EINLEITUNG
Die ersten Schübe zu Beginn des Schreibens von Durs Grünbein gingen von den Symptomen einer schadhaften Wirklichkeit aus – mit alarmierenden Signalen als Dauerton. Eine kaum intakte Landschaft1 initiierte ein lyrisches Ich, das sich, vom Ruinenzustand des Biotops tangiert, in eine reflektierende Kontraposition begab.
Jene Landschaft, territorial Sachsen, war für Durs Grünbein früh ein Sibirien gewesen: Sein Jugendrevier in Dresden „eine Gegend, die aus Kasernen und Übungsgeländen bestand, Panzerstraßen und Knüppeldämmen, […] das war kolonisiertes Gebiet. Und die Matrjoschkas schoben sich durch den Raum wie uniformierte Mütter im Potemkinschen Dorf.“2
Die Zone3, wie sie sich Grünbein bot, war annektiertes Gebiet, die Heimat an eine fremde Wirklichkeit gebunden. Und die Chiffren sprachen zum einen Fremdheit, zum anderen Ernstfall. Jenen Erlebnisraum der Kindheit, erweitert noch um den größten Müllberg Dresdens, an dessen Rande er aufwuchs, rückt Grünbein immer wieder ins Bewusstsein.4 „Mein erstes Buch, vielleicht das Buch, das ich am aufmerksamsten gelesen habe… eine frühe Lektüre des Mülls.“5
Die Außenseite der Stadt ist der Ort, wo Urbanität ausklingt und die Zivilisation ihre Hinterzimmer hat. Ein totes, aber auch merkwürdig lebendiges Erlebensfeld. Grünbein konnte hier Frakturen feststellen. Neben den Müll, die sibirisch-sowjetische Raumausstattung und den sozialen Biedermeier der Gartenstadt Hellerau trat die kriegserodierte „Barockruine“6 Dresdens. Ein weiteres Fragezeichen und sprachtreibender Punkt für den, der dort changierte.
Der Verweis auf die prägende Umgebung der Kindheit durchzieht auch die Lyrik, als Statthalter für das Biografische im Imaginierten oder ganz einfach als authentisches Hintergrundmuster für die eigene Verstörung.
[…] staubgraue Vorstadt
Im T-Shirt, die endlose Kindheit war bald vorbei.
Böse Buben am Stadtrand, zwischen Gleisen und Schutt
Verlockt vom Gestank, den Tabus einer Landschaft
Von der niemand etwas wissen wollte, verdächtiger Grund
[…]
War dieser Nullpunkt wo das Stottern anfing,
Der Schatten Aphasie sich auf die Zungen legte.7
Auch später noch dient das jugendliche Erleben jener wirklichkeitsverschobenen Randerfahrung als Illustration der Unausgefülltheit:
Gezeugt im verwunschenen Teil eines Landes
Mit Grenzen nach innen, war er Märchen gewöhnt,
Grausamkeit.
[…]
Dicht wie die Fenster
Hielt er dem Außenraum stand, – ohne Ausblick.
Hinter den Hügeln, gespenstisch, zog den Schluß
-Strich kein Horizont, nur ein rostiger Sperrzaun.
Landeinwärts… gehegte Leere. Sein Biotop, früh
War ein riesiger Müllberg,
[…]
Ein Manöverfeld8
Der Abfall bildete hier mit den falschen Versprechen und dem nach Krieg riechenden Gebiet ein wahres „Vanitas-Inbild der Welt“9, wie Reinhard Baumgart treffend bemerkte.
Das Leben begann für Grünbein mithin dort, wo es das Verfallsdatum bereits überschritten hatte, zwischen sich begrabender Stadt und verschleppter Nachkriegszeit, erweitert um die Komponente eines zynischen Staates, arm an Utopien. Und immerhin ist Dresden auch ein Sonderfall europäischer Geschichte, ein tragisches Symbol für willkürliche Zerstörung, die sich weit über die Gegenwart hinaus in das Gesicht der Stadt gebrannt hat. Dresden ist schon deshalb, mit Wulf Kirsten gesagt, eine Landschaft, die für „existentielle Probleme besonders sensibilisiert.“10 – „Vom Facettenauge der kleinsten Fliege / Geht noch Vernichtung aus“11, schreibt Durs Grünbein später.
Diese unglückliche Dialektik von gegenwärtiger und historischer Tragik – „Plusquamperfekt und Futur schieben sich verkehrt ineinander“12 – formuliert Durs Grünbein zu keiner Pietät. Dresden wurde ihm zur Chimäre, die von Nostalgie zehrte, vom „Phantombild ihrer einstigen weltstädtischen Silhouette“13. In der präzisen Zeichnung des Debüts ist diese Stadt als Erfahrungsort kaum erkennbar, weil Grünbein Dresden zu einer exemplarischen Schablone dystopischer Erfahrung abstrahiert.
Hier liegt eine Grundkonstante der Poesie Grünbeins, welche die „stumpfe Gegenwart“14 regelmäßig ins Zentrum rückt. In Dresden wuchs jener tragende „Verdacht gegen die Wirklichkeit einer Welt als Phantom und Konserve“15, wie ihn Rudi Thiessen Dichtern der Moderne zuordnet. Der Zwang, die Stadt in der Grauzonenfrühe zu passieren, war eine Tortur, die Umgebung entsprach einem B-Movie: „immer dieselben Passagen, dieselben Hintergründe […] wie ein Film voller technischer Mängel, […] der Alltag einfach eingerastet“16. Die Poesie wurde also von Beginn an inspiriert von der Wiederkehr des Gleichen,17 in dessem Rahmen Transitorik und Dynamik bloß Oberflächenphänomene bilden.
Im Gesichtsfeld des Lyrikers lagen Müll und Lücken, die Schmutzfarben erodierten Sandsteins, der blasse Chic ostdeutscher Stadtgestaltung, aber auch Systemschwäche und die Folgewirkungen auf den Menschen. Ein todkranker Körper war der Staat, äußerlich und moralisch. Die DDR, sagt Grünbein, „war eine unmögliche Konstruktion, eine Art Testgelände für eine klassische deutsche Idee, exekutiert unter sowjetischer Aufsicht“18. Der westlich-nachspürende Blick Gustav Seibts analysiert dieses Umfeld als eine zivilisatorische Trümmerlandschaft, „die etwas Urtümliches und Bedrängendes gehabt haben muss, ganz fern der zerstreuten Anästhesie westlicher Konsumgesellschaften.“19
Das Gedicht nimmt deren Erosion, die Unzulänglichkeit und das Begrenztsein auf und fixiert es im Bild eines durch die Monotonie einer abgelebten Welt gedemütigten Ichs.
Das Obduktionsfeld der Grauzone morgens wird zu einer ,komprimierten Brache‘, in der das Detail dem Verlust des Ganzen gegenübergestellt wird.
Jene ins Bewusstsein gedrückte Grauzone ist haptisch ein Reinfall – der Verfall erscheint konsistent, das Grau phänotypisch – und politisch ein Verlust an Freiheit: Als „genehmigtes Ich“20 erkennt sich der Sprechende später darin.
Die Romantik hinter sich,21 findet Durs Grünbein schnell zu jener Bennschen Tonart, welche „Sensibilität mit Aggressivität und Aggressivität mit Resignation verbindet“22. Von der „Plötz // -lichkeit mancher Augenblicke“23 überrascht, gibt Grünbein dem Einfall des Moments nach und topografiert die Augenblicke zum Abbild sowohl der Umwelt als auch des eigenen Ichs. Grünbein verdichtet die Erfahrung zu einem „zeitgenössischen Bewusstseinstableau, das gerade in seinen sprachlichen Brüchen, in der Rauheit authentisch wirkt.“24 Doch nicht nur dem Zufall wird nachgegeben, wie mit den Augen eines Ingenieurs schaut der Autor: Warum funktioniert das System nicht?[footnote]Laut Böttiger eine Aussage Grünbeins. (Vgl. ebenda)…[/footnote] Es ist eine entsprechend kühle Stimme, die aus der Lyrik schlägt. Ein, wie Tom Peuckert sagt, „spröder, jeglicher Erholung im verbindlichen Gefühl abgeneigter Ton“25. Die Perspektive gleicht dem interessierten Blick eines Forschers, der entfernt schien wie nach einer Flucht und nun wieder in die Atmosphäre eintritt. Doch das eigene traumatische Erlebnis wird nie ganz ausgeklammert, die psychische Misere bleibt spürbar.
Bereits Grauzone morgens wird damit zur Landkarte einer umfassenden Implosion des Sinnes, eines Verlusts der Referenz von Innen- und Außenwelt, um mit Baudrillard zu sprechen.26 An die Stelle des puren Schönen sind demnach Euphemismen getreten. Der Dichter erfährt die Patina der Stadt zunächst nur mehr im Abblättern. Dieser primäre negative Eindruck überlagert deutlich alle späteren Einflüsse. Nahezu syndromatisch ist die Perspektivlosigkeit. Die hier aufgezeichnete „Signatur einer stehengebliebenen, bleiernen Zeit“27 ist eine dauerhafte Erfahrung, die die Grauzone zum Untertitel auch der weiteren Lyrik macht.
In der Schädelbasislektion verlässt Grünbein die weitgehend minimalistische ,Reflexion an der Realität‘, wie sie die Grauzone morgens bestimmte. Obwohl bereits dort cut-up eine Rolle spielte, die Bilder verschiedener Bedeutungswelten korreliert wurden, prosaische Erzählung in lyrische Aufgerissenheit gelöst wurde und das Ich sich oftmals Synopsen verweigerte, erweitert der zweite Gedichtband die poetischen Potenzen des bisherigen Œuvres schon äußerlich. Mit Tonlagen zwischen zivil und zynisch zeigt diese Lyrik in hohem Maße das rhetorische Raffinement assemblierender Sprache. Tom Peuckert subsumiert:
Schädelbasislektion nimmt die Formensprache des ersten Buches auf, treibt sie aber fort in neue Bereiche gedanklichen wie poetischen Experiments. Die Oberflächen der Texte sind rauher geworden, ihre Tiefen verschlungener. Die Polyphonie der Stimmen hat zugenommen.28
Die Vielstimmigkeit, die sich sowohl in den einzelnen Texten29 als auch innerhalb der verschiedenen lyrischen Varianten feststellen lässt, ist programmatisch, wie verschiedene Aussagen belegen. Durs Grünbein selbst attestiert seinem poetischen Vorgehen die Wendung „von einer betrachteten Realität (der Oberflächen) zur beobachtererzeugten Realität (der Denkbilder).“30 Der Blickraum des Gedichts öffnet sich nach innen – auf verblüffende Weise auch durch die Thematisierung der Körperlichkeit.
Was du bist steht am Rand
Anatomischer Tafeln.
Dem Skelett an der Wand
Was von Seele zu schwafeln
Liegt gerad so verquer
Wie im Rachen der Zeit
(Kleinhirn hin, Stammhirn her)
Diese Scheiß Sterblichkeit.31
Es gerät eine Poesie in den Blickpunkt; die vergleichbar mit Paul Virilio den menschlichen Körper als letztes urbanes Territorium32 betrachtet, ausgeliefert den verschiedensten Anfällen. Gottfried Benn hatte geschrieben: „Es gibt […] nur eine Ananke: Den Körper“33, und meinte damit die mentale Infusion durch die Zwänge verschiedener Sedimente von Unbewusstem und Bewusstem. Grünbein bezeichnet diesen Zustand als das eigene Unheimliche, eine Fremdheit im eigenen Leib34 und postuliert sein Hirn als babylonisch – in seiner Erfahrung dem Idiotischen preisgegeben, stofflich zwischen Gattungsleben und Icherleben hin- und hergerissen.35 Das Gedicht sei wie der Zustand des Ichs selbst „eine Folge zumeist wenig angenehmer Reflexe“36.
Dieses nach Paul Valéry mit Bewusstsein versehene Kaleidoskop, den Zwängen der Existenz ausgesetzt, bildet Grünbein mit der Lyrik der Schädelbasislektion ab. Jenes Wort spricht von der Fremdwirkung auf das Individuum; die Gedichte dazu artikulieren die an der Schädelbasis ankommende Lektionen37.
Unter Beobachtung steht „der einzelne Körper, der in Spannungsfelder gerät, die ihn asynchron erscheinen lassen, nicht auf der Höhe der scheinbar objektiven Realität befindlich, ihr voraus, hinterherhinkend oder bloß eigenwillig verstockt“38, urteilt Ernest Wichner überzeugend. In einer Diktatur aufgewachsen, verfolgt der Autor weiterhin die Einflussnahme der gesellschaftlichen Vorgaben auf das Innenleben. Es zieht, sagt er selbst, „der Dichter durch sein noch junges Ich wie durch ein vorzeitig verwüstetes Feld und hält Trümmerschau.“39 Auf der lyrischen Bühne erscheint die Anlage dessen, was sich wie ein roter Faden durch die Lyrik ziehen wird:
Die tägliche Desorientierung, die ganze urbane Hochstapelei des falsch Konditionierten, der sich dabei beobachtet, wie er vergeblich Schritt zu halten versucht, misstrauisch dennoch gegen jedes Gelingen.40
Schädelbasislektion verarbeitet zudem den politischen Umbruch am Wechsel in die Neunzigerjahre. Taxiert wird der Mensch als Träger antrainierter Verhaltensmuster – ein pawlowscher Hund –, weil für Grünbein die Gesellschaft östlich des Eisernen Vorhangs eher mit der Reflextheorie Pawlows zu begreifen war als mit Freuds Neurosenlehre.41
Grünbein ist der längst Geflohene. Seine Situation ist ähnlich wie die bei Thomas Brasch.
Die Erfahrung der Verstümmelung des Menschen durch die Manipulationsmaschine der Menschenwelt führt zu einer gegenläufigen Kraft: Die Spuren verwischen, sich ausradieren, wieder ein leeres Blatt sein, das nicht mehr beschrieben wird.42
In Union mit einem deutlichen Sarkasmus schildert Grünbein seine Erfahrungen mit dem Neuen Menschen als Funktionsglied innerhalb einer restriktiven Gesellschaft. Er beschreibt die Folgeerscheinung der alltäglichen Insuffizienz, der echolosen Fragen an sich selbst, der äußeren Zwänge und der Selbstdomestikation. Jener Kontext ist es, der viele Gedichte über das hinaus wichtig macht, was sonst als eremitisches Kränkeln erscheinen könnte.
Die Introspektion der Psyche, die Begutachtung von Matière und Mémoire43 erfolgt durch metaphorische Trepanation, das Öffnen des Schädels. Darunter werden Brüche deutlich, geistige oder anthropogenetisch bedingte. Die Schock-Erfahrung steht im Zentrum der Vivisektionen und findet sich, wie bereits angedeutet, gespiegelt in der Form des Gedichts. Grünbein bildet die Folgefehler der Wahrnehmung fremder Wirklichkeiten ab, die Komplikationen von Speichern und Sprechen. „Verstörte Wortmusiken“44 erkennt Gustav Seibt darin.
Die Texte treffen bei ihrer „Suche nach einer zersplitterten Erfahrung“45 auf die Psyche, gehemmt durch Außenwelt wie auch durch Sprache. Das Ich sieht sich „elektrisiert von Floskeln“46, umgeben von leeren Zeichen, die es letztlich auch bei sich selbst bemerkt. Häufig werden in der Schädelbasislektion Reizüberflutung und Unglückserfahrung, die Frage nach dem Wert von Körper und Geist sowie die Determination durch Sprache parallel verhandelt. Dabei gehen Wirklichkeitssurrogat und fiktionaler Entwurf ineinander über, wird dem Gegebenen das Phantastische eingraviert oder sucht das Phantasma sich die Bilder der Erfahrung. Grünbein inszeniert „Tiefsee und Großstadt wechselweise“47, bildet Lyrik aus Faktum und dem, was er einmal „Psyches Stimme“48 nennt. Das Gedicht oszilliert zwischen Wahrnehmung und Simulation, ist realitätsbedingt und realitätszeugend.
Grünbeins Lyrik ist das Resultat zivilisatorischer Drangsal. Der Autor beobachtet den Druck des Realen auf das Mentale, arretiert den Choc dort, wo er irritiert. Ort des Geschehens ist der Schnittpunkt zwischen Außen und Innen, die Arena von zerstreutem Bewusstsein und versprengtem Ich. Das Reale agoniert das, was Seele hieß und was der Dichter nicht mehr Seele nennen kann.
Mit der Poesie Grünbeins findet ein Konzept zu Formen, das den lyrischen Text als Schnittstelle ursächlich verschiedener Ströme begreift. Idealerweise ohne Zwischenstufen, reflexive Engpässe, Auslegungen, soll das Gedicht eine Emulsion sein von Innen und Außen, spontanen Eingebungen und Rückgriffen in die Tradition. „Im dichterischen Wort“, so der Autor später, „trifft sich die älteste Empfindung mit dem jüngsten Einfall, der Stammhirnaffekt mit dem neuesten Gegenstand, mit der aktuellen Idee… in einem Akt blitzhafter Imagination.“49
Grünbein ließ sich inspirieren von den poetischen Techniken vor allem bei Dante, Baudelaire und Pound: Durch einerseits die präzise Beobachtung, andererseits das Kumulative der weit ausgreifenden Dichtung in den Poundschen Cantos oder Dantes Divina Commedia.50 Für seine Lyrik folgt daraus ein Wechseln von imagistischen und pluralistischen Prinzipien, von ,Phanopoeia‘ und deren Störung. Ob direkte Projektion oder syllogistische Auslassung – intendiert ist die Entwicklung einer anthropologischen Landschaft, eines zeitenübergreifenden Kompendiums menschlichen Befindens. Bühnenbild jener lyrisch durchmessenen Gegenwart ist zunächst und vor allem die Stadt, für Grünbein „so etwas wie eine lebendige Bibliothek mit vielseitigen Verkehrsformen, Zeichenvielfalt und einem Dauerbeschuss von Reizen. Die Großstadt ist der Platz, so schon Baudelaire, wo man in kürzester Zeit die größte Varietät von anthropologischen Formen erleben kann. Das familiäre Dorf bietet nur eine gewisse Anzahl von wiederkehrenden ,Grunddramen‘ an. Es ist der Ort des Inzests, während die Stadt die Stätte der größten Heterogenität ist.“51
Diesen mit vielfältigsten Einflüssen gesättigten Raum erlebt Grünbein – ausgehend vom waste land Dresden – als „deformierte Realität“52, letztlich auch als ein Areal kollabierender Wahrnehmungen. Der Verfall scheint internalisiert. Die Entfremdung produziert zumeist Verwunderung, schwankend zwischen bitteren Tönen und konsterniertem Rückzug. Auf unterschiedlichsten Energieniveaus entwickelt Grünbein ein anderes „elektrisches Versuchslabyrinth der Städte“53.
Immer weiter ist die Lyrik von den Arealen metropolen Lebens beeinflusst. Zwischen paralytischem Großstadtkoma54 und dem Überfluss des Geschehens greift kein Advertisement mehr. Der Raum des distanzierten Ichs ist das Zeitalter aufziehenden Wahrnehmungs-Overkills, vorläufiger Endpunkt den der seit ersten industrierevolutionären Takten sich entwickelnden Pluralitätspluralität. Das Fin de Siècle in Neuauflage ist wenn nicht mit Nicolas Born die Welt der Maschine, so doch die des fremdbestimmenden Maschinellen. Eine rapide Zeit mit dem seit Jahrzehnten eingelebten Arsenal der „Reizschübe, Ereignis-Kampagnen und Neuigkeitsparolen, bunt, knallig, nicht um die Sinne zu bilden, sondern um an die Nerven zu gehen. […] Watt- und Phonzufuhren, Farb- und Temperaturschwemmen.“55
Die Gedichte gehen daran, die „durchschnittliche Exotik des Alltags“56, aber auch den durchschnittlichen horror vacui zu obduzieren – inklusive der eigenen Irritationen. Neben diesen eher Kalamitäten zu nennenden Wundmalen an der Oberfläche des Lebens rücken aber auch tiefere Narben ins Sichtfeld, werden die ,malignen‘ Dimensionen der Gegenwart bewusst gemacht und schließlich Verbindungen zwischen den Unzulänglichkeiten und den gesellschaftlichen Fehlfunktionen bloßgelegt.
Im skeptizismusgeschärften Stakkato der Bilder alternieren die poetischen Linien Grünbeins. Die Lyrik bietet Versionen der Angst vor der Zerstörung der Sinne im Flirren der urbanen Entropie. Beständig setzen sich die Gedichte den „Innervationen in rascher Folge“57 aus, ohne dass es zu nihilistischem Kulturpessimismus, zu regressiven Tönen à la Gottfried Benn käme.
Mit Falten und Fallen konsolidiert Durs Grünbein die angeschlagenen Themen: „Die Bilder wechseln, und die Fremdheit bleibt, sagt Heiner Müller.58
Was er ausspricht, ist unverkennbar. Immer weiter geht es um die Krise eines irgendwie konsistenzlosen Seins. Die erlebten Spannungswechsel sind bloß Abwandlungen eines einzigen unbefriedigenden Zustands. Variation auf kein Thema59 liefert die Phänomenologie dazu. Es bleibt nicht bei Beschreibungen des Äußeren: „Das lyrische Ich bezieht sich in die konstatierte Marginalisierung des Subjekts ein“60, schreibt treffend Hermann Korte.
Grünbein poetisiert das Defizitäre, durchzogen mit anti-sentimentalen Verdikten: „Jede Krise fing an mit dir.“61 Auch hier wird der Mensch präpariert als „Ein Nichts an Körper und ganz allgemeiner Atem“, sich selbst nicht gehörend, „Ein unbekanntes Tier“62.
In der Betrachtung wird der Mensch zum wohltemperierten Weltbürger, der all die Eigenschaften und Leidenschaften abgelegt hat, die die Geschichte in Gang hielten.63 Die Flucht vor den Außeneinflüssen und vor sich selbst scheint verhindert. Es ist das formuliert, was Hans Blumenberg resümierte: Der Mensch ist ein auf peinigende Weise mit dem cartesischen ego cogito gleichgeschalteter Leibautomat, und findet sich selbst nur als Attrappe vor.64 Grünbein spiegelt die Falten und Fallen des Gehirns in der alltäglichen Existenz.
Zum Vorschein kommt die Position „eines unfreiwillig Erwachten“65, eines Zwitters von Freiheit und Bedingtheit. Es sind nicht mehr Ideologien, die Grünbein zertrümmern will.66 Er sieht die Chance im anthropologischen Schreiben, wechselnd zwischen eigenem Vergewissern und der Durchleuchtung der Gesänge der Satten67 – für deren Illustriation der Autor auch in vergangenere Gefilde eintaucht.
Wenngleich Grünbeins Lyrik „wieder und wieder gewendete Gegenwartsanalyse“68 ist, führen in diese Gegenwart ganz unterschiedliche Zeitlinien hinein. Der imaginativ aufgeladene Entzauberungsblick69 sucht sich seine gegenwartsillustrierenden Motive auch in der Vergangenheit. Doch steht die historische Sphäre nur im Zentrum viel weiter gespannter Erfahrungen, wie Gustav Seibt betont.70
In den Gedichten überschneiden sich Vorvergangenheit und düstere Ahnung. Die retro- und prospektiven Betrachtungen haben zumeist die Perspektive, dass am Horizont der Zukunft keine neuen Qualitäten zu erkennen und die Utopien bloß Renovierungen abgenutzter Ideale sind. Entsprechend haben sich viele Interpreten der Behauptung hingegeben, es ginge um die Seismik eines drohenden Unterganges. Doch das lyrische Konzept basiert eigentlich weniger auf derart übersteigerter Posthistoire-Theorie, die Lyrik erfüllt sich keinesfalls in apokalyptischen Visionen.
Vorläufiger Schlusspunkt jener Entwicklung, die aus den vielfältigsten Bezügen schöpft, ist der Gedichtband Nach den Satiren, die der Autor als Kontrafaktur der satirischen Dichtungen des Juvenal verstanden haben will. Einerseits dient das antike Rom in seiner Dekadenz als Vergleichsmuster der Jetztzeit, andererseits stößt Grünbein ohne Umwege in die aktuelle Gegenwart. „Es kam“, so Manfred Fuhrmann, „Grünbein offensichtlich auf das Gemeinsame der beiden Epochen an, nicht auf das Trennende: Auf die überreife Zivilisation, die an schweren inneren Schäden leidet und schließlich auch von außen zu Fall gebracht wird.“71 Die historischen und zeitgenössischen Genrebilder zeigen, gegeneinander gestellt und palimpsestartig geschichtet, Konstanten in der Conditio Humana, in Stil und Wirkungen des Lebens.
Manfred Fuhrmann nennt die Gesamtformation der Texte eine satura lanx, eine bunte Schüssel.72 Totale und Nahaufnahme, Identifizierung und Entrückung wechseln sich ab wie die metrischen Formen. Grünbein schafft formal ein Triptychon, um dessen Kern zwei Zyklen von Gedichten arrangiert sind. Zwischen Bildern vom Römischem Reich und denen des heutigen Globus findet sich der Abschnitt „Nach den Satiren“, der Vergangenes und Jetziges verbindet, indem er neben der Reflexion des Alltags exkursiv in Geschichte vordringt. Der Metropolenbewohner wird bedrängt von vielen Teilbildern, zu deren Facetten auch das kollektiv Verdrängte, die sich in der Gegenwart fortschleppende Geschichte gehört. Ein Geisterseher unterwegs in Deprivationen.
Die poetische Inszenierung schöpft aus der Erfahrung psychischer und metaphysischer Erbärmlichkeit, widmet sich den Überfällen auf die Körper. In das Präsens schleicht sich oftmals das Präteritum, ist in der Evokation des Gedichts das Leben ein ausgegrabener Traum73. Man kann Grünbeins Lyrik unbedingt verstehen „als Praeparatio mortis, im stoischen oder existentialistischen Sinne“74.
Auch der Tod selbst, zeigen die von Grünbein verfassten Epitaphe, kann als Charakterstudie des Lebens verstanden werden. In Den Teuren Toten75, dem parallel zu Falten und Fallen entstandenen Gedichtband, werden verschiedene und oft skurrile Arten des Sterbens zu Archetypen der Existenz. Das Epitaph ermöglicht eine noch distanziertere Weltbetrachtung. Trotzdem erhält sich in ihnen eine vitale Grundspannung, weil der Autor den Text mittels etwa des makabren Untertons auf ganz anderen Verständnisebenen rezipierbar macht.
Grünbeins Dichtung tastet über weite Strecken in dem Raum zwischen Großstadt und Großhirn76. Sie versucht, den Außenraum zu klammern mit den und durch die Gravuren, die sich im Innern hinterlassen oder hinterlassen haben. Die Reflexion der Erfahrung führt dabei immer wieder zurück in die Visitation des Körpers. Charakterisieren die Knochen des Menschen Strukturen der Erstarrung, so repliziert die metaphorische Abbildung des Hirns die Spuren der Erinnerung.
Zum Paten jener Methode wird Georg Büchner berufen.77 Dessen Zürcher Probevorlesung über Schädelnerven, allgemein als Übergang von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft gehandelt, wird Grünbein zu einem Vorbild für die eigene Poetologie. Was er bei Büchner ausmacht, ist „Physiologie aufgegangen in Dichtung“ – mit der Folge, dass von ihm eine „härtere Grammatik, ein kälterer Ton“ ausgegangen ist:
Das geeignete Werkzeug für die vom Herzen amputierte Intelligenz.78
Die medizinische Abhandlung über die Schädelnerven von Barben nimmt Grünbein zum Ausgangspunkt, von dem aus er Büchner als Protagonisten einer Entwicklung interpretiert, der dem Idealismus einen anthropologischen Realismus entgegensetzte. Büchner habe erstmals den Körper „im gefrorenen Schockmoment aufblitzen lassen“ und ihn schließlich zur „letzten Instanz“79 erklärt. Im Menschen, so Grünbein, erkennt Büchner das letzte Tier, das Leben schildert er als eine Abfolge hässlicher Paradiese.80 Dantons Tod, Woyzeck und Lenz könne man somit als Abschlussberichte einer Krankheit zum Tode deuten.81
Entsprechend akzentuiert sich dann die Lyrik Grünbeins. Der Mensch erscheint fortgesetzt als zerbrechlicher Körper in der Geschichte. Wenn auch „die Utopien mit der Seele gesucht werden, ausgetragen werden sie auf den Knochen zerschundener Körper, bezahlt mit den Biografien derer, die mitgeschleift werden ins jeweils nächste Paradies.“82 Grünbein begleitet den Körper als das Gegenstück der immateriell-fiktiven Seele und der Sentimentalisierung der Weichteile. Sich an der Erotik des Körpers orientierende literarische Traditionen werden ausgeschlossen. Der Knochen ist letzte Instanz – ein statischer Rest, den er mit Sarkasmus belegen kann. Und jenes Ich, das einen denkt, wird festgelegt zwischen psychoaktiven Substanzen, elektrischen Impulsen und Neuronentransmission.
Teile seiner Büchnerpreisrede lesen sich wie ein Echo zum eigenen literarischen Procedere. Thema:
Das Scheitern von Grund auf und aus den Eingeweiden. Denn Autopsie ist der sicherste Weg zum Verlust des Glaubens oder […] zur Befestigung des Unglaubens. Das Zerlegen der Körper ist der Königsweg zum Absurden genauso wie zur äußersten pragmatischen Demut.83
Der durchdringende Blick hält sich nicht auf an Wärmezonen, an sensualistischem Komfort84 – „Eröffnet ist das Theater der Anatomie.“85
Es ist dies auch jener Raum der Ratio, den Grünbein für die Lyrik erschließen will. Ihn faszinieren die Naturwissenschaften sowohl auf erkenntnistheoretischer als auch sprachlicher Ebene.86 Mittels der Metaphernsprache der exakten Wissenschaften versucht er sich der allgemeinen und der poetischen Existenz anzunähern. Das für die Lyrik ungewohnte Vokabular ist den Texten ein Unruhefaktor und schafft größere Spannungsbögen. „Ich glaube, dass Fremdwörter gewisse Wortfelder semantisch ersetzen“, sagt Grünbein im Hinblick auf den Einsatz kaum geläufiger Sprachbestandteile. „Die Fremdheit der Wörter“ sei zudem „die des Autors selbst.“87 Ähnlich wie das szientistische Vokabular haben auch die geistesgeschichtlichen Anspielungen und Zitate doxografischen Wert. Sie sind zugleich Erklärungen eines Erkenntnisstandes und Ausdruck der Begrenztheit eigenen Denkens. Als Stellvertreter traditioneller Anschauungen öffnen sie den Raum der Literatur über das Eigene hinaus. Gerade jene Berufungen wurden kontrovers behandelt und haben Grünbein neben Begeisterung den Vorwurf narzisstischer Arroganz eingebracht.
Zu einer positiven Betrachtung des besprochenen Komplexes findet Nicolai Riedel:
Saloppe Phrasen, authentische und fingierte Zitate und das reichhaltige medizinische Vokabular schaffen Verfremdung und ausreichend Distanz […]. Gerade in diesen Übertreibungen und Stilisierungen des Paradoxen liegt das katalysatorische Moment, das zur Welt- und Selbsterkenntnis verhilft.88
Ernest Wichner hingegen erkennt „Fingerübungen einer selbstgenügsamen Intellektualität, die Gefahr läuft, sich in Wohlklang und Pose zu verlieren.“89 Raoul Schrott spricht gar von „Fußnoten-Intelligenz“90.
An letzteren Äußerungen kann man leicht die außerliteraturwissenschaftliche Provenienz erkennen. Das Feuilleton arbeitet mit Aperçus, mit pointierender Dialektik. Obwohl eine Vielzahl von Stellungnahmen zu Durs Grünbein enorm von subjektiven Vorlieben geprägt sind, soll in dieser Arbeit auf sie zurückgegriffen werden. Schließlich lassen die verschlungenen Wege der feuilletonistischen Kritik über die Muster der Rezeption auch die gesellschaftlichen Reibungen am ,Phänomen‘ Grünbein erkennen, der urplötzlich die Poesie derart prägte.
Ecce Poeta!, hieß es früh von seiten Siegfried Unselds, Grünbeins Verleger. Und Gustav Seibt salbte den Dichter für die Öffentlichkeit zum „alle interessierenden Götterliebling.91“ Trotz der Goutierungen jedoch und der Pamphlete andererseits – oft in dialektischem Pro und Contra – wird jenes Feld für vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht. Es gilt, die Stimmen der Kritik zusammenführen. Wenn die betreffenden Artikel zumeist wenig literaturwissenschaftliche Ausdauer zeigen, sind sie doch in einzelnen Beobachtungen sehr präzise.92
Aufgabe vorliegender Arbeit ist es, ein Gesamtbild der Lyrik, in Ansätzen auch der Poetologie Durs Grünbeins zu liefern. Die Methode einer großflächigen Analyse wurde deshalb gewählt, weil viele der Motive sich in Nuancen fortsetzen, die nicht unterschlagen werden sollen. – Exemplarische Untersuchungen erscheinen hingegen oft sehr reduktionistisch.
1 Einleitung
2 Werkinterpretation
2.1 Kontrollierte Entfremdung. Der Gedichtband Grauzone morgens
2.1.1 Annäherung an keine Farbgebung – Das Grau als Folie für Berichte von einer mediokren Welt. Einige Überlegungen zur Korrelation von Titel und Inhalt des Grünbeinschen Debüts
2.1.2 Das Ich zwischen Kulissen von Harmlosigkeit und Katastrophe –
aaaaaaaa Auf der Suche nach dem ephemeren Schatten des Schönen
2.1.3 Mimetisierung des Gedichts.
aaaaaaaaDie Wiederkehr des Imagismus im Aufnehmen des Unbedingten
2.1.4 Schockwirkungen
2.1.6 Statusfrage am eisernen Vorhang: Über Versuche, die Grauzone zu lokalisieren
2.2 Körperwärts, vom Kopfskelett her. Zur Schädelbasislektion
2.2.1 Präludium: Bemerkungen aus observierender Distanz.
aaaaaaaaSchädelbasislektion als programmatischer Begriff
2.2.2 Lektionen im Auftrag der Ernüchterung
aaaaaaaaPrä- und Posthume Innenstimmen
2.2.2.1 Erste Sektionen des Ichs
2.2.2.2 Posthume Innenstimmen: Das Innen stimmt nicht mehr
2.2.3 Drinnen spricht Draußen. Niemands Land Stimmen
2.2.4 Durchhaltegestern und Folgezeit. Nachrichten vom Tag X
2.2.5 Real existierende Degression von Utopie. Die Leeren Zeichen
2.2.6 Die Krone der Schöpfung, der Mensch, der Hund.
aaaaaaa Ein Woyzeck-Szenario: Porträt des Künstlers als junger Grenzhund
2.3 Falten und Fallen
2.3.1 Der traurige Körper der Konsistenzlosigkeit im Regime der Zeichen.
aaaaaaZur Variation auf kein Thema
2.3.2 Zur Semantik eines Titels: Falten, Fallen und die Kongruenz von Leitmotiv und Text
2.3.3 Hälfte des Ohres
2.3.4 Nachtrag: Aus einem alten Fahrtenbuch.
aaaaaa Durs Grünbein und ein Versuch über die Falle Sprache
2.4 Bulletins in metrischer Sprache. Den Teuren Toten 33 Epitaphe zwischen klassischem Versmaß und Pin-up-Stil
2.5. Nach den Satiren
2.5.1 Engführung von Antike und Gegenwart: Grünbeins Historien, weitgehend hysteriefreie Schilderungen von der Kontinuität der Intrigen und dem Sterben am Rande
2.5.2 Asche zum Frühstück. Dreizehn Fantasiestücke
2.5.3 Positionsbestimmung in Bezug auf die Moderne.
aaaaaaDie Zyklen Nach den Satiren und Physiognomischer Rest
3 Auswahlbibliografie
hat die deutsche Lyrik der letzten zehn Jahre geprägt wie kein anderer. Insofern kann es kein Schnellschuss sein, die bis jetzt vorgelegten Gedichte auf ihre Substanz hin zu untersuchen. Entlang der grundlegenden Selbstanweisung, Kontinuitäten und Dialektik der Grünbeinschen Lyrik herauszustellen, geht es darum, sich auf das Filigranwerk der Dichtung einzulassen: In welche Manöver begibt sich hier Poesie, von welcher Sprache wird sie getragen, welche Dimensionen hat das lyrische Sprechen? Dass diese Annäherung den Titel Zwischen Großstadt und Großhirn trägt, ist zwei wesentlichen Konstituenten der Gedichte Grünbeins geschuldet. Von Beginn an dient der urbane Raum als Bezugssystem eines literarischen Flaneurs, dem hier der Halt verloren gegangen ist. In anti-utopischen Raumerkundungen zeichnet sich die Verstörung der Sinne im Flirren der urbanen Entropie ab. Die Großstadt ist das Hintergrundmuster für die Beobachtung von eigener und fremder Deprivation. Inmitten zivilisatorischer Drangsal beobachtet Grünbein den Druck der Realität auf das Mentale. Das Innenleben kommt ins Spiel, um quasi als Verdoppelung der Ernüchterung zu dienen. „Was du bist steht am Rand / anatomischer Tafeln“, schreibt Grünbein, und setzt damit eine zweite Heimatlosigkeit neben den verlorenen Ort der Stadt. Das versprengte Ich erhält keinen Rückhalt durch eine etwaige Seele. Und das Gehirn wird mit dem gesamten Körper zu einem weiteren urbanen Territorium. Das vorliegende Buch ist eine Untersuchung nicht nur dieser Aspekte. Es ist der Versuch, eine erste umfassende Darstellung der gesamten Lyrik Durs Grünbeins zu geben. Hinzugezogen wurden nahezu sämtliche Äußerungen über den Dichter, um ihre Kerngedanken für Interessenten und Wissenschaft greifbar zu machen. Wo es nötig erschien, wurde auf Biografie und äußere Umstände eingegangen. Angestrebt war, nicht nur exemplarisch zu arbeiten, sondern konzentriert die Einzelgedichte und Zyklen auf ihre distinktiven Merkmale hinsichtlich des gesamten Œuvres zu untersuchen.
Verlag Dr. Kovac, Klappentext, 2000
KAUM BESSERES ALS DAS
(für Ron Winkler)
Wenn ich Anfang November in Überlebensjacke
mit dem Fernglas die Zugvögel
auf den Salzwiesen beobachte, der Körper
den Himmel rändert, zwischen Warten
und Zögern die Zeit zerfällt, das komplette Ganze
in diesem zerschundenen Licht
zu einer Einlieferungsanstalt wird
und weiter kein Anspruch unter
dieser Nummer besteht, die Zweifel
die ich meine nenne, wiegen knappe siebzig
Björn Kuhligk
Am 1.4.2014 sprachen Hendrik Rost und Ron Winkler unter der Überschrift Kontrastprogramm in der literaturwerkstatt berlin mit Insa Wilke über ihre Bücher und ihr Schreiben.
Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.
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