– Zu Georg Heyms Gedicht „Alle Landschaften“ aus Georg Heym: Gedichte. –
GEORG HEYM
Alle Landschaften
Alle Landschaften haben
Sich mit Blau erfüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
Der weit in den Norden schwillt.
Leichte Geschwader, Wolken,
Weiße Segel dicht,
Die Gestade des Himmels dahinter
Zergehen in Wind und Licht.
Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein.
Zymbeln lassen sie klingen
In den Händen licht.
Manche flüstern und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.
Ein Abendgedicht. Die deutschsprachige Poesie hat davon unzählige. Nach flüchtiger Lektüre wollen sich auch hier die gewohnten Eindrücke herstellen: Friede, Erfüllung, Nähe von Schlaf und Traum. Eine bruchlose Reihe stimmungsgleicher Varianten führt her vom Wanderer Goethes und vom Abendlied des Matthias Claudius. Georg Heyms Gedicht macht da keine Ausnahme, so scheint es.
Es scheint bloß so. Zu Beginn der zweiten Strophe wird die Akkumulation von Wolken einem „Geschwader“ verglichen. Das ist ein militärisches Wort, und die folgenden Verse erhalten dadurch einen kriegerischen Beigeschmack: Wolken als Segel einer Armada, hinter denen der Himmel kein verläßlicher Strand mehr ist, vielmehr sich auflöst ins Immaterielle. Ein sehr friedfertiges Bild ist dies nicht. Friedfertig bleibt allenfalls der Gestus, der sich einer literarischen Konvention fügt, um sie heimlich zu widerlegen. Die Ruhe ist Trugbild. In Wahrheit ist hier von Ungeheuerlichem die Rede.
Denn die schönen Träume, die da auf leichten Füßen kommen, sind durchaus nicht, was sie zu sein vorgeben: Boten der Sanftmut. Einige von ihnen flüstern und tragen Kerzen vorm Gesicht. Man nimmt die Stimme zurück in Gegenwart von Sterbenden. Man stellt brennende Kerzen auf zu seiten der Särge. Das Klingen der Zymbeln, licht und leicht, bedeutet wohl bloß eine esoterische Umschreibung für das Geräusch des Armsünderglöckchens. Der Inhalt der schönen leichtfüßigen Träume ist der Tod.
Schlaf und Tod. Tagesabend, Lebensabend. Die Vergleiche und Gleichnisse sind nicht neu, sie sind bewährter Inhalt von Mythen und färben von daher ab auf so manches Abendlied. Beunruhigend nur: Von einem Lebensabend ist in Heyms Gedicht nirgends die Rede. Die tödlichen Träume sind mit juvenilen Eigenarten ausgestattet, wohl weil sie in einen jugendlichen Körper eintreten. Der erahnbare Tod in diesen Strophen ist nicht biologischer Ausklang, sondern gewaltsamer Abbruch. Auf den Schiffen leichter Geschwader dienen keine Greise. Dieser Tod heißt Krieg.
Jeder Dichter schafft sich seinen eigenen lyrischen Kosmos; bestimmte Schlüsselworte grenzen ihn ein und treten zueinander in unverhoffte Korrelationen. Für die Lyrik Georg Heyms heißen solche Worte: Stadt, Liebe, Wahnsinn, Krieg, Strom, Meer, Tod. Der letzte Begriff ist der übergreifende, alles andere führt zu ihm hin und ist dessen Teil. Auch durch „Alle Landschaften“ geht ein Strom, der „weit in den Norden schwillt“: er löst das unmittelbar folgende Wolkengleichnis aus. Heyms Faszination durch alles Maritime ist, das wissen wir durch ihn selbst, von Rimbaud bezogen, dem Dichter des „Trunkenen Schiffs“ und der „Ophelia“; beides kehrt als Motiv und bis in metrische Imitationen hinein bei Heym immer wieder.
Zwei Jahre vor dem Ausbruch jenes Krieges, der in seiner Lyrik ständig gegenwärtig ist, starb Georg Heym. Er ertrank, eben fünfundzwanzigjährig, beim Eislaufen auf einem Fluß. Noch in seinem Todesjahr gaben seine Freunde unter dem Titel Umbra Vitae einen Band mit Gedichten aus dem Nachlaß heraus, er enthält auch „Alle Landschaften“. Die derzeit gültige historisch-kritische Ausgabe der Werke Heyms führt dieses Gedicht unter dem Titel „Träumerei in Hellblau“, und die zweite Strophe hat einen veränderten Wortlaut:
Blaue Länder der Wolken,
Weiße Segel dicht,
Die Gestade des Himmels in Fernen
Zergehen in Wind und Licht.
Das sind einigermaßen konventionelle Metaphern. Mir will die andere Fassung (enthalten in der von Stephan Hermlin verantworteten Ausgabe) spannungsvoller, auch konsequenter vorkommen: Auf eine vergleichsweise sanfte Strophe folgt alsbald eine des bedrohlichen Tones; dies zweimal.
Als „Alle Landschaften“ hat Ernst Ludwig Kirchner das Gedicht in Holz geschnitten. Die Kerzenträgerinnen darauf sind kantige trauernde Frauen, und zwischen die ersten beiden Zeilen ist die Vignette eines menschlichen Paares gesetzt; die Personen liegen starr beieinander in einer Haltung, die alles sein kann und alles ist: Liebe, Schlaf, Tod.
Rolf Schneider, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979
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