– Zu Paul Celans Gedicht „In Prag“ aus Paul Celan: Gedichte. In zwei Bänden. –
PAUL CELAN
In Prag
Der halbe Tod,
großgesäugt mit unserm Leben,
lag aschenbildwahr um uns her –
auch wir
tranken noch immer, seelenverkreuzt, zwei Degen,
an Himmelssteine genäht, wortblutgeboren
im Nachtbett,
größer und größer
wuchsen wir durcheinander, es gab
keinen Namen mehr für
das, was uns trieb (einer der Wievielunddreißig
war mein lebendiger Schatten,
der die Wahnstiege hochklomm zu dir?),
ein Turm
baute der Halbe sich ins Wohin,
ein Hradschin
aus lauter Goldmacher-Nein,
Knochen-Hebräisch,
zu Sperma zermahlen,
rann durch die Sanduhr,
die wir durchschwammen, zwei Träume jetzt, läutend
wider die Zeit, auf den Plätzen.
In diesem Gedicht ist von ekstatischer Liebe die Rede wie vom Sterben: davon vor allem. „Der halbe Tod, großgesäugt mit unserm Leben“, heißt es bei Paul Celan. Wir wissen, daß mitten im Leben der Tod schon in uns wohnt. Sein Symbol ist die Sanduhr. In Prag reckt sich der Knochenmann allstündlich die Glieder und zeigt seine Gerätschaft vor, überm Tor des Altstädter Rathauses. Unentwegt wird die Stadt bei Celan zitiert: die Karlsbrücke mit ihren Heiligenfiguren – „eine der Wievielunddreißig“ –, der Aufstieg der Prager Burg über die Neruda-Gasse – „der die Wahnstiege hochklomm“ –, des spätmittelalterlichen Baumeisters Ried Daliborka „ein Turm“, das rudolfinische Alchimistengäßchen mit „lauter Goldmacher-Nein“.
Auch der Ausgang dieser schimärischen Stadtwanderung, dort, wo, „seelenverkreuzt, zwei Degen an Himmelssteine genäht“ sind, zitiert einen bestimmten auffindbaren Ort: jene Stelle am Altstädter Ring, da man nach der Schlacht am Weißen Berg zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges die protestantische Aristokratie Böhmens hingerichtet hat: „wortblutgeboren“, Das Blut der Enthaupteten rann jenem „Nachtbett“ entgegen, durch das die Moldau fließt.
Die Namen und Orte der Stadt werden zu Schauplätzen einer ekstatischen Umarmung, zugleich auch zu einem Hindernis. Denn der Turm, den der „Halbe“, das ist der Tod, vor die Liebenden stellt, und schließlich der gesamte Hradschin, aus der Hand desselben Architekten, das alles will diese Liebenden mit Namen wie mit Gewichten behängen.
Selbst zu obszönen Gebärden rafft sich der Tod schließlich auf. Der alte jüdische Friedhof in Josefov, dem Getto, wo die Skelette und Tomben aus mehreren Jahrhunderten übereinander liegen, ein wahrer Kalvarienberg, „Knochen-Hebräisch“, er wird „zu Sperma zermahlen“ (was für ein Bild) und den Zeitläuften beigemengt.
Dagegen wird dann die Utopie aller Ekstatiker aufgeboten. Wir kennen das reichlich aus den Schriften der Mystiker. Die Ekstase, und nur sie, könne die Zeit anhalten, die Vergänglichkeit besiegen – „zwei Träume jetzt, läutend wider die Zeit, auf den Plätzen“. Dies sind die letzten Worte des Gedichts. Es ist die endgültige Versicherung. Darf man ihr glauben?
Jedenfalls gibt es keinen Zweifel, wer hier spricht. Der den halben Tod „aschenbildwahr“ um sich sieht, schleppt das Trauma der Krematorien mit sich, und wenn ihm bei der Umarmung der Judenfriedhof einfällt, dann auch deswegen, weil seinesgleichen dort liegen. Gegen die Angstbilder der zu Asche gewordenen Toten half die Ekstase des Liebens und Lebens nur auf Zeit. Man durchschwimmt die Sanduhr. Es scheint ganz einfach. Schwimmen als der äußerste Ausdruck der Seligkeit. Im Bette der Moldau ließ sich damit gegen den Tod aufbegehren. Vor zehn Jahren, Ende April 1970 (das genaue Datum ist nicht bekannt) hat im Bette der Seine der jüdische Dichter Paul Celan aus Czernowitz sich freiwillig dem Tode ergeben.
Rolf Schneider, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
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