Rolf Hochhuth: Drei Schwestern Kafkas

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Rolf Hochhuth: Drei Schwestern Kafkas

Hochhuth-Drei Schwestern Kafkas

GRABSUCHE

Stellvertreterfilm, suche Piscators Grab;
der Berlinale entflohn.
Februar, vermoostes Gras, gelbe Krokusse

Spechte klopfen, der erste Amselton.
Suche bei Piscator, der mich gemacht,
stets half – Absolution.

Doch unauffindbar nach erst vierzig Jahren
trotz Findlings; wehtuende Lektion:
Wie der Grund schwankt, wo wir ankern…

Im Gestrüpp über abgesunkenen Gräbern
ein Ehrengrab der Stadt Berlin nicht zu finden!
Piscator nahm mich an als Sohn:

Undenkbar, daß ich als Autor ohne ihn
zur Welt gekommen wäre, den die Vision
aktivierte, Theater sei Fortsetzung

der Politik durch Kunst – Piscators Mission!
Was ich verfehlte, ihm will ich’s gestehn,
der auch schnell wie Eltern und ein Bruder

Schon weg übern Acheron!
Stalin, als Churchill die 10 000 Russen beklagte,
die täglich fielen: „Was ist eine Generation!“

 

 

 

Nachwort

Das lyrische Werk Rolf Hochhuths, das ungefähr 350 Titel umfaßt, spannt weite Bögen: zeitlich, thematisch, formal. Mehr als ein halbes Jahrhundert schlägt zu Buche mit privatem Glück und Schmerz, mit der Verzweiflung und Auflehnung gegenüber dem Jahrhundert der Kriege, Vertreibungen und Massenmorde, mit dem Ringen um intensive Gedichtformen wie den strengen Reim und die traditionelle Strophe, oft gegen den Widerstand der literarischen Moderne. Bei aller Vielfalt der Themen ist das Zentrum von Hochhuths Schaffen stets unverrückbar der Blick auf die einzelnen geblieben, ins menschliche Antlitz, und sei es durch ein altes Foto vermittelt wie beim Titelgedicht dieser Sammlung.
Ich hatte die Gelegenheit, Rolf Hochhuth während einer mehr als dreißigjährigen Freundschaft, deren Besonderheit auch darin liegen mag, daß sie zwischen einem westdeutschen Autor und einem ostdeutschen Verlagslektor stattgefunden hat, auch privat, wenn ich so sagen darf, zu beobachten. Im Stadtbild von Basel und Berlin begegnet man ihm als Fahrradfahrer, der vorwiegend Bürgersteige benutzt. In den Eisenbahnen, mit denen er unglaublich viel umhergekommen ist, kann man ihn schreiben sehen oder schlafen ( dann hat er – nach Empfehlung von Churchill – ein dunkles Tuch über den Augen).
Hochhuth über die Jahre zu begleiten, heißt selbstverständlich vor allem, ihn als Autor zu erleben, der Material sammelt, stets fast gleichzeitig mit Dramatischem, Essayistischem oder Gedichten beschäftigt ist, das eine beginnt, das andere korrigiert, Lesungen vorbereitet, mit Redaktionen und Verlagen telefoniert, alles ruhelos, meist angespannt bis zum Äußersten. In Theatern, wenn es um die Inszenierung seiner Stücke geht, kann er außer sich geraten über die Eigenmächtigkeit von Regisseuren, wie er anderen, allen voran Erwin Piscator, größte Dankbarkeit bewahrt. Auch für Rolf Hochhuths Verhältnis zu seinen drei Söhnen mag gelten, was er selbst als das passende Reimwort zu „Vater“ bezeichnet hat: „Theater“ – wobei mitgedacht werden muß, daß die Liebe zum Theater neben der Liebe zu Frauen das Zentrum seines Lebens ist.
Oft habe ich Hochhuth trauern gesehen, zuletzt über den qualvollen Krebstod von Ursula Euler, seiner dritten Ehefrau. Angesichts des Todes hat sich immer die frühe und tiefe Leiderfahrung dieser Kriegesgeneration wiederholt. Es waren gerade zwei Jahre, die es Rolf Hochhuth erspart haben, Hitlers Soldat werden zu müssen, und nicht zuletzt deshalb spricht er oft davon, Geographie und Jahrgang seien das Schicksal, Geographie auch deshalb, weil das heimische Eschwege, Hochhuths Geburtsstadt, zum westlichen Grenzort vor dem Eisernen Vorhang wurde und die Bürgerwelt, der er sich nach Herkunft und Überzeugung zugehörig fühlt, ihm nur noch als Phantomschmerz und in der kulturellen Überlieferung gegenwärtig ist, beispielsweise in Thomas Manns Tonio Kröger, einer der literarischen Initiationen Hochhuths: Künstlertum, aus der tragisch empfundenen Zeitgenossenschaft und aus dem Verlust geboren.
Es war auch diese Betroffenheit und nicht nur die Anklage, Papst Pius XII. habe vor der Deportation der Juden ins Gas die Augen verschlossen, die Hochhuths erstes Theaterstück Der Stellvertreter ( 1963) zu einem an vielen Orten mit Enthusiasmus und Tumulten aufgenommenen weltliterarischen Ereignis gemacht haben.
Im Stellvertreter, dem „christlichen Trauerspiel“, finden sich die ersten veröffentlichten Gedichte Hochhuths, die Monologe eines Alten, einer Frau und eines Mädchens im Waggon auf der Todesfahrt nach Auschwitz. Alle drei stellen die Frage nach Gott und können nichts als den Abgrund entdecken, in den zu stürzen ihnen bevorsteht. Bereits in diesen drei Monologen wird eine Tradition sichtbar, die im Weltverständnis und im gesamten lyrischen Werk von Rolf Hochhuth wirksam ist: die Begegnung mit Gottfried Benn.
Hochhuth verstand und versteht Benn als einen Gesellschaftskritiker von hohen Graden, der das soziale Elend am tiefsten möglichen Punkt der menschlichen Existenz erfaßt und, nach Hochhuths Überzeugung, eine lyrische Sprache gefunden hat, die der zerrissenen Welt des 20. Jahrhunderts adäquat ist. In kritischer Auseinandersetzung mit einer Handvoll von Schönschreibern urteilt Hochhuth in einem großen Essay mit dem Titel „Gas oder: Neue Gedichte – dank neuer Wörter“:

Was könnten das aber für Lyriker sein, wenn sie erst 1900 oder später zur Welt kamen, die dennoch den zwei schauerlichsten Schädelstätten unseres Kontinents, ja im 20. Jahrhundert der Menschheit, jeden Zugang zu einem, oder auch nur Anklang in einem ihrer Gedichte verweigert haben? Sie wären so glaubwürdig wie Benn wäre, hätte er nicht das Grunderlebnis seiner Existenz: die Welt der Medizin, der Kranken und die zwei Weltkriege, in denen er Militärarzt war, und drei seiner Brüder auf dem Schlachtfeld, eine Frau, einen Vetter und dessen Sohn verloren hat, zum wesentlichen Antrieb, ja Inhalt seiner Gedichte gemacht? Unmöglich!

Die Beziehung zu Gottfried Benn gerade als Gesellschaftskritiker etwa mit dem Gedicht „Alter Kellner“, aus dem Hochhuth ein Motto für sein Gedicht „Am Preßlufthammer“ gewählt hat, konnte für einen Menschen wie mich, den man heute Ossi nennen würde, wie ein Tabubruch erscheinen, denn Benn war in der DDR für Jahrzehnte Poeta non grata, nicht nur wegen seiner vorübergehenden Sympathie für den Nationalsozialismus, sondern gerade wegen dieser Nähe zum Nichts, zum „Menschenlos“, wie es zu Beginn und am Ende von „Alter Kellner“ heißt. Auch Hochhuths Gesellschaftskritik und Geschichtsverständnis hatte für die Rezeption in der DDR etwas Vertracktes, da ihr das Wesentliche des Hegel-Marx’schen Geschichtsverständnisses, der Fortschrittsglaube, die Überzeugung von einem paradiesischen Endzustand der Menschheit, fehlt. Bei mancher Bereitschaft, sich der Kritik Hochhuths im einzelnen zu bedienen, am Versagen von Papst Pius XII., das nicht zuletzt aus Antikommunismus gespeist war, ebenso wie an seiner Kritik des Wohnungselendes in der alten Bundesrepublik, die in der Komödie Die Hebamme vorgetragen wird, oder an der Weigerung einer griechischen Insel, sich bewaffnen zu lassen, in „Lysistrate und die NATO“, bestand gegenüber dieser Grundhaltung eine entschiedene Distanz, die nur mit dem Argument auszuhalten war, es handele sich eben um einen bürgerlichen Autor, der selbst dann, wenn er im Spiegel dekretierte, der „Klassenkampf ist nicht zu Ende“ (1965), nur eine Umverteilung des Volksvermögens zugunsten der Benachteiligten, nicht aber die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft meine.
Was Rolf Hochhuth mit solchen kritischen Vorstößen unternahm, nämlich als einzelner dort aktiv zu werden, wo Parteien und Politiker versagen, ist überhaupt die Grundkonzeption seines Gesellschaftsverständnisses und steht wiederum in prinzipiellem Gegensatz zum marxistischen Konzept der revolutionären Massen, nicht aber zu den von einzelnen ausgehenden Veränderungen, die schließlich zum Zerfall des sogenannten sozialistischen Lagers führten. Fraglos haben viele Hochhuth-Leser in der DDR seine Botschaft herausgefiltert: Die Aktivität einzelner kann Veränderungen bewirken, nur die einzelnen vermögen wahrhaften Geschichtsillusionen und Irrwegen zu widerstehen, entsprechend dem von Hochhuth immer wieder zitierten Diktum Nietzsches:

Wahnsinn ist bei einzelnen selten, bei Völkern und Staaten hingegen die Regel.

Die Wirkungsmächtigkeit oder der Leidensdruck einzelner konstituiert fast alle seine Dramen und viele Gedichte Hochhuths. Oft geht es um große Täter wie Marc Aurel oder Churchill, um den Wagemut von Menschen wie Georg Elser oder Maurice Bavaud, noch häufiger aber um Opfer, die Hochhuth aus dem Vergessen hebt wie die Titelgestalten dieser Auswahl, die drei Schwestern Kafkas. Hochhuth weiß, daß solche Gedächtnisblätter nur Mahnungen sein können, Appelle eines „Zeitgenossen auf den Scherben und Massengruben des Hitlerkrieges, im Hexenkessel der Vertreibung von Abermillionen Europäern aus einem halben Dutzend Ländern, in den Exzessen zuerst der nazistischen, dann der kommunistischen Invasion der Schauprozesse Osteuropas“.
Wenn von individueller Wirkungsmächtigkeit die Rede ist, so meint dies nicht nur die Bereitschaft einzelner, die Last der Welt auf sich zu laden, sondern auch das Schelmenhafte. Rolf Hochhuth ist auch Komödiant, vielleicht, seinem Wesen nach, sogar zuallererst, mit allem, was dazugehört, der Fähigkeit zur Nachahmung und der Lust zur Verstellung. Darin offenbart sich oft eine Distanz Hochhuths zu sich selbst, die ihn daran gehindert hat, literarisch „ich“ zu sagen oder Tagebuch zu schreiben. Diese Lücke füllen, jedenfalls aufs Ganze gesehen, die Gedichte aus; viele von ihnen sind Gelegenheitsgedichte im wörtlichen Sinne, gemäß dem „Drang, den Goethe in den Zahmen Xenien aussprach: ,der Gelegenheit schaff ein Gedicht‘: überhaupt ist ja die Zuwendung zur Wirklichkeit und ihre Poetisierung die immerwährende Forderung Goethes…“ Entsprechend ist in vielen Gedichten Hochhuths die Gelegenheit erkennbar, obwohl zugleich ihre Spuren wieder verwischen, das heißt in der Form, nicht in Strophen und streng gereimten Versen, aufgehoben sind. Wenn man das existentielle Zentrum der Gelegenheiten aufzuspüren versucht, gelangt man wieder zum Anfang zurück: zu Rolf Hochhuths Erfahrung von Liebe und Tod. Proportional ist der Anteil von Gedichten, die von diesen beiden Themen erkennbar bestimmt werden, im lyrischen Gesamtwerk größer als in unserer Auswahl (vielleicht sind manche Gelegenheiten öfter Wiederholungen als andere, mögen sie auch jedes Mal Lustgewinn bringen).
Es mag gewagt sein, die ausgewählten hundert Gedichte Hochhuths in zehn Zehnergruppen zu ordnen, zumal Hochhuth zuallerletzt ein Systematiker und der vorliegende Band überdies seine erste Buchveröffentlichung ist, die ausschließlich Gedichte enthält. Zuvor hat Hochhuth Sammelbände bevorzugt, die neben der Lyrik Dramatisches, Erzählerisches, Essayistisches, Aphorismen oder Anekdotisches enthielten. Die erste Gedichtsedition dieser Art war 1971 um die Komödie Die Hebamme gruppiert.
Die nun vorliegende lyrische Bilanz ist in Auswahl und Anordnung als Ergebnis eines jahrzehntelangen intensiven Dialogs zwischen dem Autor und dem Herausgeber zu verstehen, eines Dialogs, der im geteilten Deutschland über die Grenzen hinweg begonnen hat und seit ein paar Jahren in Berlin gewissermaßen nachbarschaftlich stattfindet. Von Gelegenheit zu Gelegenheit, deren jüngste die anregende und aufregende Zusammenstellung dieser hundert Gedichte gewesen ist.

Dietrich Simon, Nachwort

 

Inhalt

Anders als die berühmten Theaterstücke Rolf Hochhuths zeichnen sich viele seiner Gedichte durch ihren privaten, ja intimen Ton aus, der den vorliegenden Band zu einer Art lyrischem Tagebuch des Autors macht. Daneben aber zeigt sich Hochhuth auch in seiner Lyrik als politisch kämpferischer Autor, der das Vokabular der Gegenwart gezielt in Poesie verwandelt. Was diese politische Lyrik mit den privaten Gedichten verbindet, ist Hochhuths Poetik der Erinnerung. Wie kein anderer Lyriker blickt Hochhuth skeptisch und voller Mitleid für die Opfer der Geschichte auf die Katastrophen der Vergangenheit und Mißstände der Gegenwart und kann dabei doch nicht von der Hoffnung lassen, dass Aufklärung durch Poesie möglich ist.

S. Fischer Verlag, Ankündigung

 

Tragödien in Lyrik-Form

Rolf Hochhuths Gedichte kann man auch als kleine Tragödien bezeichnen. Sie umspannen einen zeitlichen Rahmen, der sich von der Antike bis in die Gegenwart erstreckt. Oftmals handeln sie von historischen Persönlichkeiten wie Marc Aurel und Winston Churchill, oder sie erzählen von wagemutigen Menschen, die heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sind: darunter die gescheiterten Hitler-Attentäter Johann Georg Elser und Elfriede Scholz, Schwester des Schriftstellers Erich Maria Remarque.
Tod und Zerstörung sind in diesen anprangernden Versen stets präsent. Selbst wenn Hochhuth in „Salzburg Hauptbahnhof“ über den „süß korrumpierenden“ Festspielort schreibt, schlägt er eine Brücke zu den Juden-Vernichtungs-Transporten. Ein ähnliches Beispiel ist das Gedicht „Alter Matthäi-Kirchhof Yorckstraße“: Einerseits letzte Ruhestätte der Brüder Grimm, andererseits wurde dort Stauffenberg nach seiner Hinrichtung am 20 Juli 1944 für einige Stunden verscharrt. Über geniales literarisches oder musikalisches Schaffen aus Deutschland legt der Autor also gern anklagend den Schatten der Nazi-Verbrechen. Diese starken Gegensätze lösen Bestürzung aus, weshalb sie sich schon beim ersten Lesen tief einprägen. Andererseits wirken sie wie ein ständig wiederkehrender Vorwurf gegen das deutsche Volk, wie eine Erbschuld, mit der Hochhuth selbst positive Leistungen schwarz übertüncht – auch wenn zwischen ihnen und dem Dritten Reich keine Verbindung existiert.

Gewohnt politisch-kämpferisch
Hochhuths Lyrik ist dichterisch aufgearbeitete Gesellschaftskritik: Die Gier der Mächtigen sowie das damit einhergehende Leid des kleinen Mannes werden in zahlreichen Gedichten aufgegriffen – die Übermacht des Kapitals, die den Menschen wertlos macht und zu einer Nummer degradiert. In „Stilljelegte Stadt“ schildert der Autor mit authentischem Brandenburger Dialekt die Arbeitslosigkeit im Osten, den Mangel an Lehrstellen und den Zusammenbruch von Betrieben. Er entzündet sich inbrünstig und voller Skepsis am tagespolitischen Geschehen (zum Beispiel in „Kein künstliches Hüftgelenk“) oder an Ausländerhass, Abschiebung, Verdummung durch das Fernsehprogramm, Anglizismen in der deutschen Sprache und an der Brutalität des Walfangs.
Neben diesen politisch kämpferischen Gedichten befasst sich der erste Teil der Sammlung ausschließlich mit Sexualität. Wer romantische Blümchen-Erotik bevorzugt, der sollte ihn am besten überspringen, denn das Thema ist meist roh und drastisch verpackt – beispielsweise in „Bettsonett“. In „Löffelstellung im Herbst“ sind die körperlichen Freuden die einzigen, die einem an allen Plänen gescheiterten, arbeitslosen Paar bleiben. Das Gedicht „Tacheles reden? – lieber nicht!“ stellt Monogamie mit klaren Worten infrage:

Liebe wird Lüge – monogam.
Treu aus Zwang nur, unter Eid?
Liebe, die so unduldsam,
wäre sie denn ideal?
(…)

Maßgeschneiderte Gesellschaftskritik
Hochhuth thematisiert darüber hinaus eine Affäre zwischen Chef und Sekretärin, Mozarts sexuelle Ausschweifungen oder die Probleme einer Distanzbeziehung – immer auf dem Scheideweg zwischen Poesie und Vulgarität wandernd. Die Sammlung ist aber auch mit privaten Gedichten für seine verstorbene Ehefrau Ursula Euler gespickt. Darin erhebt ein wesentlich sensibleres lyrisches Ich seine trauernde Stimme.
Sprachlich wirken einzelne Zeilen von Hochhuths Lyrik recht plakativ, vor allem wenn er mit erhobenem Zeigefinger mahnt. Ein Teil von „Sprache“ könnte auch einer bissigen Kolumne gegen den US-amerikanischen Einheitsbrei entnommen sein:

Deutsch stirbt bald ab durch erzwungene Importe
der Englischsprechenden…
Selbst wer singt
Tut’s in unserem US-fixierten, verrockten Land
nie mehr ohne transatlantisches Vokabular.

Die Zeile „Sind wir nicht alle Ausländer – fast überall?“ aus „Asylanten“ ist längst Massenware – millionenfach auf Plakatwänden oder auf Flugblättern der Antifa verbreitet. Es entsteht der Eindruck, dass Hochhuth seine Kritik maßgeschneidert fürs Volk servieren möchte. Er hätte für diesen Zweck allerdings eine andere literarische Form wählen sollen als Lyrik.

Annika Senger, Die Berliner Literaturkritik, 27.4.2006

Der andere Hochhuth

Der Stellvertreter hat ihn berühmt gemacht, seine Streitlust berüchtigt: Doch Rolf Hochhuth, der am Samstag 75 wird, ist vor allem ein großer Dichter. –

Ein Kenner nannte Rolf Hochhuth einmal den „Ossietzky der Bühne“: einen zupackenden Dramatiker, dessen Stellvertreter ein Welterfolg war, den er allerdings nie wiederholen konnte. Seine späteren Stücke sind dennoch immer ein trotziger Einspruch zu den Verwerfungen unserer Gesellschaft. Rolf Hochhuth ist aber auch ein Lyriker von Gnaden.
„Das ist kein Gedicht“ – mit dieser seltsam hochgemuten Nicht-Begründung lehnen gelegentlich Redakteure und ihre Kolleginnen den Abdruck einer lyrischen Arbeit von Rolf Hochhuth ab. Der Spiegel, apart-niederträchtig, druckte einmal eines – als Leserbrief. Schickte man dem Magazin diese Zeilen, ginge es dem Autor wohl, als zu ungebärdig-proklamatorisch, ebenso:

Wieder eine Nacht herabgestiegen
Auf das alte, ewge Erdenrund,
Wieder eine Finsternis geworden
In dem qualmerfüllten Kerkerschlund.

Nun sind das aber Zeilen von Georg Büchner, und der ist zum Staatspreisdichter glattgehobelt, wenngleich kürzlich in einem glanzvollen Essay von Christoph Hein (sehr richtig) als „Mitglied einer terroristischen Vereinigung“ charakterisiert; in Wahrheit sind die knappen Zeilen die Summe des politischen Menschenbildes von Büchner, von dem Friedrich Dürrenmatt sagte, „er sah den Menschen an sich selbst scheitern – überzeugt vom gräßlichen Fatalismus der Geschichte“. Abgelehnt. Abgelehnt würde dann, konsequenterweise, auch Majakowskis „Vorwärts, Genosse Mauser“ (es war, beiläufig, eben dieser Mauser, mit dem der Dichter sich umbrachte), ein Autor, den sogar der Antipode Benn schätzte. Abgelehnt werden müßte dann gewiß auch Gottfried August Bürgers berühmte Schmetter-Zeile gegen das Gotteskönigtum „Du nicht von Gott, Tyrann!“ wie arg vieles von Ezra Pound oder dem, dessen Name bereits Imperativ ist: Brecht.
Einem Kanon verweigerte sich jeder von diesen. In seinem soeben erschienenen furiosen Essay-Buch Die Intrige stellt Peter von Matt die zentrale Frage „Wer bestimmt eigentlich, was in einem literarischen Werk gut und schlecht ist?“ – und gibt eine Antwort, die schnelle Urteile ausschließt.
Wir dürfen daran erinnern, daß es unendlich viele Möglichkeiten und Formen der Lyrik gibt: das Ruf-Gedicht oder die Elegie, das Fürstenlob, das Faktennotat wie das Gelegenheitsgedicht, Protest oder Hymne, vor allem auch das Liebesgedicht; sogar das obszöne; „Verlaine“ etwa, oft genug am Rande des Peinlich-Lächerlichen:

Und wenn auch nichts dich straffenmacht,
Ich bin von jenem Glied entzückt,
Das Deiner Lende Leiste schmückt
Goldlichtbehaucht in düstrer Pracht.
[…]
Das Ende schwillt ein bißchen bald
Und zeigt durchs Fleisch in süßer Blöße
Den Kauf von halber Daumengröße
Und eines Fischmauls runden Spalt,
Den ich mit Küssen überdecke
In liebevoller Dankbarkeit. Erlaub, daß nun in Zärtlichkeit
Die Hand mit kühnem Griff sich recke,
Um ganz die Kappe abzulösen
Derart, daß leuchtend rosablau
Der Kopf sich zeigt in freier Schau
[…]

Fangen wir also bei der Verhandlung in Sachen Rolf Hochhuth beim Anfang an: das Titelgedicht der soeben erschienenen Drei Schwestern Kafkas. 100 Gedichte ist Hochhuth pur, Aufschrei, Trauer und Schuldzuweisung; man muß gar nicht das schockierende Umschlagfoto der drei Ermordeten zu Hilfe nehmen (entsetzlich die Ähnlichkeit der jüngsten mit Kafka, Franz) im Kampf gegen die Kälte, die beim Lesen dieser Totenklage aufsteigt:

Drei Schwestern Kafkas
[…]
Wie Körner als einzelne, die zermahlen,
bleiben Menschen unsichtbar auf Tabellen.

Liest man jedoch, aber wer liest das noch!
vergast samt Familien Kafkas drei Schwestern,

glücklich verheiratet“ beschrieb die Mutter sie;
sieht Fotos – ist’s, als sei man gestern

Ihnen begegnet, die wie Mann, Kinder nie,
noch in Hitlers Prag nicht, an Flucht gedacht…

Grabinschrift für Millionen und Inschrift, will sagen: eingeschrieben in unser nie nachlassend gepeinigtes Gewissen. Strenge Form, Zucht der Worte, umwegloses Mahnmal; wenn das nicht Dichtung ist, dann ist Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ auch nicht Musik.
Dabei muß man wissen: Was Hochhuth hier rhythmisiert, ist keineswegs immer und vor allem Attacke und Anklage; wie man – bei all seiner gelegentlich wirrköpfigen Interventionslust – diesen Autor falsch liest, sieht man in ihm nur einen lauten Schreihals. Ganz im Gegenteil: Die innere Struktur seiner Arbeit ist Verzagtheit und Klage. Hochhuth ist kein Linker, kein Umstürzler; er ist Bewahrer – und nur, wo er Bewahrenswertes bedroht sieht, greift er ein und an. So wehrt er sich im „Plötzensee“-Gedicht gegen Schillers „Das Gräßliche bedecke ewiges Schweigen“, indem er ent-schweigt:

Raubt’s auch den Schlaf, ihr schlaft wieder ein.
Doch
ihre letzte Nacht: wie „schliefen“ die
hungernd an einen Mauerring Geketteten? Ein Bein
mit einer Bleikugel beschwert, weil ihre Zelle
aufblieb für Wärter, Pfarrer, „Richter“ und Friseur.

Der Ton fassungsloser Trauer ist unüberhörbar. Seine Trauer sinkt zumeist ab in die Schwärze des Vergebens. Nicht zufällig ist Gottfried Benn Hochhuths meistzitierter Autor – er mißtraut wie jener dem Lauf der Geschichte, irgendeiner Fortschrittsidee gar; letztlich der Humanisierung des Menschen:

Will vergessen, was ich getan – und wie Menschen sind.

Fast wortgleich seinem jüngeren und zu jung gestorbenen Kollegen Thomas Brasch begreift er Leben als „Fahren im Kreis“; tief berührend sein Gedicht „Flut und Ebbe“, das Thema der Sinnlosigkeit variierend in „Nur Welle und Spiel“, dem er gleich drei Benn-Mottos voranstellt. Darin erzählt – es gibt auch die Form des Erzähl-Gedichts – er uns von Jacob Burckhardts Satz „Wir möchten, daß wir die Welle kennten, / Auf der wir treiben im Ozean“ (also: ohne Freiheit der Entscheidung) und nimmt eingangs ein Autobahn-Graffito auf:

Du steckst nicht in einem – du bist der Stau!

So spricht kein Barrikadenstürmer, und so spricht kein Revolutionär; es sei denn, man erinnere sich des Wort-Ursprungs revolvere = zurückdrehen.
Geschichte ist in Hochhuths Begreifen Unheil, jene Katastrophe, wie sie bereits Walter Benjamin in seinem „Angelus Silesius“-Essay ausformuliert:

Nur umaus“zuleben – ist Geschichte! Und die Umwälzung der Machtgewichte / Hat nur einen Zweck: Potenzverschleiß. Fortschritt, Endziel gibt es nicht; ein Kreis

Hochhuth ist ein pessimistischer Aufklärer; wo er die Täter am Werk sieht, ob Diktatoren oder „shareholder“-besessene Bank-Bosse, die Tausende auf die Straße werfen, um ihren Profit zu erhöhen, ruft er Alarm. Eine Ideologie indes bietet er nicht an, beargwöhnt vielmehr jeglichen -ismus.
Hier nun gibt es einen dialektischen Sprung in Hochhuths Gedankenwelt, damit im Werk. Er sieht den Einzelnen – trotz aller Skepsis – als verantwortlich, Täter als benennbar schuldig; das war schon vor vielen Jahren sein Disput mit Adorno. Er feiert aber auch das Individuum. Und hier geschieht etwas höchst Seltsames, gleichsam eine Entgleisung. Das Individuum in seiner kleinsten, genauesten, intimsten Form ist ja ein erotisches. Und da rutscht er aus, ab ins Banale, Grobe, Peinliche.
Zugegeben, es mag am Auge des Betrachters liegen, aber Hochhuths Angebot – sich auch noch auf Courbets krudes Bild „L’Origine du monde“ beziehend –, zu „Trotze“ das passende Reimwort zu suchen; sein läppischer Satz „Sex gibt selbst Arbeitslosen Kurzzeit-Energie“ ist nur grotesk: mit dem Schwebegebot für das lyrische Wort hat das rein gar nichts zu tun. Es liegt eine fast unheimliche Verwechslung vor: Eros ist das Sirren des Libellenflügels, nicht der erigierte Penis. Ich halte den folgenden Vers für nicht „gedichtfähig“, für eine Mischung aus pubertär und Altmännergeilheit, den Titel „Eros“ nicht verdienend:

Schwer von der Hitze
spannt mittags dein Schritt
– wie die Brüste die Bluse –
die hautstraffe Hose.
Herausfordernd preist er
dein Zentrum an.

Es wäre wohl Thema einer eigenen Untersuchung, warum auch ganz Große der Kunst beim Darstellen von Erotik versagen, ausglitschen in einer Art Sperma-Metaphorik. Heinrich Manns Zeichnungen sind tatsächlich nichts als „nackerte Weiber“, wie sein entsetzter Bruder Thomas sagte, als man sie fand. Des genialen George Grosz’ sogenannte erotische Blätter haben die sabbernde Überdeutlichkeit von Pissoir-Kritzeleien. Viele der „Gedichte über die Liebe“ des armen Brecht haben rein gar nichts mit Liebe zu tun, sind ordinärer Sing-Sang von „des Weibes Loch“ oder das, was man im Englischen wet dreams nennt: „Komm, Mädchen, laß dich stopfen, das ist für dich gesund“; man wird auch diese Zeilen schwerlich in das Rubrum „große Lyrik“ einreihen mögen:

Wie gut ist Schiffen mit Klavierbegleitung, wie selig Vögeln im windtollen Schilf

Rolf Hochhuth steht also nicht allein auf der Bühne des Plumpen. Doch 100 Gedichte, das ist auch ein hoher Anspruch. Er kennt wie kaum einer seinen Benn und dessen Satz, mehr als sechs gelungene Gedichte schaffe kein Autor. Insofern hat er sein Vorbild widerlegt: dieser Band enthält wesentlich mehr als sechs Geglückte.

Fritz J. Raddatz, Die Welt, 26.3.2006

Moral stört beim Dichten

– Was viele gar nicht wußten: Rolf Hochhuth verfaßt Lyrik. –

Daß Rolf Hochhuth Gedichte schreibt, hat sich womöglich noch gar nicht herumgesprochen. Denn Hochhuth hat seine Ambitionen bislang eher kaschiert und seine Lyrik in Sammelbänden mit Erzählungen und Essays versteckt. So ist Drei Schwestern Kafkas mit hundert ausgewählten Texten tatsächlich sein erster eigenständiger Gedichtband – eigenständig, wenn auch nicht von ihm selbst herausgegeben. Dietrich Simon, als Lektor aus DDR-Zeiten mit Hochhuth bekannt, hat die Auswahl getroffen und mit einem freundschaftlichen Nachwort versehen. Darin erwähnt er, daß Hochhuth Gottfried Benn als einen Gesellschaftskritiker von hohen Graden versteht. Simon hätte ihn auch einen Benn-Schüler nennen können. Lesen wir diese Strophe:

Opfer, Mörder – fragt noch wer warum?
Staaten steigen auf, um – abzusteigen.
Sinn? – wieso: ein Pandämonium!
Nur der Rasenmäher kann uns zeigen,
wie Geschichte endet: gräserstumm
wie ein Massengrab – in Schweigen.
Umbra fui – nihil sum.

Das ist prägnant formuliert, der reinste Geschichtspessimismus. Ebenso rein, wenn auch unter anderen politischen Prämissen, wie das Ecce historia des lyrischen Kollegen aus der Bozener Straße. Auch der Tonfall ist ähnlich. Es ist gewissermaßen apokrypher Benn. Vielleicht deshalb hat Simon das Gedicht „Geschichte“ nicht in seine Auswahl aufgenommen.
Doch auch sonst mangelt es nicht an Negativbelegen aus dem „Geschichtsatlas“:

Hekatomben hat Geschichte weggeschoren,
wüstgelegt, genarrt, von irgendwo
und um nichts nach nirgend deportiert.

Plakativ-thesenhaft heißt es einmal:

Geschichte ist, was jedem Volk mißlang.

Auch das könnte von Benn sein. Hochhuth huldigt ihm wie keinem anderen Autor. Allein dreizehn Benn-Zitate stehen als Motti vor Gedichten. So liest sich „Frauen und ,Helden‘“ als Kontrafaktur zu einem Zitat aus Benns Entwurf eines Singspiels. Das Gedicht verbindet die zwei Lieblingsthemen, die zwei Obsessionen Hochhuths: die Historie und die Frauen. Erotik als Obsession – man begreift, daß der Dramatiker, der für sie auf der Bühne nicht die rechte Verwendung fand, die Libido-Thematik in die Lyrik abschob. Moderne Lyrik ist ja eher klinisch-cool, da mochte sich für Hochhuth ein altes Feld auftun. Seit Goethes Erotica Romana haben sich manche auf ihm getummelt. „Eros bleibe ungestüm“, dekretiert der Vers, aber die Poesie läßt sich so wenig kommandieren wie Goethes „Iste“. Das Deftige ist Hochhuths Sache nicht. Die Moral redet ihm dazwischen und fängt die Anfälle von Obszönität wieder auf. Das „Bett-Sonett“ endet als Apotheose der „Humanisierung des Alls, wenn ihr im Akt, / du aus ihr, sie aus dir – euch betrinkt.“ Eher überzeugt der Homme à femmes, wenn er sich als zuverlässiger Liebhaber gibt, der sich um das Wohl der Angebeteten sorgt. Einmal empfiehlt er einer Leidenden „Verdräng’s“ – was bei einem Aufklärer immerhin überrascht. Lyrik erscheint als Zeugnis intimer Konfession, vor allem bei den Gedichten, die der verstorbenen Ehefrau gewidmet sind.
Hochhuths angestammtes Terrain ist die Historie. Wie in seinen Stücken lebt in den Gedichten ein geradliniges, oft auch einseitiges Engagement. Auch der Dokumentar-Lyriker agiert als ein unerbittlicher Moralist. Er liebt das Aufrollen alter, scheinbar verjährter Prozesse. Er huldigt dem „Verstockten“ Giordano Bruno, entwirft ein Porträt Winston Churchills oder rekapituliert Leben und Tod des Hitler-Attentäters Georg Elser, um dessen Andenken zu bewahren. Auch das Titelgedicht „Drei Schwestern Kafkas“ gehört zu den gelungenen Texten. Es hat in seinen ungelenken Reimen etwas Bewegendes – vielleicht gerade deshalb:

Liest man jedoch, aber wer liest das noch!
vergast samt Familien Kafkas drei Schwestern!

Je nüchterner Hochhuth sich an Fakten hält, um so besser fürs Gedicht. Aber auch die Fakten müssen danach sein. Die Glossierung von Zeitungsmeldungen gelingt nur selten. Was wir über Mobbing, Intendantenaffären oder Spitzenverdiener lesen, ist Schnee von gestern, auch wenn das Sonett bemüht wird. Dietrich Simon zitiert Goethes „Der Gelegenheit schaff ein Gedicht!“. Eine ernste Forderung. Denn Gelegenheiten machen noch kein Gedicht. Zum Glück ist der Autor Hochhuth, auch als Gedichteschreiber, mehr als die Summe der Gelegenheiten, die er liebt oder haßt.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2006

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Peter Mohr: Sorgfältig die Feinde aussuchen
literaturkritik.de, April 2006

 

 

 

 

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