanns nicht gerecht werden können: die Gewohnheit, gedanklich-formale Vollendung zum Maßstab für die Qualität eines Gedichts zu machen, die Gewohnheit, im Gedicht ein veredeltes Gegenstück zur Alltagsrealität zu sehen, die Gewohnheit, sich einem „lyrischen Ich“ anzuvertrauen, einem besseren Selbst, das im Rahmen der poetischen Idee all das verwirklicht, das dem leiblichen, alltagsverhafteten Ich unmöglich bleibt. Der diesen Gewohnheiten zugehörigen Tendenz zur Wirklichkeitsflucht wollte Brinkmann gerade entgehen: mit Gedichten, die ihn und seine Leser nicht in eine poetische Wunschwelt entführen, sondern im Gegenteil mit einer sehr realen Wirklichkeit konfrontieren, mit ihren eigenen Wahrnehmungen, die nur dann fruchtbar gemacht werden können, wenn sie an ihre konkreten sozialen Anlässe gebunden bleiben.
Dieser „gegenläufige“ dichterische Umgang mit Realität mußte freilich gelernt werden. Brinkmanns gesamtes Schaffen spiegelt einen solchen Lernprozeß wider: Dem Blick auf das leere Blatt Papier, der Grundsituation des um die Formulierung ringenden Dichters, folgte der Blick auf den Schreibtisch, an die Wand, in die Zimmerecke: Durch das Fenster gelangte Öffentlichkeit auf direktem Wege in das Gedicht: die Straße. Dann die Stadtlandschaft mit Menschen, Autos, Geschäften, deren Wahrnehmung bereits die eigene Fortbewegung erforderte. Das Motiv des Reisens stellt Verbindungslinien zwischen verschiedenen Einzelsituationen her, die Gedichte werden länger, reicher, komplexer: Landschaften, andere Städte und Länder kommen ins Bild. Mit dem räumlichen Horizont wächst der dichterische – und umgekehrt. Doch das war kein geplantes, vielmehr ein tastendes, von Irrtümern begleitetes Sehen- und Sprechenlernen: „Hätte ich eine Theorie anzubieten, ein Weltbild, eine Ansicht, eine Ideologie, wäre mir zu schreiben leichtergefallen. So aber ist nichts außer dem einen Augenblick, an dem ich schrieb, dagewesen. Und so ist immer der jeweils zuletzt geschriebene Satz ein Ende gewesen, von dem ich mit jedem Mal neu beginnen mußte, also lauter Endpunkte, aber genausogut und zutreffend ist, Anfänge, und diese Anfänge ausweiten, gehen, fortgehen.“
Mitte der sechziger Jahre entdeckte Brinkmann in der amerikanischen „Underground-Kultur“ verwandte Bestrebungen. In der Auflösung der Formen und Entleerung der Inhalte zugunsten radikalen Selbstausdrucks hofften Künstler wie William S. Burroughs, Frank O’Hara, Andy Warhol eine kulturrevolutionäre Alternative zur herrschenden Gesellschaftsordnung zu finden. Die Aufbruchseuphorie der Hippie-Bewegung ließ bereits alle Akte des Bruchs mit den sanktionierten Wert- und Formbegriffen als revolutionäre Schritte zur Befreiung von jener Ideologie erscheinen, die sich als Sachwalter des Humanismus, des Fortschritts und der Freiheit deklarierte und zugleich einen brutalen Vernichtungskrieg gegen das vietnamesische Volk zu rechtfertigen versuchte.
Während in der BRD die Protestgeneration, ebenfalls inspiriert von der amerikanischen „Gegenkultur“, auf der Straße und in den Universitäten eine Utopie der kulturrevolutionären Befreiung propagierte, sammelte Brinkmann fieberhaft Gedichte, Essays, Pamphlete und Prosatexte der „neuen amerikanischen Szene“ und veröffentlichte sie in zwei Anthologien: Silverscreen und Acid (beide 1969), zugleich schrieb er selbst Gedichte in Huldigung und Anlehnung an die neuen Vorbilder: Es war etwas in Bewegung geraten, und die Gegenkultur erschien ihm als eine zwar verworrene, aber doch lebendige Realisierung dessen, was er mit seiner Lyrik angestrebt hatte. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Die intermedialen Experimente der Amerikaner wurden sehr bald unter den Markenzeichen „Pop-Art“, „Minimal-Art“, „Action-Art“ usw. zu Verkaufsartikeln der Medienindustrie, die „Kulturrevolution“ zersplitterte und verlor sich auf dem Weg nach innen in Rauschgifthalluzinationen.
Über die Studentenbewegung, die Brinkmann in Köln eher beobachtend als teilnehmend miterlebte, schrieb er 1972 an einen Freund: „Wie viele Mißverständnisse hat es in Situationen dort gegeben, die mich betreffen, als ich dort war? Wie viele falsche Ansichten, wie vieles unnütze Reden abends, in den Runden dort? Ich muß lachen, wenn ich daran denke – der Schwulen-Hokuspokus, der Pop-Hokuspokus (ich stellte mir darunter etwas sehr anderes vor, als wie es sich gezeigt hat in den Auswirkungen, das betrifft auch meine Publikationen zu der Zeit – es hat mich ungeheuer erschreckt, als ich sah, welche Typen meine Bücher unterm Arm hatten oder bei sich liegen hatten – jetzt, da ich es sagen kann, ist es mir gleichgültig – damals wollte ich etwas damit, doch nicht den Abfall erreichen, die halben verstümmelten unfähigen Kerle, die sich modern gaben…).“
Brinkmann erkannte bald, daß ihn seine „psychedelischen“ Ausflüge in den Bänden Piloten (1968) und Standphotos (1969) in eine Sackgasse geführt hatten. In den Gedichten, die danach entstanden, ging es nicht mehr vorrangig um die „Erweiterung des Bewußtseins“, sondern wieder um die Erweiterung des Blickfelds. Aus den „Standphotos“ wurden bewegte Bilder, „Filme in Worten“ – die Bereicherung und Verflüssigung seiner dichterischen Ausdrucksmittel war der positive Ertrag seiner Beschäftigung mit der „neuen amerikanischen Szene“. Die Bände Gras (1970) und Westwärts 1&2 (1975) setzten fort, was in Die Piloten bereits begonnen war: Brinkmann sieht nicht nur; er bewegt sich jetzt – wie ein Pilot – durch eine ständig sich verändernde Umgebung. Von Reisen in die USA, nach England und Italien brachte er Eindrücke mit, die sich in seinen langen Gedichten zu alptraumartigen Sequenzen fügten. In der räumlichen Entgrenzung der Gedichtwelt drohte sich allerdings das leibliche Ich des Dichters zunehmend zu verflüchtigen. Das „Fortgehen“ wurde zu einer Flucht nach vorn: in eine Wirklichkeit, die um so beängstigender wurde, je mehr er sie in ihren Zusammenhängen und ihrer zur Katastrophe treibenden Dynamik sinnlich erfaßte. – Einsichten, die sich in der „filmischen“ Dichtung wie von selbst auftaten und dazu zwangen, ihnen immer stärkere, komplexere Gedichtformen entgegenzusetzen.
Begleitet war diese Entwicklung von wachsenden Schwierigkeiten im Privatleben. Brinkmann litt unter Depressionen, Geldsorgen, hatte sich von Freunden losgesagt, seine Ehe war in eine Krise geraten. Als er 1972/73 ein zehnmonatiges Stipendium in der römischen Villa Massimo antreten konnte, entlastete ihn das vorerst von den dringlichsten Problemen, und er nutzte den Aufenthalt, um einen umfänglichen Brief-Tagebuch-Bild-Bericht anzulegen. Das Buch Rom, Blicke (erschienen 1979) wurde, obwohl unvollendet, in der minutiösen Beschreibung einer Stadt und der Gefühle, die sie erweckt, zum dichterischen Panorama einer modernen Zivilisation am Rande des Abgrunds und zugleich zum Selbstporträt eines isolierten Künstlers, der mit wachsender Verzweiflung feststellt, daß dieser Menschheitskrise mit dichterischer Anstrengung nicht beizukommen ist.
Brinkmanns Bemühen, Selbstwahrnehmung, Selbstbewußtsein und sozial orientierte Selbstverantwortung zur gemeinsamen Sache mit all denen zu machen, die an der Wahrheit über sich und ihre Welt interessiert waren, blieb auf dem halben Weg stehen, vor allem deshalb, weil das Echo, das er erhoffte und brauchte, nicht kam. Selbstzweifel, Einsamkeit und Enttäuschung verfinsterten seinen Blick.
„Ich bedauere, daß so wenig die lebendigeren und lustvolleren Momente in diesen Gedichten deutlich sind. Habe ich es nicht gelernt? In überwiegendem Maß ist Sprache negativ, jedenfalls trifft das auf die Zeit zu, seitdem ich in diesem Land lebe. ,He, ich bin im Krieg geboren, was verlangen Sie da von mir!‘“
Chris Hirte, Nachwort, Januar 1985
geboren 1940 in der oldenburgischen Kleinstadt Vechta, kam 1875 bei einem Autounfall in London ums Leben. Er hinterließ ein reichhaltiges Werk – Lyrik, Prosa, Hörspiel, Roman, Essay −, das in seiner herausfordernden Eigenart bis heute umstritten und Mißverständnissen ausgesetzt ist. Brinkmanns Gedichte, obwohl ganz in der Härte und Exaktheit ihrer Diktion das Erscheinungsbild einer von sozialen Widersprüchen geprägten Welt wider.
Seine Bemühungen richteten sich nicht darauf, einer unvollkommenen Wirklichkeit die Vollkommenheit eines poetischen Utopieentwurfs entgegenzusetzen, sondern das Erleben selbst, den Affekt, den spontanen Sinneseindruck, das Verlorensein an eine unbewältigte Gegenwart unmißverständlich zur Sprache zu bringen.
Die „offene Form“ seiner Gedichte bietet keine gerundeten poetischen Erkenntnisse, wohl aber das sorgsam komponierte Material einer dichterischen Tätigkeit, die nach ihrer Fortsetzung verlangt: „Was ist da und fordert Sie heraus? Fügen Sie das den Gedichten, die Sie mögen, hinzu. In dem Augenblick werden es Ihre Gedichte.“
Verlag Volk und Welt, Beizettel, 1986
Das Zusammendenken ist eine Fiktion, Brinkmann muß ohne diese Fiktion auskommen
Ein Ich, das querliegt zur Welt
„friedlich“, „zärtlich“ – bei ihm keine vorgefaßte, keine Gratis-Menschenfreundlichkeit: sondern Spannung zwischen dem realen HASS und der realen SEHNSUCHT, freundlich sein zu können – so werden seine Gedichte Vorgänge, sind keine Lebensformen mehr, nur noch Lebensmomente, im Gedicht für die Zeit des Gedichts erweitert
Flaneur und Brinkmann: jener mit der Schildkröte am Band, dieser verwickelt und erschlagen
Heimat: kein Zustand, keine Offerte, sondern Zufall, Sekunden
„Wandern“ (früher): Brinkmann: „tapern“, „ausgelatscht“
Wanderer als Subjekt der Landschaft; Brinkmann Objekt der
Landschaft, Landschaft ist das Handelnde, Aktive, Böse ge-
worden; B., der Objekt Gewordene: daß er das formuliert, dass
er daraus was macht, dass er sich formulierend wehrt, das ist
das einzige, was ihn als Subjekt erscheinen läßt: sein Strampeln,
Schlagen gegen die Subjektverdrängung, unversöhnlich
„Aufklärung durch Wörter gibts nicht, Veränderung durch Wörter ist Dichtung“(?)
VERSÄUMNIS
Sachen, die nicht aufgehen im Vorgefaßten: Poesie
Das geglückte, verwirklichte, glückliche Leben ist nicht mehr möglich, nicht einmal fingiert in der Poesie
Daß es ihn nicht mehr gibt: Bitterkeit
Peter Handke, aus: Petrarca-Preis 1975-1979, Privatdruck des Petrarca Preises
Ich nehme das mal für ihn in Anspruch: der Dichter Rolf Dieter Brinkmann ist tot, totgefahren in London auf die dümmste und banalste Art. 35 Jahre alt ist er geworden. Viele Gedicht- und Erzählungsbände hat er geschrieben und einen Roman (Keiner weiß mehr), der bis heute noch sperrig steht.
Sein Leben und seine Arbeit scheinen sich nun wie eine Flut von Zeichen und Hinweisen hineinzudrängen in dieses grauenhafte und öde Faktum. Aber derartige Recherchen hätte er als erster lächerlich gemacht, denn jedes Leben ist eine Kette von Indizien für irgendeinen Tod. Ebenso lächerlich sind alle Spekulationen über seine Zukunft, wenn ihm eine Zukunft geblieben wäre.
Zwar hat er sich die letzten Jahre dem Markt in einer wütenden Isolationshaltung verweigert, aber aufgehört zu schreiben hat er nie. Jeden Tag eine Fülle von Zetteln, klein und eng beschrieben mit seinen Erfahrungen und Imaginationen. In Notizbüchern, Zettelkästen und Heftern hatte er den Rohstoff für noch einige unerhörte Bücher, von denen jedes, so verstand er sich, eine Attacke auf die Gesellschaft werden sollte, eine schmerzhafte Körpererfahrung, so verstand er die Sprache, für seine Leser. Er hatte soviel Energie für diesen radikalen Weg, daß da, wo er aufgehört hat, so schnell keiner weitermachen wird.
Ich wollte einen Nachruf schreiben, und da war mir eine fixe Formulierung schon voraus: „ein unversöhnlicher Freund“. Nein, denn seine Unversöhnlichkeit gegenüber fast allen Tatsachen und Bedingungen des Lebens war so entschieden, daß sie Freundschaft beinahe ausschloß. Beinahe. Manchmal in einem Gespräch (da hieß es aufpassen) oder auf einem hektischen Spaziergang in Köln oder Berlin wurde er ganz weich und zärtlich, die Stimme, die Wörter, die Bewegungen, ein Zustand, der ihn sofort wehrlos machte. Man konnte dann wissen, ohne ihn sogleich für einen Moralisten zu halten, daß er eine Liebe in sich hatte, die sonst zugedeckt war von seinem Ungenügen an Dingen und Menschen. Verlaß war nur auf sein widersprüchliches Verhalten, zum Beispiel tobsüchtiges Sprechen, und gleichzeitig der Anspruch auf Klarheit und Genauigkeit. Härteste Fragen in die verborgensten Schwächen anderer hinein, beleidigendes Insistieren, aber auch das intensivste Interesse, wenn ein anderer ihm wirklich etwas zu sagen hatte.
Vieles von seiner Sicht der Welt hätte er einbringen können in irgendeine Organisation oder Solidarität, aber seine Antwort wäre nur Hohn gewesen. „Wie die Pest“ haßte er derartige Gemeinschaftsideen. Für ihn waren dergleichen nur fixierte Programme, und die hielt er für tödlich, die töteten den Gedanken, das Bild und die Energie. Er wollte weder einer Klasse noch einer Schicht, noch einer Gruppe angehören. Dem allen ist er ziemlich weit entkommen und wollte dafür den Preis bezahlen, auch den der Isolation und Armut.
Auf die Phase der Restauration in Deutschland hat er kaum reagieren können, aber gegen die neue Konsumkultur hat er heftig und kriminell reagiert, gegen Geld und Staat, Grüngürtel, Bistros und Boutiquen, und die Leute, von denen er beruflich abhängig war, bekamen seine Abhängigkeit zu spüren.
Brinkmanns letztes Buch, Westwärts 1 & 2, ein dicker Band mit Gedichten, ist gerade noch zu seinen Lebzeiten erschienen. Die Sprache, für die er vergeblich nach einem besseren Ersatz suchte, erweist sich hier als verblüffend intakt. Es ist ja keine besonders exzentrische Einsicht, daß die Sprache mehr und mehr herunterkommt auf ein Arsenal von Imperativen und auf Signalfunktionen im täglichen Abtausch der Informationen. Also, unter diesem Aspekt nennt Brinkmann Wörter prinzipiell „Flickwörter“. Und so ist seine Sprache ein Beleg für diese Annahme. Sie ist verstümmelt und verheert von all den Bedeutungen, die durch die Wörter gegangen sind. Aber tot und geisterhaft ist sie insofern nicht, als sie das Tote und Geisterhafte in dieser Komprimierung noch vermittelt.
Für Brinkmann, der auch seine Kindheit nach dem Krieg wie ein gespenstisches Genrebild beleuchtet, ein Kindheitsalptraum mit kleinen abgestorbenen Momentaufnahmen von Feuerlöschteichen, summenden Hecken und Bohnerwachsgeruch, ist der Krieg weitergegangen, „er ist nur unsichtbar geworden“. „Die Wortidyllen haben Häute“, die man abziehen muß. Die Syntax dieser Gedichte ist sein Temperament. Niemals stößt man auf bloß rhetorische Figuren oder poetisierende Kürzel. Es ist so, als stünde hinter jedem Vers eine seiner ganz realen Körpergesten: eine vorschnellende Armbewegung, oder wie er dem eigenen Sprechen erschrocken nachhorcht oder wie er angewidert über den Kiesweg der Villa Massimo geht. Aber – Material, alles genau angesehen und dann erst ein Wort dafür benutzt. Keine Gelassenheit – Heftigkeit.
Er hat auf seine verzweifelte und oft auch verrannte Art nach Wahrheit, Klarheit und Sinn gesucht. Finden müssen hat er unzählige dreckige Stilleben, tötende Betonlandschaften, in der sich jede anwesende Kreatur vergißt. Alles wird in Brinkmanns Perspektive zu einem dumpfen bewußtlosen Verrotten, zu einer Verödung der Städte, Landschaften und Menschen. Für ihn war das nicht Prognose, auch nicht Katastrophenphantasie wie bei Futurologen, die aus der Zukunft nicht mehr zurückfinden, für ihn war das schon der gegenwärtige geisterhafte und tote Weltzustand, der kaum noch wahrnehmbar ist mitten im andauernden, unsichtbar gewordenen Krieg. Der Sarkasmus, auch Haß, mit dem er darauf reagiert, der tatsächliche und imaginär erweiterte Zerfall ist ja schon so wahr wie es wahr ist, daß Menschen „nicht mehr sehen was sie sehen“. Gedichte hin, Lyrik her – das ganze Buch ist die Beschreibung einer Horrorwelt, und das ist diese hier. Brinkmann hat sie so erfahren, und ich bin sicher, daß er keine Wahl hatte.
Trotzdem hat er alle Leidensposen verabscheut, das humanistische Reaktionsverhalten unflätig geschmäht. Gelegentlich hat ihn jemand, der ihn nicht verstand, einen Faschisten genannt, aber er kannte schon diesen Übersprungseffekt. Er kannte auch die zähen klebrigen Etikettwörter, die Stempelwörter: „Wisch dir mal den Stempel des Staates aus dem Nacken.“ Bei Brinkmann werfen die Wörter andere Schatten, mythische. Labormythen der neuen Dinge und Wörter, Struktur-, Molekular- und Datenmythen. Der Kratzer auf der Schallplatte, der gerissene Film, die kaputte Glühbirne – nur in solchen Defekten kommt noch etwas Bewußtsein zum Vorschein. Die leere Befehlsform der Gänge in den Hochhäusern der Konzerne und Verwaltungen. Und Geldscheine, Hartgeld, die Gesichter auf dem Geld werden zu mythischen Geldgesichtern, die zerfallen wie das zerfallene Geld; „Unterschriften, die zerfallen, wo / nachts in den Hochhausapartments die / Kinder schreien, furchtbar gefesselt / an die Stille“. Das Dichterische, das Künstlerische, das Kulturelle überhaupt, das waren für Brinkmann Erbfehler, in denen eitel weitergemacht wird. Eine größere Genauigkeit und Verbindlichkeit erhoffte er sich von wissenschaftlichen Studien, die er in Biogenetik und Neurologie ein paar Jahre lang betrieben hat. Ich kann diese Hoffnung und die Ergebnisse nicht beurteilen, aber die Spuren dieses Einsatzes sind in seinen Gedichten zu erkennen, Formen und Formeln, aufgefüllt mit der eigenen Angst, mit dem „Erschrecken, das ringsum mehr wird, jeden Tag etwas mehr“. Nicht die geringste Berührungsangst hat er seinen Sinnen erlaubt. Seinem Blick zu folgen, das hieß, daß er noch mehr sah, mehr wenig Schönes. Überhaupt ist das Schöne in diesen Gedichten kein Angebot für den Feierabend. Es ist Wahrnehmung gegen alle Verbote, schmerzhaftes Hinsehen, Erkennen, und deshalb, meinetwegen, sind die Gedichte auch schön.
Dieses prinzipiell rebellisch Geschriebene paßt nicht einmal in eins der beliebten Antimuster. Alle Sätze darüber sehen deplaziert aus, wie hoffnungslose Versuche einer Annäherung. Rolf Dieter Brinkmann ist ein Schriftsteller geblieben, das hat er nicht verhindern können. Ihm etwas Versöhnliches nachzurufen wäre jämmerlich, da er aufgehört hat, sich zu wehren.
Nicolas Born, aus: Petrarca-Preis 1975-1979, Privatdruck des Petrarca Preises
− Panik auf den Rolltreppen im August. −
Diese Offenheit, diesen unverstellten Blick,
unverstellt von Ideologie, Gedankenmustern,
Absichten, Zielen, Pflichten, Moral usw. kann
ich mir hier nicht denken, sie ist nicht da, dieses
winzige Stückchen mehr an Freiheit.
Statt dessen herrscht eine Ideologie und ein
Gedankenterror und ein blindmachendes Abstrahieren,
das von Gedanken ausgeht und immer
weiter abstrakt Gedanken produziert −
dabei geht alle Sinnlichkeit verloren.
Rolf Dieter Brinkmann
Brief an Hartmut Schnell vom 22.1.1915
In den ersten Tagen, Wochen und Monaten des Jahres 2005 befaßte ich mich – in Erwartung des 23. April 2005, dem dreißigsten Todestag Rolf Dieter Brinkmanns – wieder besonders intensiv mit Westwärts & Co., Gedichte lesend, via Google recherchierend, Gedanken notierend, Gespräche suchend. [Zu Beginn des Jahres 2007 ist es ganz ähnlich: Brinkmanns Zorn, Bergmanns Film über RDB mit Eckhard Rhode (gemeinsam mit Brinkmanns Originalstimme) in der Hauptrolle, kommt in die Kinos, die Freunde (Kutsch, Röhnert, Völkert-Marten) schreiben Mails und/oder rufen an, und auch die Medien überschlagen sich vor Begeisterung. Ich lese Kommentare im Internet und sehe Ausschnitte im Fernsehen – wie Brinkmann auf Mülltonnen eindrischt und die Poesie der Eisenbahn beschwört – und brenne auf den Film, der im November 2007 als DVD erscheint.]
Am 3. Dezember 2004 beispielsweise in der Kölner Taubengasse während meines Besuchs bei Hans Bender: Jedesmal, wenn wir uns sehen, reden wir über Brinkmann, und dieses Mal hörte ich mich erneut zu einer Lobeshymne ansetzen, die ich schon so oft gesungen hatte: „Ja, ich bekenne mich gern zu Rolf Dieter Brinkmann. Ich bin ein großer Verehrer seines Werks.“ Bender, als Herausgeber der Akzente und anderer Editionen einer der Förderer Brinkmanns, betont (nachdem er zum wiederholten Mal sein Unverständnis gegenüber einem Werk wie Rom, Blicke, das mich unglaublich affiziert, geäußert hat), daß Brinkmann ihm gegenüber stets höflich und freundlich gewesen sei. [Wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit beim grundsätzlich zornigen Brinkmann, der Kölner Kneipenwirte anschnauzte, wenn die ihn anraunzten, weil er sein Bier nicht bezahlen konnte.]
Am 4. Januar 2007 lese ich amüsiert und mit hochgezogenen Augenbrauen in einem Artikel auf der Website der taz:
Wieso liegt am Anfang des 21. Jahrhunderts von allen literarischen Gattungen ausgerechnet die Lyrik im Trend? Warum nicht – angesichts von Kriegen, Amokläufen und abgefilmten Hinrichtungen – das Drama? Der Roman feiert weiterhin Erfolge, auch die lang geschmähte und vergessene kleine Prosa wird plötzlich wieder wahrgenommen, sei es, dass Botho Strauß neuerdings mit Kalendergeschichten Erfolg hat, sei es, dass die Glossen und Kurzgeschichten der ZIA-Literaturpiraten Holm Friebe, Jörn Morisse und Kathrin Passig begeistert gefeiert werden. Doch stärker noch als alle diese rücken seit zwei, drei Jahren die Lyriker ins Rampenlicht. Nico Bleutge oder Uljana Wolf werden bereits nach einem Lyrikband an die Seite von Brinkmann, Bachmann und Born gestellt, der feine Lyrikverlag Kookbooks wird mit Preisen überschüttet, und über Leute, die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen, wird nicht mehr gelacht. [An dieser Stelle seien drei Fragen gestattet:
Liegt Lyrik tatsächlich im Trend? Ich fürchte mehr denn je, daß auch nach 2000, abgesehen von gutbesuchten großstädtischen Events mit Multimediacharakter, durch die kaum ein Gedicht in den Köpfen der Besucher haftenbleiben und kaum ein Lyrikband mehr verkauft werden dürfte, die Lyrik an sich Sache einer extrem kleinen Gruppe von intrinsisch sprach- und forminteressierten Menschen bleibt. Daran wird auch der zwar auf sechs Seiten angelegte, insgesamt jedoch eher rührende als richtungsweisende Versuch der ZEIT vom 24. Mai 2007, der Lyrik von heute zu mehr Lesern zu verhelfen, nichts ändern. Ausgerechnet Robert Gernhardt zur Zündkerze in den Motoren der völlig anders orientierten jüngeren Autorinnen und Autoren zu stilisieren, wie Ulrich Greiner es tut, sorgt allenfalls für Erheiterung, ebenso die Frage, wie man Gedichte eigentlich lese. (Grundsätzlich schlage ich vor: von links nach rechts sowie von oben nach unten und die gelungenen Verse wieder und wieder.) Michael Braun faselt auf www.freitag.de unter anderem gar von „Randale“ in der deutschen Lyrikszene. Lyrikdoktor Jakob Stephan wird in diesem Fall sicherlich eine schwere Form von Realitätsverlust diagnostizieren.
Wer – außer vielleicht der unbedarfte Kulturteil-Mitarbeiter – stellt Nico Bleutge und Uljana Wolf an die Seite von Brinkmann, Bachmann und Born? Bleutge und Wolf haben Erstlinge vorgelegt, die ich mit Interesse gelesen habe, in denen ich aber nichts von der anarchischen Kraft und Gewalt eines Buches wie Westwärts 1 & 2, das zu den wuchtigsten Gedichtbüchern des 20. Jahrhunderts gehört, finden kann. Sie in einem Atemzug mit Rolf Dieter Brinkmann zu nennen ist nicht das lahme Lächeln über einen schlechten Scherz wert.
Lacht man wirklich nicht mehr über Leute, die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen? Leute, „die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen“, sind und bleiben Witzfiguren. Darüber gibt es bei Brinkmann, Kling und anderen ernsthaften Dichtern einiges Deftige, Heftige nachzulesen.]
Auch dieser Artikel findet Eingang in Meine Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann, die ich seit 1997 wie ein Tagebuch führe und die mittlerweile zehn zweispaltige Seiten umfaßt. Ebenfalls frisch vermerkt ist der Hinweis auf eine Bemerkung Gerhard Falkners: „… und mein Ärger über den schlechten Beobachter und den so sehr in seine Ignoranz vernarrten Brinkmann ist noch nicht verraucht.“
Im grausamen Monat April höre ich während mehrerer Wochen immer wieder die Audio-CDs, die anläßlich des dreißigsten Todestags bei Intermedium Records in Erding erschienen sind: Wörter Sex Schnitt (fünf CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 361 Minuten und 60 Seiten Booklet) sowie The Last One (Autorenlesungen während des Cambridge Poetry Festivals 1975, drei bzw. vier Tage vor dem Unfalltod in London).
Die wunderbare Zärtlichkeit, die vielen der Verse und Gedanken dieses oft so ungeheuer schroff daherkommenden Menschen innewohnt, bezaubert mich jedesmal neu. Und wenn ich diese jetzt von Brinkmann selbst gesprochen höre, laufen mir Schauer über den Rücken. Während seines Besuchs am Karfreitag 2005 hören Axel Kutsch und ich gemeinsam das Gedicht „Rolltreppen im August“, und wir begreifen erneut, was Brinkmanns besondere Gabe gewesen ist. Er behauptet die Panik nicht, sondern hämmert sie in Gehirne: Panik, Panik, Panik…
Ich weiß, daß es längst nicht nur mir so geht. Seit den 1990er Jahren erlebt Brinkmann eine Renaissance, von der die FAZ (respektive Ingeborg Harms) offenbar nichts mitbekommen hat: „Daß dieser gleichsam am Tropf des Plattenspielers hängende Autor heute kaum noch gelesen wird, liegt nicht zuletzt an der Illusion, man könne Atmosphärisches durch bloße Nennung umstandslos in Blocksatz gießen.“ Nun denn. Ich habe in den letzten Jahren einige Erstausgaben seiner in den 1960er Jahren erschienenen Gedichtbände erworben und eine Reihe umfangreicher Bücher über Brinkmann gelesen, die sein umfassendes Werk bearbeiten und in seiner Vielseitigkeit deutlich machen.
Am 11. September 2001 lernte ich bei einem Treffen in Köln Jan Volker Röhnert kennen, der mit zahlreichen vorzüglichen Essays und zwei gewichtigen Büchern über Brinkmann entscheidend dazu beiträgt, Mißverständnisse, die über den Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann kursieren, zu korrigieren. [Heute, am 3. Januar 2007, rettet er meinen Tag mit der einzigen Postsendung, die ich erhalte. Darin finde ich einen Sonderdruck aus dem 787 Seiten umfassenden Reader Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, 2006 im Erich Schmidt Verlag herausgegeben von Ursula Heukenkamp und Peter Geist, mit einem erneut kenntnisreichen und feinspürig interpretierenden Aufsatz von Röhnert über Rolf Dieter Brinkmann (1940–1915), eingeleitet mit einem Zitat von The Doors: Before I sink into the big sleep / I want to hear the scream of the butterfly.] Wenn ich lese, welche Dummheiten das Feuilleton über Brinkmann äußert (beispielsweise die Reduzierung auf den „Popliteraten“, ohne die kaum eine Schlagzeile auskommt), freut es mich um so mehr, daß Jan Röhnert für eine Literatur wirbt, die so lebendig wirkt wie eh und je – und auf mich stärker mit jedem Jahr, das ich älter werde und die Ausnahmestellung und Qualitäten des Brinkmannschen Werks noch genauer zu erkennen in der Lage bin. Röhnerts 2001 in der edition bauwagen erschienener Gedichtband Fragment zum französischen Süden 1 & 2 steht in der Nachfolge eines Autors, dessen Nachwirkungen auf die aktuelle Lyrik im deutschen Sprachraum spürbar sind – zahllose postmoderne Allusionen in Gedichten der letzten Jahre beweisen es: An Brinkmann führte nach 1975 so schnell kein Weg vorbei. Warum auch? Dieser Autor hat eine ganze Reihe unsterblicher Gedichte geschrieben. Hierzu schreibt Röhnert:
Auf eine Weise jedoch haben die Gedichte Brinkmanns auch nach dem Tod ihres Schöpfers „weitergemacht“: Beim Leserpublikum und einer Vielzahl von Lyrikern, die sich durch Brinkmann zu – mehr oder weniger gelungenen – eigenen Versuchen inspirieren ließen. Seine Anregungen scheinen jeweils dort am fruchtbarsten aufgehoben zu sein, wo sie innerhalb eines wiederum selbständigen Dichtungsentwurfs neue Gestalt gewinnen. Etwa für den Kaddish-Zyklus von Brinkmanns Generationskollegen Paulus Böhmer, die Lyrik der rumäniendeutschen Dichter Werner Söllner (Kopfland. Passagen) oder Richard Wagner (Hotel California) ist Brinkmanns Lyrik ein fester Bezugspunkt, aber auch für das Selbstverständnis 0stdeutscher Lyriker wie Uwe Kolbe, Thomas Böhme oder Michael Wüstefeld spielte Brinkmann eine wichtige Rolle; auch aus den frühen Gedichtbänden Thomas Klings geschmacksverstärker und Durs Grünbeins Grauzone morgens ist Brinkmanns Stimme herauszuhören.
Einem Gedichte verfassenden Menschen, der sich nicht wenigstens in Form einer Pflichtlektüre mit Brinkmanns Gedichten und Poetologie befaßt hat, kann ich nur bedingt Respekt entgegenbringen.
Vor einiger Zeit besuchte mich Jürgen Völkert-Marten aus Gelsenkirchen, dessen legendäre Rolf-Dieter-Brinkmann-Sammlung mit den Veröffentlichungen zu Lebzeiten (beinahe) lückenlos ist, und schenkte mir eine 1978 erschienene Ausgabe der amerikanischen Literaturzeitschrift New Letters mit zwei von Hartmut Schnell in Englische übertragenen Gedichten Brinkmanns, von denen eins – „The African“ – meines Wissens bislang nicht einmal auf deutsch erschienen ist. Es gibt wahrscheinlich noch einiges Unveröffentlichte in Frau Brinkmanns und anderer Leute Schubladen – obwohl nun auch mit den beiden Audio-Editionen ja wieder Fulminantes ans Tageslicht gekommen ist. Und das waren nicht die einzigen Überraschungen im Jahre 2005. Nein, aller guten Dinge sind (mindestens) drei.
Ich drehe jetzt mehrere Seiten lang die Zeit um einige Jahre zurück:
In den späten 1980er und den gesamten neunziger Jahren hatte ich vergeblich versucht, Rolf Dieter Brinkmanns vergriffenen Lyrikband Westwärts 1 & 2 in Antiquariaten aufzustöbern. Ich hatte gelegentlich befreundete Autoren gebeten, für mich mit Ausschau zu halten nach jenem Lyrikband (für dessen auf 188 Seiten verteilte Bruchstücke, Collagen, Montagen, präzise, sinnliche Bilder, konkrete, einfache Wörter, Augen-Blicke, musikalische Sequenzen und wilde, sich über etliche Seiten hinziehende Wortwirbel ich bis zu achtzig Mark zu zahlen bereit war), der nach seinem Erscheinen im Jahre 1975 dafür sorgte, daß der Autor Rolf Dieter Brinkmann total lebendig geblieben ist.
Natürlich konnte ich zahlreiche Gedichte aus Westwärts 1 & 2 in Anthologien finden, so beispielsweise in dem von Axel Kutsch besorgten Lyrikjahrbuch Wortnetze II (Rolf Dieter Brinkmann und Hans Bender als „großen Schriftstellern und Herausgebern“ gewidmet), aber was war das schon gegen das Erlebnis des Ganzen? An einem Tag im Jahre 1997 erhielt ich denn auch einen dringenden Anruf von Völkert-Marten, der mich auf den aktuellen Katalog des Antiquariats Seinsoth in Bremen aufmerksam machte, in dem ein gut erhaltenes Exemplar des Taschenbuchs angeboten wurde. Ich meldete mich dort umgehend, aber nein, leider war das Exemplar schon verkauft. Wieder nichts.
Ähnliche Erfahrungen konnten Sie auf Antiquariatstagen in den neunziger Jahren machen, wo Sie mit Nike-beschuhten, eigens von gutbetuchten Sammlern für diesen Wettlauf engagierten Muskelmännern in Konkurrenz treten mußten, um ein Brinkmann-Bändchen aus den sechziger Jahren wie Le Chant du Monde für mehrere tausend Mark zu ergattern. Völkert-Marten gehört zu den Lesern, die sich früher als ich mit Brinkmann befaßt haben, und er ist einer der wenigen Glücklichen, die mehr oder weniger sämtliche Werke (einschließlich der zu Lebzeiten Brinkmanns erschienenen Anthologien und Zeitschriften) in Originalausgaben besitzen. Aber originale Ausgaben müssen es nicht sein. Die Gedichte sind das Wesentliche, und die ersten neun Gedichtbände Brinkmanns aus den Jahren 1962 bis 1970 sind in dem schwarzen Sammelband Standphotos zusammengefaßt.
Das Westwärts-Dilemma hatte ich selbst heraufbeschworen. Ich studierte seit 1974 in Köln. Wieso hatte ich mir nicht längst eins der 17.000 Exemplare besorgt? Das ist eine Geschichte, die Sie in meinem collagierten Gedichtband das letzte wort hat brinkmann (Edition Labyrinth & Minenfeld, Osnabrück 1996) nachlesen können. Karsten Herrmann, Herausgeber jener mittlerweile eingestellten Edition, hat 1998 über Brinkmann promoviert und erweist sich mit seinem Buch Bewußtseinserkundungen im Angst- und Todesuniversum. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher (Aisthesis, Bielefeld 1999) als einer der besten Kenner des Werks dieses nur einem erweiterten Insiderkreis bekannten Autors (woran auch der Film Brinkmanns Zorn letztlich wenig ändern wird). Ich habe Herrmanns Buch mit Genuß und großem Gewinn gelesen. Über zehn Jahre lang lebte Brinkmann in einer Seitenstraße Kölns, der Engelbertstraße Nummer 65. In Köln gibt es zwar das recht gut dotierte Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium (das auch Thomas Kling einst erhielt), aber das heißt nicht, daß Brinkmann auch nur annähernd so bekannt unter Kölner Deutschlehrern ist wie etwa Heinrich Böll. Das Gegenteil ist der Fall. [Nach Paul Schallück ist sogar eine Straße benannt (ganz in der Näher des Uni-Centers), aber auch mit diesem Autor haben die Kölner (und andere) Leser nicht viel im Sinn. Demnächst soll eine Ausgabe der gesammelten Werke Paul Schallücks im Verlag Ralf Liebe – für ein Revival sorgen. Was für eine frohe Botschaft.] Wenn der arme Brinkmann von diesem Stipendium wüßte, er würde sich nicht krank-, nein, er würde sich mal wieder kaputtlachen, denn wer zu Kölner Lebzeiten so gegen Wände gelaufen ist und später als Ikone gehandelt wird, nein, das wäre seine Sache nicht gewesen. Oder täusche ich mich?
Der unbeugsame Brinkmann paßte vom Naturell her nicht ins klüngelige Köln, wo man gern die Fünf gerade sein läßt, und ich frage mich, warum er dieser Stadt und ihren Menschen, die er gehaßt hat, wie man eine Stadt und Menschen nur hassen kann, nicht den Rücken kehrte. [Möglicherweise scheiterte es immer wieder nur am blöden Gelde. So erzählte mir Michael Hamburger, Brinkmann, mit dem er für den 24. April 1975 verabredet gewesen sei (statt dessen habe Jürgen Theobaldy mit der Todesnachricht vor der Tür gestanden), habe ihn während der Tage in Cambridge inständig gebeten, ihn bei einer Übersiedlung nach London zu unterstützen.]
Natürlich wäre Köln wiederum nicht Köln, wenn es nicht all die vielen Künstler und Schriftsteller beherbergen würde, die mit dieser Stadt in einer Haßliebe verbunden sind oder waren. Beispielsweise hat Dieter M. Gräf in einem Gespräch, abgedruckt in der von Jochen Arlt edierten literarischen Anthologie Junger Westen (Rhein-Eifel-Mosel-Verlag, Pulheim 1996), dazu einiges Bemerkenswerte gesagt. [Mittlerweile ist Gräf – wie etliche aus dem ganzen Land – nach Berlin abgewandert, um an die dortigen für Literatur bereitgestellten Fleischtöpfe zu gelangen. Dieter M. Gräf scheint zu diesen streunenden Literatur-Nomaden zu zählen, die für das öffentliche Geld, das sie hier und da ergattern können, ihr Seelchen verkaufen. Aus einer solchen mich an das Leben von Parasiten erinnernden Lebenshaltung entsteht kein überzeugendes literarisches Werk. Wer wäre ein besseres Beispiel als Rolf Dieter Brinkmann für die Untermauerung der Bennschen These, kein Satz, kein wirklicher Satz komme zustande, wenn nicht hinter ihm das ganze Pathos und das ganze innere Leiden der Persönlichkeit stehe? Das kann jedenfalls Dieter M. Gräf, der für das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium vielleicht doch nicht der geeignete Kandidat war, nicht für sich beanspruchen. Da ist Anne Dorn von andrem Schrot und Korn: Köln als Hauptadresse, dazu einen erreichbaren Flecken in der Eifel, an dem mich nichts außer Ameisen, Schmetterlingen, Greif- und Singvögel, Gestrüpp und freie Luft erwartet, ist die Verlockung, der ich erlegen bin.]
Im Dezember 1998 erreichte mich eine Postkarte von Arlt, die mich darüber in Kenntnis setzte, daß Westwärts 1 & 2 wieder verfügbar sei. Die Karte bewirkte einen Endorphinschub, der mich taumeln ließ. Am 6. Januar 1999 stieg ich die enge, steile Treppe zur Kölner Bahnhofsbuchhandlung hinab (hier hat sich Brinkmann auch immer wieder Bücher besorgt, eine Angestellte erinnert sich gut an ihn) – und tatsächlich: Da stand das Buch, gleich zehnmal schön in Reih und Glied hintereinander. So einfach war das also. Im Überschwang meiner Freude sagte ich leichthin zu der Dame, die die achtzehn Mark und neunzig Pfennige kassierte: „Auf dieses Buch habe ich jahrelang gewartet. Ist die Nachfrage denn schon rege?“ „Ach was“, meinte sie, „wieso denn auch, der Brinkmann ist doch längst passé.“ Mist, dachte ich, hättest du doch nichts gesagt, denn auf eine Diskussion einlassen wollte ich mich nicht, konnte aber nicht umhin, ihr im Gehen noch zu sagen, daß sie mit ihrer Meinung auf dem Holzweg sei. Eine weitere Reaktion wartete ich nicht ab, es war mir einfach zu blöd. [In den Tagen der Niederschrift dieser Zeilen – im April 2005 – erscheint – endlich, endlich – die ursprüngliche Fassung von Westwärts 1 & 2: 360 statt 188 Seiten. Dreißig Jahre lang haben die Leser Brinkmanns darauf gewartet. Dreißig Jahre. Es ist ein grandioses, ein kolossales, ein mitreißendes Buch.] So ist das mit Brinkmann: Nichts geht glatt bei dem Mann, nicht einmal der Kauf eines seiner Bücher. Das beweist ja auch wieder der oben erwähnte, während der verregneten Sommertage des Jahres 2002 erschienene FAZ-Artikel, zu dessen Niveau Axel Kutsch nur noch ein Wort einfiel: „Unsäglich“. Symptomatisch auch die Erfahrung mit dem Artikel in der Digitalenzyklopädie Encarta: Überrascht war ich zunächst einmal über die Länge des Artikels, und beim Lesen stellte ich kopfnickend fest, daß dieser Text einen recht guten Überblick über Werk und Wirkung Brinkmanns vermittelt:
Brinkmann, Rolf Dieter (1940-1975), Schriftsteller. Aufgrund seiner Affinität zur amerikanischen Subkultur Ende der sechziger Jahre gilt er als Begründer einer deutschsprachigen Variante der Underground-Literatur. Brinkmann wurde am 16. April 1940 in Vechta geboren. Nach einer Beschäftigung als Verwaltungsangestellter und einer Buchhändlerlehre begann er 1963 ein Pädagogikstudium. Bereits nach 1959 entstanden zahlreiche Gedichte und Erzählungen, die zwar in Kleinverlagen erschienen, jedoch weitgehend unbekannt blieben. Seit Mitte der sechziger Jahre lebte Brinkmann als freier Schriftsteller, oftmals am Rand des Existenzminimums. Sein 1968 veröffentlichter Roman Keiner weiß mehr machte ihn mit einem Schlag bekannt. Die ein Jahr später folgenden Prosasammlungen Silver Screen avancierten zur Standardlektüre vor allem in der bundesdeutschen 68er-Generation (siehe Studentenbewegung). In der gleichen Zeit wurden u.a. die Lyrikbände Godzilla (1968), Die Piloten (1968) und Gras (1970) publiziert, die allesamt die Züge amerikanischer Popkultur trugen. Auch durch Übersetzer- und Herausgebertätigkeiten (ACID. Neue amerikanische Szene, 1969, zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla) machte Brinkmann die Untergrunddichtung der USA im deutschen Sprachraum bekannt. Zwischen 1970 und 1975 verebbte seine Schaffenskraft. 1974 hielt er sich als Gast des German Departement der Universität Austin (Texas) in den Vereinigten Staaten auf. Brinkmann starb am 23. April 1975 bei einem Autounfall in London. Brinkmann gehörte zu der von Dieter Wellershoff initiierten Kölner Schule des neuen Realismus. Dabei verband er eine wirklichkeitsnahe Darstellungsweise mit modernen Verfahren wie den Stream of Consciousness oder der Montage, wobei er auch Werbespots und Reklameworte miteinbezog. Düstere Zukunftsprognosen, geradezu apokalyptische Visionen und eine starke Aversion gegen den westlichen Kulturbetrieb kennzeichnen die Periode von 1970 bis zu seinem Tod; paradigmatisch wird dies in World’s End (1973) und der autobiographischen Briefsammlung Rom, Blicke deutlich, die während eines Stipendiums der Deutschen Akademie Villa Massimo (1972/1973) in Italien entstanden. Weitere Werke des Autors sind die Erzählungen Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966), die Gedichtbände Was fraglich ist wofür (1967), Westwärts 1 & 2 (posthum 1975), Standphotos (posthum 1980) und Eiswasser an der Guadelupe-Straße (posthum 1985) sowie die autobiographische Sammlung Der Film in Worten (posthum 1982). Darüber hinaus drehte Brinkmann Experimentalfilme und trat als Organisator multimedialer Events hervor.
Den Kopf schüttelte ich allerdings, als ich auf den Satz „Zwischen 1970 und 1975 verebbte seine Schaffenskraft“ stieß. Das Gegenteil ist der Fall. Nach 1970 zog sich Brinkmann in die Wohnung in der Kölner Engelbertstraße am Rudolfplatz zurück (wenn er denn nicht als Stipendiat in Rom bzw. als Gastprofessor in Austin/Texas weilte oder im Hunsrück auf einem besonders extremen Rückzugstrip von der Gesellschaft war) und collagierte, fotografierte, las, montierte, reflektierte und schrieb, schrieb, schrieb, schlug am Tag und vor allem in der Nacht mit den Tasten der Schreibmaschine wie besessen und berauscht Buchstaben auf das Papier – entgegen weit verbreiteter Ansichten viel, viel, viel intensiver als je zuvor.
In diesen letzten Jahren seines Lebens bereitete Rolf Dieter Brinkmann in Form von Materialienbüchern (die noch nicht alle publiziert sind, nehme ich an) sein opus magnum vor, das alles bisher Dagewesene überwinden sollte. Vorbilder wie Louis-Ferdinand Céline (Reise ans Ende der Nacht), Blaise Cendrars (Moravagine), Hans-Henny Jahnn (Fluß ohne Ufer, Perrudja), Arno Schmidt (Zettels Traum) [Die Originalausgabe verscherbelte er nach der Lektüre aus Geldnot an ein Antiquariat – wie so viele andere Bücher auch.] und Claude Simon (Die Akazie) hatten ihm Vorlagen geliefert, die er unbedingt zu übertreffen suchte. Diese Romane waren, bei aller Faszination, die sie ausüben mochten, immer noch viel zu sehr aufs Wort fixiert; wie beispielsweise James Joyce mit Finnegans Wake wollte Brinkmann den Literaturbegriff, den Roman an sich sprengen, nicht mehr in Kategorien denken und schreiben und zu einer gewaltigen, gleichsam wortelosen Urform vorstoßen, die alles umfaßte, was Leben bedeutete. Ist das möglich? (Nein.) Ist das Material bereits das Werk?
Brinkmann ging es nicht um akademische Formfragen, ob nun Erzählung oder Gedicht oder Essay oder Cut-up oder Montage oder Collage oder Brief oder Foto die adäquate Ausdrucksmöglichkeit sei, Inhalte, Phänomene, Stoffe usw. festzuhalten, nein, Brinkmann ging der Frage nach, was denn Leben sei, was denn Literatur sei, was denn Sprache sei, was denn Kommunikation sei – oder wie Leben und Literatur und Sprache und Kommunikation noch und wieder möglich seien.
Und das nicht in höflichen, Meinungen wie Pingpong austauschenden Seminarsitzungen, bei denen man nachher auseinandergeht, als sei nichts gewesen, sondern in aufs Ganze gehenden, energie- und schlafraubenden, schweißtreibenden, hochkonzentrierten, rauschhaften, entgrenzenden Bewußtseinserweiterung und Euphorie auslösenden Mammutsitzungen an Schreibmaschine und Schreibtisch, sich selbst hemmungslos und total einbeziehend und sich und die Umwelt nicht im geringsten schonend.
Hier lebte Rolf Dieter Brinkmann in der Literatur, erfüllte Literatur im Leben. Gerade nach 1970 verwirklichte er dieses Leben mehr als je zuvor – materielle Armut und Isolation zähneknirschend oder wutschnaubend in Kauf nehmend: Welch eine zynische Phrase, die hier den Kern der Dinge zu treffen scheint.
Nur so konnte Brinkmann sein: Leben und Literatur waren für ihn ein und dasselbe. Er war kein lügender Dichter, wie Zarathustra ihn beschreibt. Für ihn gab es nur das Leben, das Leben bedeutet und nicht Formblatt oder Bürokratie oder Gesetzgebung oder Verordnung oder: man. Leben heißt: ich. Einmal und nie wieder. Leben ist: anarchisch, blau, chaotisch, dicht, energiegeladen, futuristisch, groß, himmlisch, intensiv, jokular, kapriziös, lebendig, musikalisch, nervenkitzelnd, omnipräsent, praktisch, qualvoll, radikal, sinnlich, total, universal, verwegen, wundervoll, zufällig.
Brinkmanns Leben, so wie ich es mir vorstelle, war geprägt in erster Linie von Haß, der verkappten Sehnsucht nach Liebe. In der Mehrzahl seiner Texte, in denen er Haß und Sehnsucht gleichermaßen offenbart, stempelt sich Brinkmann gleichsam zum Romantiker. [Welcher Verfasser literarischer Texte ist das nicht?] (By the way: Das deutsche Wort Charakter kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet => Stempel.)
Haarscharf nahm Brinkmann wahr, was um ihn herum geschah, und er kam zu keinem guten Ergebnis. Das sollte Leben sein? Gewalt, Korruption, Oberflächlichkeit, Unwahrheit und Unrecht waren die Auswüchse dieses faschistoiden, kapitalistischen westdeutschen Demokratismus, in dem Konzern, Medien, Partei alles, die einzelnen Menschen nach wie vor nichts waren. Wir erinnern uns alle, was gewisse Politiker bereits kurz nach 1945 über Schriftsteller und Künstler, die Sandkörner ins wirtschaftswundersame Getriebe schmissen, zu sagen wagten und – Beifall dafür erhielten.
Welt und Leben in der Öffentlichkeit waren für Brinkmann grundsätzlich schwer nur zu ertragen. Empfand er je Glück? Ich glaube ja – an der Schreibmaschine. Ich möchte betonen, daß Rolf Dieter Brinkmann mich ausschließlich als Schriftsteller, besser noch: als Prototyp des Schriftstellers interessiert. [Wie Benn, Brambach oder Bukowski; es gibt zahlreiche Namen, die ich hier nennen könnte – mit dem einen Unterschied: Brinkmann ist derjenige, der mich am stärksten beseelt, fesselt und begeistert.] Ich möchte keinen Blick in sein Elternhaus werfen, sein Schlafzimmer ist mir schnuppe, ich möchte nicht an sein Grab in Vechta gehen, von dem ich einmal nur 200 Meter entfernt war. Am 11. September 2001 allerdings stand ich mit Jan Röhnert vor dem Haus Nummer 65 in der Kölner Engelbertstraße, in dem er viele Jahre zur Miete gewohnt hat. Ich will mich nicht in die Privatangelegenheiten dieses Menschen mischen, eines Menschen, der ein literarisches Werk hinterlassen hat, das mich immer beschäftigt.
Interessant hingegen ist beispielsweise der Blick in die zahlreichen Gedichtbände, in denen wir einem Lyriker begegnen, der es versteht, Wortdias zu entwerfen, in denen ich die Dinge, dir mir schon tausendunddreimal begegnet sind, nun gleichsam ausgedehnt sehe. Auch wenn Brinkmann selbst auf Distanz gegangen ist zu seinen früheren Gedichten (welcher ernsthafte Schriftsteller täte das nicht immer wieder), so finden sich hier doch Gedichte, die zu den stärksten gehören, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre geschrieben wurden.
Ich bin fasziniert, wenn ich in den unheimlich langen Texten aus Briefe an Hartmut Einblick in ein Gehirn erhalte, das sich dem gängigen Sprechen und Denken widersetzt und dieser von ihm als grauenvoll empfundenen deutschen Sprache dennoch Ausdrucksmöglichkeiten abringt, die er halbwegs hinnehmen kann.
Ich finde es traurig, wenn Zeitungen zu seinem zwanzigsten Todestag nichts Besseres zu tun haben, als Mutmaßungen darüber anzustellen, ob Brinkmanns Verhältnis zu seinen Eltern trübe war (wovon laut Brinkmanns eigenen Aussagen unbedingt auszugehen ist), und Nachbarn zitieren, die dem Vater einen Persilschein ausstellen. Es ist weiterhin unerheblich, ob irgend jemand irgendwann einmal gesagt hat, Brinkmann sei das einzige literarische Genie, das Westdeutschland hervorgebracht habe. 1995 war in mehr als zwanzig Zeitungsartikeln, die Gunter Geduldig (der damalige Vorsitzende der Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft mit Sitz in Brinkmanns Geburtsstadt Vechta) mir unverlangt in Kopie zuschickte und nach deren Kenntnisnahme ich mich so schlecht fühlte, daß ich mich nur durch die Verwurstung der Kopien zu Collagen (die Teil des Bandes das letzte wort hat brinkmann wurden) zu helfen wußte, auch diese Schnurre nachzulesen, so, als habe der eine sie vom anderen abgeschrieben.
Brinkmann ist wahrhaftig ein lebender Toter: Noch heute ist er anscheinend eine Bedrohung für das sogenannte Establishment, das er als das entlarvt, was es ist: ein hirnloses Machtkonglomerat namenloser kapitaldiktierter Würstchen, das sich natürlich nicht die Mühe machen will, seine Bücher zu lesen, zu verstehen, seine Gedichte zu lesen, zu begreifen. Überhaupt: Wen interessieren schon Gedichte? Wen interessiert „experimentelle“ (also: „unlesbare“) Literatur? Nicht wenige Leser (darunter auch Literaten) empfinden die Lektüre von Brinkmanns herben Materialienbänden als gleichsam lebensbedrohlich.
Neben mir liegt der Materialienband Schnitte: In diesem radikalen Buchstaben- und Bilderbuch wird auf einhundertachtundfünfzig großformatigen (engbeschriebenen, teilweise zwei- oder dreispaltigen, absatzlos dahinjagenden) Seiten das widerwärtige Leben in rücksichtslos brutalen Collagen bloßgestellt. Das ist mühevolle Lesearbeit, zumal die Seiten keineswegs sauber gesetzt, sondern faksimilierte Wiedergaben der ursprünglichen Schreibmaschinenseiten sind, die mir mit durchgeixten Wörtern, dauernden Korrekturen usw. das Leben schwermachen. Da geht es buchstäblich, wortwörtlich drunter und drüber. Die Lektüre ist anstrengende, kraftraubende Trauerarbeit, zumal der seitenlange, unaufhaltsame, von einer Assoziation zur nächsten rasende Bewußtseinsstrom mich fortlaufend weiterreißt, den nächsten Abgrund hinab, über das nächste Gedankenriff, zum nächsten Vorort der Seelenhölle.
Ich stelle mich dieser Lektüre, die mir das ungeheure Erkenntnisinteresse eines bildungshungrigen Menschen vor Augen führt, der sich gewaltsam von seiner familiären und gesellschaftlichen Herkunft zu lösen versucht, der nichts als Verfasser von Texten sein will, total und ganz und gar: Rom, Blicke, Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, Schnitte und teilweise auch Der Film in Worten sind Bücher, die Schmerzen verursachen, aber es sind Bücher, die sich radikal den Dingen nähern, nach denen ich suche.
Ja, Brinkmann will es wissen.
Die Materialienbände entstanden ausnahmslos nach 1968. Mit Sicherheit hatte sich Brinkmann mehr von den im Mai 1968 in Paris stattfindenden, von über zehn Millionen Menschen unterstützten Aktionen erhofft, die weit über das hinausgingen, was in Berlin in jener Zeit vor sich ging. Am Ende standen die Träumer sozusagen mit leeren Händen da. Kämpfer und Hoffnungsträger wie Rudi Dutschke (den Brinkmann kritisch sah – wen nicht?), Che Guevara und Martin Luther King hatten sich, wie der Prager Student, gleichsam in Rauch aufgelöst. In Deutschland war eine weitere Revolution gescheitert – wie alle anderen zuvor, aber diesmal nicht nur in Deutschland.
Das Establishment konnte sich in der Folge breiter machen denn je, auch wegen des jahrelangen Bürgerkriegs, den eine Reihe von Brinkmanns Zeitgenossen vergeblich und mit verwerflichen Mitteln führten. Vergeblich? Ich will nicht pessimistisch sein. Es heißt ja auch immer wieder, die Schriftsteller seien im Prinzip überflüssig in dieser Welt, aber das glaube ich nicht. Jeder Mensch erfüllt seine Mission. Oft unsichtbar, oft nicht erkennbar, sind auch die scheinbar vergeblichen Kämpfe der Schriftsteller keineswegs vergeblich: Sie werden weitestgehend immerhin ignoriert. So füllen sie ein gesellschaftliches Vakuum, dessen geheime Auswirkungen noch nicht erforscht sind. Wenn das nichts ist.
Rolf Dieter Brinkmann ist, wie bereits betont, kein Dichter, der lügt. Auch darum hatte er zu Lebzeiten nie den großen Erfolg. Wäre Brinkmann überhaupt bekannt geworden ohne die Unterstützung von Dieter Wellershoff (der damals Cheflektor bei Kiepenheuer & Witsch war), von dem er sich aber wieder abwandte? Müßig eigentlich, die Frage, aber sie steht im Raum, seit ich sie mit Harald Gröhler, der Brinkmann verschiedentlich begegnete, diskutierte. Immerhin: Der Roman Keiner weiß mehr (1968) wurde reichlich verkauft, und ein Kritiker, der sich vor Büchern fürchtete, die mit Maschinengewehren verglichen wurden, überschlug sich beinahe mit seiner Lobrede. Hoppla. Ich will notabene nicht behaupten, alle erfolgreichen Autoren müßten ein Leben führen wie beispielsweise Bertolt Brecht (der trotz allem zahlreiche große Gedichte hinterlassen hat). In diesem Text geht es mir ausschließlich um meine Sicht von Brinkmann, wie ich ihn erlebe, wenn ich seine Bücher lese: Es sind immer nur Wörter, Formulierungen. Aber was ist denn da, tatsächlich? Das kann Sprache, Formulierung nicht sagen.
Brinkmann ging keine Kompromisse ein. Immer wieder machte er Schnitte, wenn es ihm zu bunt wurde. So landete er schließlich bei Rowohlt (ohne selbst noch etwas davon zu haben), nachdem es mit dem Verlag Kiepenheuer & Witsch nicht mehr ging. Harald Gröhler erzählte mir, wie er zufällig dem die Treppe hinunterpolternden Brinkmann im Kölner Verlagshaus begegnet sei. Die Zusammenarbeit mit Rowohlt war auch nicht gerade berauschend für Brinkmann. Erst dreißig Jahre später – im Jahre 2005 – erscheint Westwärts 1 & 2 in der kompromißlosen Fassung Rolf Dieter Brinkmanns.
Es wird ernsthaft behauptet, Zu- und Abneigung würden in Sekundenbruchteilen bei der ersten Begegnung entschieden. Wenn dem so ist, dann weiß ich, warum ich den Autor Brinkmann so gut finde. Ich habe ihm natürlich nie in die Augen gesehen. Aber die Art, wie der englische Poet Richard Burns (Begründer jenes ersten internationalen Cambridge Poetry Festival im Jahre 1975, bei dem Brinkmann zum letzten Mal las), den ich während eines Arbeitsbesuchs im Sommer 1986 in Cambridge traf, mir in die Augen blickend sagte: You don’t know Rolf Dieter Brinkmann? Amazing. He’s a fine German poet. A very fine German poet, öffnete mir erstmals die Augen für Brinkmann.
Ich will hier keine übertriebene Vorstellung vermitteln, nein, es war einfach so: In jenem Augenblick lief ein Schauer mir sanft den Rücken herunter. Ich spürte, daß ich in jenen wenigen Sekunden an zwei Dichterleben teilhatte: Es quoll in mir auf, wie etwas Unbestimmtes, Süßes, Liebes und Vergangenes. (Hugo von Hofmannsthal) Vielleicht wurde in dem Augenblick erst eigentlich der Schreiber in mir geboren. Was auf jeden Fall geboren wurde: Ihr nennt es – Liebe?
Eine Liebe, die gewiß auch mit meiner Vorliebe für die amerikanischen Beatniks und deren Nachfolgern zu tun haben muß, die ein wenig von dem kernigen, halbwegs ehrlichen Amerika retteten, das bereits in der Ära McCarthy zu großen Teilen zum Teufel gejagt wurde. Denn Brinkmann war es ja, der die amerikanische subkulturelle Literatur der 1960er Jahre nach Deutschland brachte und mit der heute noch lebendigen, unübertroffenen Anthologie Acid populär machte.
Brinkmanns Gedichte sind ohne die Auseinandersetzung mit amerikanischem Beat und Pop, ohne die Kenntnis der Lyrik jener tabubrechenden amerikanischen Autoren nicht denkbar, Autoren, die auf einfache, direkte, obszöne, sinnliche und radikale Art und Weise sowohl die gängigen Formen und Themen als auch den üblichen Wortschatz sprengten. Alles dringt nun ins Gedicht ein, vor nichts wird mehr haltgemacht. Das war in Deutschland bis dahin – undenkbar.
In erster Linie waren es die Gedichte von William Carlos Williams und Frank O’Hara, die Brinkmann den Weg zu seinem Gedicht wiesen, das mich deshalb fasziniert, weil es nicht beschönigt, gerade deshalb schön ist und in präzisen, zugleich wilden freimetrischen Versen subjektiv Erlebtes in seine wahrhaftige und abgründige Welt transformiert, auch mythisiert. Es findet kein Raunen mehr statt, [Hier wird – vielleicht – der Einfluß der Lyrik des 1956 verstorbenen Gottfried Benn auf Brinkmanns Gedichte deutlich. Die Mehrzahl der lebenden deutschen Dichterinnen und Dichter wird grundsätzlich und gnadenlos abgewatscht.] und jeder Mensch, der sich den Gehörgang hat offenhalten können, kann an diesen Wörtern, Klängen und Gängen teilhaben:
GEDICHT
Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich
mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?
Wer hat gesagt, daß so was Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
Bei diesen Gedanken möchte ich es im Prinzip belassen, darum abschließend nur noch einige marginale Notizen: Der größte Teil dieses Aufsatzes ist an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Januar 1999 entstanden (überarbeitet und erweitert am 9. bis 11. August 2002, am 3. bis 15. April 2005 sowie vom 27. bis 30. Januar und 10. bis 12. Oktober 2007). An jenen drei Tagen im Jahre 1999 las ich Hans Egon Holthusens Gedichtband Labyrinthische Jahre (Piper, München 1952) sowie Harry Mulischs Essayroman Die Zukunft von gestern (Bittermann, Berlin 1995). Der Zusammenhang, der sich zwischen den drei Texten in meinem Bewußtsein ergab, war verblüffend: Mulischs kreative Analyse des Nationalsozialismus und seine Kritik an der Nachkriegsrestauration präfaschistischer Vorkriegsverhältnisse, die er mit den 68ern teilte, sowie Holthusens apokalyptische, pessimistische Todesgedichte, aus denen ich im Anschluß neun Verse zitiere, vervollständigten mein Bild des dichtenden deutschen Menschen Rolf Dieter Brinkmann und seiner Zeit:
Wie das ertragen, diesen lautlosen Andrang der Ewigkeit,
Wie halten wir’s aus, mitten in der Stadt, unter tausend eiligen Leuten,
Nachmittags gegen halb fünf, die Abendzeitung in der Manteltasche,
Vor uns ein kleines Geschäft, das in der Benommenheit unsrer Gehirne
Wie eine grüne Verkehrsampel brennt unterm Nebel!
Wer bewahrt uns vor einer raschen Verwandlung der Szene ins Tödliche:
Maschinengewehre anstelle von Preßluftbohrern und Aufständische im Telegraphenamt,
Handgranaten in ein Fenster fallend, und wer nach sechs auf den Posten trifft,
Wird verflucht und an die Wand gestellt.
Am 7. April 1997 hielt ich mich nachmittags vor meiner Lesung in einem düsteren Hotel in Vechta auf und fühlte mich fürchterlich deprimiert und verlassen. Sicherlich beeinflußt durch die zahlreichen Aussagen Brinkmanns sah ich Vechta vom ersten Augenblick an negativ, und schließlich rettete mich in jenem kalten Hotelzimmer die Lektüre des mehr als fünfzigseitigen Langgedichts „Eiswasser an der Guadelupestraße“, das ich damals noch nicht kannte und das Gunter Geduldig mir aus der RDB-Sammlung der Hochschule Vechta bis zum Abend zu treuen Händen geliehen hatte. Ich erlebte die Simultantechnik eines ständig das Totale einfangenden Dichters als so aufregendes Leseerlebnis, das sich die aufziehende Depression in Wohlgefallen auflöste.
Als Einstiegslektüre für den vorsichtigen Buchinvestor empfehle ich den Reclam-Band Künstliches Licht, der eine passable Auswahl aus Brinkmanns Werk bietet. Wer aufs Ganze gehen will, [Wer will das nicht?] der sollte sich neben Standphotos, Westwärts 1 & 2, den Erzählungen sowie dem Roman Keiner weiß mehr unbedingt die angesprochenen Collagebücher bzw. Materialienbände besorgen.
Das bislang vorliegende Werk erscheint bei Rowohlt. Ich bin gespannt, wann auch die letzten verstreuten, bislang nur in Zeitschriften bzw. Anthologien erschienenen Gedichte und sonstigen Texte in einem Band zusammengefaßt vorliegen. Ich finde es bedauerlich, daß weder das schöne Gedicht „Meine blauen Wildlederschuhe“ noch das fulminante „Vanille“ beispielsweise in einem der zehn Gedichtbände zu finden ist. Die eintausendfünfhundert numerierten Exemplare von Eiswasser an der Guadelupestraße (1985) sind – wie vieles andere – längst vergriffen.
Wer weiteres wissen will, dem empfehle ich die aufschlußreiche, 1997 von Gunter Geduldig und Claudia Wehebrink herausgegebene Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann, eine kolossale Fundgrube, die in mehr als eintausendzweihundert bibliographischen Anmerkungen (nahezu) alles von und (das meiste) über Rolf Dieter Brinkmann zusammenfaßt. Schön wäre es, wenn das Buch in einer erweiterten Neuausgabe erscheinen könnte. Viel, viel Neues ist nach 2000 erschienen und nicht nur von mir bibliographisch zusammengetragen worden.
Am Telefon erfuhr ich kurz nach Neujahr 1999 von Bert Brune, dem sympathischen Kölner Südstadtautor (der seit einigen Jahren auf der anderen Rheinseite lebt), er habe gelesen, daß neben Westwärts 1 & 2 auch Brinkmanns Briefband Briefe an Hartmut erschienen sei. Während der Lektüre dieses Buches wird mir wieder und noch einmal bewußt, über welche Schreibpower dieser Mensch verfügte. Über zehn, zwanzig engbeschriebene Schreibmaschinenseiten gehen diese tagebuchähnlichen Briefe in kurzen Abständen an den in Austin (Texas) lebenden Hartmut Schnell, der eine Dissertation über einen Gedichtband Brinkmanns vorbereitet und vom Autor leidenschaftliche Unterstützung erhält. Diese Briefe sind Mammuttexte, in denen wir mitreißende geistige Wortachterbahnfahrten erleben.
In Bert Brunes Roman So weit, daß du die Träume lebst (Köln 1989) erlebe ich einen Menschen, der wie Brinkmann viel Zeit mit Herumgehen und Beobachten und anschließendem Notieren verbringt. Während der Lektüre stoße ich auf ein Rolf Dieter Brinkmann gewidmetes Kapitel, aus dem ich diesen Abschnitt zitieren möchte:
Brinkmann, ein Fanatiker von Fakten, wie er sich selbst nannte und es von sich forderte, beschrieb jeden Bauzaun, den Ölfleck auf dem Asphalt vor seiner Haustür – und eben auch die Lokale, Kneipen, die Diskotheken, die er besuchte, sogar die Bordells in der Kleinen Brinkgasse, und notierte gewissenhaft den Preis für seine Orientzigarettenpackung, und man erfuhr, wieviel der Wein im Wiener Wald am Ring kostete… Brinkmann war allerdings – im Gegensatz zu mir – ein unermüdlicher Hasser seiner Stadt, wohl allgemein jeder Großstadt (…) dieser Dichter gab jedem seiner Leser einen Adrenalinstoß, man sah selbst nun unwillkürlich genauer hin, nahm seine Umgebung intensiver wahr, fühlte sich aufgefordert, selbst zu notieren, zu reflektieren, und alles, was um einen herum geschah, zu registrieren und zu beurteilen.
Ich also gleich am nächsten Morgen in die Bahnhofsbuchhandlung, und ich habe Glück: Das Buch ist da. (Von den zehn Westwärts-Exemplaren sind nur noch drei da, sieh an.) Ich habe weiterhin Glück, denn es ist eine andere Angestellte an der Kasse, und ich kann es wieder nicht lassen, eine Bemerkung zu Brinkmann zu machen, und ich habe noch einmal Glück, denn Frau Broekmann, mit der ich seit jener kurzen und freundlichen Begegnung immer wieder ein literarisches Schwätzchen halte, reagiert interessiert und meint erstaunt: „Ja, daß die den Brinkmann wieder ausgraben!“
Von wegen „ausgraben“. Zurück im April 2005 denke und behaupte ich: Brinkmann ist nie eingegraben worden. Ja, ja, sterbliche Hülle und so, das mag sein. Und ich weiß, auf dem Familiengrab in Vechta steht:
Rolf Dieter Brinkmann 1940–1975
Trotzdem.
Theo Breuer, aus: Theo Breuer: Kiesel & Kastanie, Edition YE, 2008
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Reiner Niehoff: Wütender Flaneur. Der akustische Nachlass des Dichters Rolf Dieter Brinkmann
Ihr nennt es Sprache: Rolf Dieter Brinkmann – Zum Todestag von Rolf Dieter Brinkmann lasen am 22.4.2010 Hans Christoph Buch, Matthias Göritz, Günter Herburger, Stephan Turowski in der Literaturwerkstatt Berlin. Die Moderation hatte Jan Röhnert.
Frank Schäfer: Ein totes Stinktier. Wie fühlte sich Rolf Dieter Brinkmann 1974 in Austin, Texas?
Ulrich Rüdenauer: Rolf Dieter Brinkmann: Einen Tag älter, tiefer und tot. Todesarten
ERDE – BRINKMANN-TAGE IN VECHTA
für Marco Sagurna und R.D. Brinkmann
Feuer, lieber Freund, ich warne
Generell davor. Es ist gesünder,
Du spielst nicht mit der Liebe
Zünder! Schreib Dir das
Westwärts hinters Ohr, in Erinnerung
An Rauchzeichen, an vergangene
Helle und schwarze Tage
Im Moor bei Vechta voller
Leichen. Auch an die Zeit
Danach und davor. Damals
War ma noch lauter
Dichter, lebendig, hoffnungsfroh und so
Jung: Mar&CO und nix
War schlechta! Auch die Welt war nit
Gerächt da. Aber wir alle Genies.
Horst Samson
NACHTRAG, ROLF DIETER BRINKMANN BETREFFEND
Seltsam, nicht wahr, dass es vorn kaum Überlebende gab:
aaaaaaufbegehrende, widerborstige Körper
aaaaaaaaaawurden gierig geschluckt, schluckten selbst,
aaaaaschossen, spritzten, suchten,
wie Pasolini,
Gefahr: Stock & Fick, Straßenköter, Gürtelschnallen.
aaaaaJedoch der aus Vechta, aus der Engelbertstraße
aaaaaaaaaain Köln, schrieb er nicht nur am nordischen
Einzelnen-Beat & hörte, was Boxen hergaben?,
aaaaakümmerte sich ums behinderte Kind &
aaaaaaaaaakümmerte sich nicht, schnippelte sich aus
der Hochkultur, nörgelte, klemmte, unerreicht von den
Zitronen
bäumen im römischen Stipendiatenpark, Eleganz
perlte von ihm ganz ab, stand auf
Schwarzweißtitten & Endlosbriefe an Maleen, übersetzte
aaaaaAmerikaner, ließ sich also, dem Radio zuliebe,
aaaaaaaaaaauf eine Fremdsprache ein, war ästhetisch
links, schimpfte auf Linke, den Zeitgeist, Brüste
aaaaaaaaaader Nachbarn. Er ist bestimmt nicht
aaaaaabsichtlich ins karmische Auto gelaufen, in London,
mit 35 – hat aber auch was erhalten, als Entschädigung für alle
inzwischen
aaaaaaaaaaaufgegangenen Magnolien, für so viel
aaaentgangene Sonne auf nicht zwangsläufig krebsiger
Haut.
Ich merke auch nach einiger Zeit, die ich mit solchen Leuten
verbringe – Michael Krüger hatte sich zu ihm gesetzt – ,
daß sich im Hinterkopf ein Krampfzustand ergibt, je länger diese Wörter
um mich herum sind, bis ein hartes, graues Kopfweh da ist
oder ein taumeliger Zustand, weil der Raum mit einem Mal ganz leer
gefressen zu sein scheint,
alle Farben weg, alle Wahrnehmungen erloschen
Ein Unliebling der Götter gehört nicht hierher,
wird verehrt, weil er nicht weitere 35 Jahre
aaaaaaaaaaan jenen Tischen hockte &
war dort nicht, weil er tot ist. LEGENDE & leben –
das verträgt sich schlecht. Was hätte er tun sollen, all
die Jahre? Dauernd vom Leder ziehn? Das
ist das Letzte; die Sprachen der fütternden Hände
dem Allerwertesten anempfehlen & stattdessen im Parkhaus
Kohle holen? Wer’s glaubt Wir hätten es schlecht
vertragen, ihn kennen zu lernen & ihm was das auch nicht zuzumuten.
Dieter M. Gräf
Dieter Wellershof: Alleinsein ist wie ein Gas, das ausströmt
Kölner Stadt-Anzeiger, 26./27.4.1975
Hans-Bertram Bock: Der Tod in Londons City
Nürnberger Nachrichten, 26./27.4.1975
Marcel Reich-Ranicki: Aber ein Poet war er doch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1975
Wolf Wondratschek: Er war too much für euch, Leute
Die Zeit, 13.6.1975
Günter Herburger: Des Dichters Brinkmann Tod
Die Zeit, 13.6.1975
Alex Rühle: Die Welt als Rohmaterial
Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000
Werner Olles: Unstillbare Sehnsucht
Junge Freiheit, 21.4.2000
Peter Henning: „Ich bin ein Dichter!“
Basler Zeitung, 23.4.2005
Ulrich Rüdenauer: In ein anderes Blau
literaturkritik.de, Nr. 5, Mai 2005
Ulrich Rüdenauer: Der große Außenseiter
Deutschlandfunk, 13.4.2005
Galerie Foto Gezett
titelmagazin.com, 22.4.2005
Markus Fauser: Er war kein Urvater des Pop
literaturkritik.de, 1.4.2015
Theo Breuer: Flickenteppich · Blicke auf Brinkmann
poetenladen.de, 14.4.2015
Jens Uthoff: Der Wortvandale
die tageszeitung, 16.4.2015
Stefan Lüddemann: James Dean der deutschen Literatur?
Neue Osnabrücker Zeitung, 15.4.2015
Gerhard Henschel: Träume von Grünkohl
junge Welt, 16.4.2020
Sascha Seiler: Die Tiere sind unruhig!
literaturkritik.de, 16.4.2020
Rolf Dieter Brinkmann – Keiner weiß mehr. Ein Porträt.
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