– Zu Christoph Meckels Gedicht „Süße Person“ aus Christoph Meckel: Nebelhörner. –
CHRISTOPH MECKEL
Süße Person
Süße Person,
faß deine Seele an und komm,
wir wollen morgen mit einer Bimmelbahn
hinausfahren an ein Meer
und Schneckenhäuser sammeln.
Sei nicht ängstlich, greif
nach dem reiselustigen Fisch im Wasser –
mit dem Tropfenüberschuß
des letzten Regens der Erde
wasche ich dir die Augen aus,
denn du hast kein Recht zu weinen,
bevor du nicht tot bist
und ein Stern dir sagt: Weine nun, Engel!
Als Christoph Meckel, Jahrgang 1935, dieses Gedicht schrieb, war er ein junger Mann von etwas mehr als zwanzig Jahren. Jene „süße Person“ von damals, vor etwas weniger als zwanzig Jahren, will sich heute an die Geschichte dieses Gedichtes nicht erinnern. Das mag verständlich sein und zeigt, wie gefährlich genau ein Gedicht etwas zurückholen kann, weniger das, was man die Fakten nennen könnte – Datum, Kleidung, Haarschnitt, Stöckelschuhe, kurzer oder halblanger Rock –, mehr Atmosphärisches, Emotionales, das, was man vor Dr. Barnards chirurgischer Enthüllung mit dem Wort Herz meinte. Und dies schmerzt.
Daß es schmerzt, ist gut denkbar für jemanden, der gemeint war. Daß es noch schmerzt, spricht für die Qualität dieses Gedichtes, das auch andere, „uns Gedichteleser“, zu bewegen vermag. Hier wirkt ein Gedicht über eine sehr persönliche Widmung hinaus; es zeigt, wie sehr Privates, wie sehr Intimes sehr allgemein, sehr öffentlich werden kann, wenn Sprache nicht nur benutzt, sondern genutzt wird.
„Süße Person“ war das sechste Gedicht in Meckels erstem, 1959 erschienenen Gedichtband Nebelhörner. Es scheint auch heute noch unvorstellbar, käme dieser Autor einmal auf eine Bestsellerliste oder auf einen anderen grünen, sagen wir Preiszweig. Möglich, daß der Dichter Meckel fünfzig Bücher schreiben und der Graphiker Meckel zweitausend Blätter radieren muß, um wirklich zur Kenntnis genommen zu werden. (Der Band Nebelhörner ist nur dank der Entdeckerlust des Literarischen Verlags Helmut Braun wieder zu haben.)
Was an dem Gedicht „Süße Person“ heute überrascht, ist, daß es frei ist von den damals üblichen Moden, und dies paradoxerweise trotz der in den fünfziger Jahren inflationär gebrauchten Metaphern Fisch und Meer. Die Schar der Benn-Nachahmer war gerade, noch kenntlich zwar, im Nebel entschwunden, das Heer der Brechtianer stand bereit.
Meckel hatte mehr gelesen: Arp und Bellman, die russischen Symbolisten, alle Expressionisten, die französische Moderne ganz sicherlich. Und wer konnte schon in frommer Zeit so säkular mit Wörtern wie Seele und Engel umgehen? Das Wort Engel taucht in späteren Gedichten Meckels noch oft auf, erhöht zu einem Meckelschen Fabelwesen, bis hin zu der Zeile: „Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Engel geschont wird.“ Ein radikales Bekenntnis zur ernsten Sache der Poesie.
„Süße Person“ ist ein Liebes-, ein Trost-, ein Überlebensgedicht, bestimmbar nur in ebendiesen immateriellen Breiten; darum keine Bimmelbahn, sondern eine Bimmelbahn, nicht das Meer, ein Meer. Und nur so konnte einer in diesem Regenland 1959 an den nun vorstellbaren „letzten Regen der Erde“ denken. Und nur so konnte einer das Wort weinen an einen großen Einfall binden. Ein gutes Gedicht erlaubt alles. Dies ist ein gutes Gedicht. Muß man zum Schluß noch sagen, daß diese Verse einen jünglingshaften Charme besitzen?
Rolf Haufs, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979
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