SOMNIA
einige Bilder, in die ich geriet: Himmelskörper, die
aaaaafast
performativ Bedeutung abstrahlten. schmerzhafte
Götter, ihre geballten Fäuste rot wie Mundhöhlen in
aaaaader Hand
von Katarrh. Meteoritenhändler, die, um ihren
aaaaaHorizont
zu erweitern, halbe Tage in Psychofomografen verbrachten
und auf Basis der Protokolle Lieder improvisierten.
und Messen besuchten, auf denen neue Formen des Streichelns
vorgestellt wurden. abstrakte Träume über das Zeitalter
der Papillonarchitektur. Peruanerinnen (Aszendent Mao),
die aus Peru ein Peru machen wollten. Protodidakten
mit Bärten wie Liebeserklärungen an englischen Rasen,
amerikanische Vorgärten, norwegisches Moos: sie erweckten
den Eindruck, aus der Zeit gezupft worden zu sein.
Schatten der Schatten ihrer selbst. Träume. Wie Gallerinas
aus dem Metier derer, die die Schwäne der Großmütter
zur Vollendung brachten. in Wäldern
voller Emissionen von Träumen, in denen ich
auf einem hundertspurigen Weg von Atheismus
nach Eden lief. flankiert
von Gegenträumern, die sich glücklich in der Einzigartigkeit
der Uniformität verloren hatten. und knisterten
und schwaches Licht verströmten −
wie wunderschöne Wörter. sie blickten nervös zu Boden,
als hätte man ihnen die Avatare geraubt.
bevor ich aufwachte, dann, schneite es lange Zeit
Luft.
bis zum aphoristischen Zweizeiler — auch in den neuen Gedichten Ron Winklers finden sich immer wieder jene leuchtenden Fundstücke, die einen Kritiker zu der Bemerkung hinrissen, man müsse ihretwegen eine Popband gründen. „Es muss am Download shop gewesen sein …“, so beginnt ein Liebesgedicht von surrealer Modernität. Oder hat sich je ein lyrisches Ich seiner Eltern so erinnert in einem Gedicht, das auch noch „meine mickrige Landkindheit“ betitelt ist:
„Mutter war die erste gleichmäßige Variable, die wir trafen.
sie existierte in Ungleichheit mit ihrem Mann“?
Solch disparate Bilder machen Winklers Lyrik aus, seine Fähigkeit, technisch-naturwissenschaftliches Sprachmaterial dem Gedicht so zu integrieren, dass kühle Begriffe frappierende Verbindungen eingehen mit intimer Sinnlichkeit. Waren die meisten Gedichte seines letzten Bandes technizistisch gegen den Strich gebürstete Naturgedichte, hat sich die Natur aus den neuen Gedichten zurückgezogen. Es bleiben phantastisch-groteske Sprachwelten, paradoxale Strudel, die einer Traumlogik zu gehorchen scheinen. Nimmt man den in der Headline zitierten Vers als verbindlich an, dann hat die Teilmenge dieses neuen Gedichtbandes einiges von der Gesamtschönheit übernommen.
Berlin Verlag, Ankündigung, 2010
Das Cover des neuen Gedichtbands von Ron Winkler ziert ein Gemälde des britischen Künstlers Christopher Winter mit dem Titel Daytripper im Stil der sog. Neuen Leipziger Schule. Man sieht vor einem Gebirgspanorama, wie Alpen, eine monströs wirkende Idyllik, vor der zwei jugendliche Gestalten, ein Mädchen und ein Junge, im Zentrum des Bildes über einer Bergwiese schweben. Im zweiten Moment könnte man sie für vermeintliche Suizidanten halten vor einem stark klischierten Hintergrund. Die Ästhetik des Bildes wirkt auf eine befremdliche Weise künstlich und insofern verstörend, dass dem Bild als Ausschnitt – welcher Wirklichkeit auch immer – scheinbar jegliche Tiefe fehlt. Das Motiv des Schwebens, u.a. bei Marc Chagall noch visionär besetzt, wendet sich hier für das Auge des Betrachters in ein lähmendes Entsetzen. Die beiden Figuren schweben mit geschlossenen Augen auf der Stelle – wie in einem kalten Rausch – in einer frenetischen Stille der Dissoziationen?
Man möchte fast trotzig meinen: die Stille als Ort meditativer Einkehr gibt es nicht mehr, zumindest in besiedelten Gebieten. Und in den Metropolen ist die Stille wohl mittlerweile undenkbar geworden.
Von einem veränderten Begriff der Stille ausgehend, gut fünf Jahrzehnte nach John Cages Silence und dem popmusikalischen Timbre von Simon & Garfunkel (The Sound of Silence) wundert es kaum, dass Ron Winkler im Titel seines neuen Werkes die Stille in ein Gegensatzpaar verwickelt hat. Man möchte fast trotzig meinen in Anbetracht der immerwährenden elektrischen Schwingungen in der Luft, müsste man die reine Stille mieten können und mit ihr auf der hauseigenen Yacht vor St. Tropez hinausfahren aufs Meer …
Aber zur Winklerschen Stille bzw. ihrer Frenetik: sie findet sich auf Seite 88 des nämlichen Bandes in dem Gedicht „nach den Erlkönigen“. Hier im Zusammenhang von „irregulärer Natur“. Ohne zuviel verraten zu wollen, irregulär ist hier das Pendant zu regulär, im Sinne von regulärem Kaffee. Den erhält man in global-uninspirierten Gaststuben auf Bahnhöfen, in Innenstadtbereichen und Malls.
nur
dass wir keine Saugnäpfe besaßen
war ein Problem. wie gut
hätten wir sonst die Entropie zu reapieren vermocht.
Wie schön selektiv, wie selektiv schön die Apokalypsen doch sind, die uns erreichen. Zum Glück gibt es posthumoristische Nachfahren mit untergründigem Witz wie Ron Winkler, der seinem poetischen „Flying Circus“ im Sinne jener wunderbaren Welt der Schwerkraft sonnenenergetische Flügel verleiht. Haftete seinen Gedichten in den beiden Bänden zuvor etwas (geschmacklich ausgereift) Delikatessenhaftes bzw. Feingeschliffenes an, so findet man in Frenetische Stille weitaus größere sprachliche Aufrauhungen und grobkörnigere Bildwelten. Gleiches gilt für die Denk-und Sprechfiguren, die in ihren Reflexen und Reflektionen zu stärkeren Ausschlägen neigen.
wir spürten die Mischung
aus Revolte und Parkplatz. spürten das
Potenzial der Geisha-Chicas so, wie wir
ihre Schmauchspuren spürten. Tief
in uns selbst, wo 17-Fronten-Kriege tobten.
Wie ironisch gebrochen hier auch Parkplatz auf Revolte folgt, es scheint und an einigen Stellen blitzt es auf, als hätten sich zunehmend Momente kritischer Diskursivität in Winklers Texte kassibert. Von den „maritimen Verzärtelungen“ seines ersten Bandes (vereinzelt Passanten, kookbooks, 2004) jedenfalls ist auf den ersten Blick wenig geblieben, zu stark haben sich konträre Wirklichkeitsmomente den neuen Gedichten eingeschrieben.
Zwei Richtungen scheinen deutlich zu werden: eine gewisse linguistische Ruhelosigkeit im Winklerschen Werk und der stärkere Einfluss gewisser überseeischer poetischer Drogen. Letzteres muss auch in der Beschäftigung Ron Winklers mit der nordamerikanischen Gegenwartslyrik begründet liegen. In einer Vielzahl von Übertragungen und Nachdichtungen, die ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt in der beeindruckenden Anthologie Schwerkraft (Jung und Jung, 2008) fand, die er herausgab. Seitdem hat sich sein Blick fokussiert auf metropolitane Dichtung. Fanden sich in Fragmentierte Gewässer (Berlin Verlag, 2007) deutliche Spuren von Rudimenten des Naturgedichts, die Winkler in hohem Maße ironisch-süffisant verabschiedet hat, so sind im neuen Werk Kühe und andere (halb) tierische Freaks Großstädtebewohner geworden. Freaks wie „die verschiedenen obdachlosen Sloterdijks“, die man sich vor dem Cartier- oder Appleladen vorstellen muss. Konzessionslose Fruchtfleischdesigner, die der Dichter in Urbanitätsreservaten gescoutet hat für das Gegenwartsgedicht. Denn schließlich geht es an die Blutbank- und Liegewiesenreserven. Ron Winkler weiß das:
bitte tank noch einmal leer. vom Trost,
den der Leser braucht.
Allenthalben sind Winklers Gedichte für Fünfsternelyrik-Leser tröstlich in dem Sinn, dass sie auch „zungensprachliche Liebesabenteuer“ sind. Ihre Berücktheit entspringt dem unbedingten Willen zu gedanklicher Luzidität. Sie erhellen sich und den Leser ohne kassenärztliche Zahnbrücken. Sie kommen ganz ohne geistige Stützstrümpfe und Einlagen aus.
Das Spiel mit den sprachlichen Hintergründigkeiten bleibt jedoch an einigen Stellen ein schwieriges. Wenn Ron Winkler die „Bewohner der Zukunft“ in seinem mit Freud betitelten Gedicht „elfisch fremde Borderline-Primaten“ nennt, stellt sich die Frage nach den Abgründen, die hinter den Worten lauern und ihrem Erhellungsfaktor im Gedicht. Die Belichtungszeit ist dann vielleicht manchmal notgedrungen zu kurz, wenn Phänomenen allein sprachlich auf den Grund gegangen wird, ohne ihr Wesen, ihre Eigenschaften näher, ambivalenter zu verdeutlichen.
Gewiss: den Sprachoptimisten- und halbwegs Naiven in der deutschsprachigen Lyrik bleibt Ron Winkler um Jahrzehnte voraus. Hier haben wir Dichtung im Zeitalter der Globalisierung, die zwischen hoher Konzentration und lustvoller Abschweifung changiert. In poetischen Entwürfen, die Verwirrung stiften und Klarheit evozieren. Denn trotz aller möglichen Fachsprachen- und Fremdsprachenregister, die Winkler auf irritierend gekonnte Weise in eine Mixtur aus Bauhaus-Stühlen und darauf posierenden Dubuffet-Schafen verwandelt, wissen diese Texte um ihr sinnliches Potenzial. Es sind niemals Trockentexte oder Staubsaugergebrauchsanweisungen. Im Gegenteil: am Ende bleiben in kristallinen Überzuckerungslofts Froschsubjekte zurück, die gleichfalls geküsst werden wollen.
Und, für die Nachwelt muss zum Glück nicht gesorgt werden. Auch Kritiker und Betriebswirtschaftler verfügen über sogenannte Erleuchtungspools und Abendmahlreserven. Bon Appetit!
wir lebten laboristisch weiter. in den Sommerhäusern
unserer Synaptikclubs. gut, wer über Vignetten
für Clownstunnel verfügte.
Ron Winklers poetisches Œuvre hat sich mit Frenetische Stille um ein weiteres Glanzlicht fortgeschrieben im Sinne von Schönheit als Evidenz. Schönheit als Weltverständnis.
− Poesie, in der es kracht, knallt und aus voller Kanne Sinnlichkeit regnet: Der Berliner Dichter Ron Winkler hat eine Lyrikrakete gebaut. −
Vom weitverzweigten Metropolengedicht über atmosphärische Skizzen und Momentaufnahmen bis zu überraschenden Zweizeilern birgt der Band von Ron Winkler einen in der Lyrik ungewohnten Abwechslungsreichtum, der zu einer extremen Lesegeschwindigkeit führt: Man will sich die Gedichte einverleiben. Und zwar schnell! Ein großer Rausch.
Da ist die Rede von „obdachlosen Sloterdijks“, „fiction victims“ und davon, „dass man nach hundert Vorlesungen im Sozialamt einen Besuch gratis erhält“. Es finden sich wunderbare Zeilen, die die Stimmung dieser Tage auf den Punkt bringen: „Wir spürten die Mischung aus Revolte und Parkplatz.“ Oder: „Ich bin dir noch in jedes Nichts gern gefolgt.“ Es geht „um das Glück in mobilen Großstädten, bewohnt von statischen Ichs“.
Winkler wirft „die Einrichtung Sonne“ und „das Esoteriksignal Mond“ an das Himmelszelt seines Bildschirmschoners. Der Band zeigt mehr als einen Weltverlust einen Vorrangigkeitsverlust auf: Demokratie den Signalen! Auch Gott erscheint gelegentlich und taucht unter („die Zeit, in der Gott ein Beruf war“, „Gottfäller zogen an uns vorbei, wie Spams“). Zeilen wie „Asphaltinhos und Asphaltinhas, die uns Ichs anboten, die sie selbst nicht besaßen“ weisen in die Richtung einer post-postmoderner Ich-Auslagerung. Aus den Körpern in die Welt?
Wenn schon der Sinn in diesen Zeiten dünn gesät ist, dann aber sollte es aus voller Kanne Sinnlichkeit regnen. Und das tut es! Auch Peter Glaser hätte seinen Spaß an diesen Gedichten. Es sind viele abgefahrene Bilder, die Winkler zum Leuchten bringt. Und es sind auch solche dabei, die vor entpsychologisierten Ebenen spielen … „man sollte hier fäulnis üben“.
Ron Winkler stellt in Frenetische Stille eine Markette in den Raum. Die Intensität, die beim Lesen entsteht, erinnert an jene von Thomas Klings brennstabm. Winkler setzt sich über Vieles bravourös hinweg, (t)räumt auf und spricht einen neuen Ton, der euphorisch stimmt und aus der Lyrik eine Rakete macht, mit der man abhebt. Um eine Trostspende geht es hier nicht. Eher um die positive Desillusionierung, dass die Suche danach eine seltsame Anmaßung darstellt: „währenddessen fülle man jedes verfügbare Ich mit Filzflüssigkeit auf.“ Ron Winkler spricht „von Menschen, die Urlaub zu haben schienen in sich selbst“. Oder konstatiert: „Wir hatten Diät miteinander.“ Es wimmelt von großartigen Sätzen und knapp gefassten Zusammenhängen in ungeahnter Dichte, dass es kracht. Irre, wie sich da aus dem Wirrwarr wimmelnder Gleichgültigkeiten eine Ahnung übergeordneter Schönheit herausschält.
Aber das sprachliche Gold, das Amalgam und der Kunststoff überhäufen manchmal die Bauformen und Gedicht-Konstruktionen. Einige Container für Winklers Sätze, Bilder und Metaphern sind Teile, die schon einigen Abrieb haben und mit Kratzer und Graffitis übersät sind. Diese Gerüste, Anlässe und Aufmacher, die die Zeilen tragen, sind oft so neu nicht. Manchmal werden dem Leser Materialien an die Augen geknallt und es entsteht kein Bild, sondern eine zerklüftete Ideenlandschaft. Da wird dann viel in die Luft gepeitscht, was aber dennoch großartig sein kann wie in Fächer. Von den Jahren der Reise an einem einzigen Tag.
Manchmal wird das Gefühl von der Sprache und den fantastischen Ideen übertönt. Und das sagt viel, nicht nur über Winklers Generation, sondern über den Ton dieser Zeit in uns allen aus. Der sagt: Das ist die frenetische Stille. Gewidmet „(…) uns, dem Hauptbestandteil des archaischen Schlamms“.
Vor welchem Panorama diese Zerrüttung spielt, wird klar, wenn man die Abschluss-Zeilen des Bandes betrachtet: „manchmal räumten wir unsere Ziele, spielten im Krieg die Schlechten (Bösen). also Kraftwerke, die dem Jenseits dienten.“
− Neue deutschsprachige Lyrik von jüngeren Autoren und Autorinnen. −
… Ironische Distanz
Ron Winkler ist bekannt als Lyriker und als Vermittler, als origineller Anthologist und entdeckungsfreudiger Übersetzer, der immer wieder auf die nordamerikanische Gegenwartslyrik hinweist.Frenetische Stille heisst sein jüngster Gedichtband, und natürlich denkt man bei diesem Titel sofort an den „Rasenden Stillstand“ von Paul Virilio. Winkler mag die starken Bilder, das jäh Aufblitzende, Überraschende, das Paradoxe. In seinen Gedichten verwendet er gerne sprachliches Material aus der Sphäre der Naturwissenschaften oder der Philosophie. Dabei nimmt er zusammen mit den einschlägigen Vokabeln den Gestus des scheinbar Genauen, Nicht-Hintergehbaren gleich mit hinein ins Gedicht – und konfrontiert und amalgamiert es dort mit alltäglicher Sprache und durchaus bekannten Situationen. Das führt oft zu seltsamen und durchaus witzigen Kollisionen.
Das leicht Surreale, das in vielen Gedichten Winklers mitschwingt, verdankt sich auch der Entschlossenheit, ironische Distanz zu wahren gegenüber dem sprachlich allzu gross Geratenen. Da kann sich aus dem Namen „Derrida“ ein Adverb entpuppen, sogar deren zwei:
komm schon, sagtest du – das weiss ich noch – küss
dein Gesicht.
wie die Wurzel aus minus X.
und tu es sanft derridisch, aber tu es auch derridant.
Die beiden neuen Wörter brauchen indessen nicht unbedingt auf den französischen Philosophen bezogen zu werden, selbst als Neuschöpfungen werden sie durch den Kontext ausreichend aufgeladen.
Ron Winkler führt seine Vokabelmischungen mit stets spürbarer Lust an die Grenzen der sprachlichen Logik, und wenn er die Referenzen zum Bezeichneten kappt, dann drängt sich sofort etwas Neues vor, ein Bild, das es so noch nicht gegeben hat. Gerade die Tatsache, dass sich so vieles der sprachlichen Festlegung entzieht, durch Sprache aber konstruiert werden kann, scheint ihn herauszufordern – und fordert natürlich auch die Lektüre heraus, die jeweils dort weiterarbeiten muss, wo der Lyriker sein Gedicht beendet…
Bekannter als seine Gedichtbände Vereinzelt Passanten (2004) und Fragmentarische Gewässer (2007) ist die von ihm herausgegebene Anthologie Schwerkraft mit junger amerikanischer Lyrik. Von der Kritik wurde der Berliner Autor, der in Jena Germanistik und Geschichte studiert hat, bisher wenig beachtet, dabei ist er einer der sprachlich kreativsten Jungautoren. Das Tempo, mit dem er scheinbar unvereinbare Begriffe aus Alltag, Naturwissenschaft, digitaler Technik und Naturphilosophie mit einer Vielzahl origineller Wortschöpfungen nahtlos verbindet, verschlägt manchem die Sprache. Wir sind ja so träge. Was der Leser etwa bei Inger Christensen aus Gewohnheit akzeptiert – die „Geheimnis“-Räume, die Allianz von alltäglicher Beobachtung und Sprachphilosophie, das Mit- und Ineinander gegensätzlicher Bedeutungen und Empfindungen – befremdet bei dem 1973 geborenen Ron Winkler. Dabei bewegt sich sein lyrisches Universum doch nur auf der Höhe der Zeit. Nicht minder als Inger Christensens Alphabet bändelt Winkler mit der Mathematik an. Wo die Dänin aber ein ganzes System wie die Fibonacci-Folge in sprachliche Strukturen umzusetzen sucht, schleudert Winkler eine Fülle mathematischer und geometrischer Begriffe durch die Strudel seiner Verse: „Herbst minus zwei Türme“, „Sinusseite der Gegenwart“, „das Doppelte von Digital“. Scheinbar Unvereinbares setzt Winkler hart und unmittelbar nebeneinander. Schon der Titel durchkreuzt jegliche Erwartungen. „Frenetischer Beifall“, also Begeisterung, gepaart mit Lärm, wäre der gewohnte Kontext. Die unübliche, widersprüchliche Wortfügung „frenetische Stille“ aber erzeugt Spannung, unterlegt mit subtiler Ironie. Von solchen Spannungen leben die Gedichte.
Wenn man Worte so aneinanderreiht, dass sie nicht das ergeben, was man landläufig als Sinn begreift, dann heben sie sich in ihrer Bedeutung gegenseitig auf. Es entsteht vielleicht etwas, dass man als eine Art Stille betrachten kann. Ist das Wortmaterial, mit dem diese Form von Stille erzeugt wird, ausgefallen, laut, vielleicht sogar schrill, dann kann man wohl von einer „Frenetischen Stille“ sprechen.
Ron Winkler ist mit seinem gleichnamigen Gedichtband endgültig in der Postmoderne angelangt. Es geht ihm nicht mehr darum, Realität mit Hilfe eines technisch-wissenschaftlichen Vokabulars zu beschreiben und dadurch zu brechen, wie dies noch in vereinzelt Passanten oder Fragmentierte Gewässer der Fall war. Es geht darum, Sprache zu dekonstruieren und neu zueinander in Beziehung zu setzen („laut Statistik waren wir vorgesehen. ich formatierte / ein Lächeln und du, du, was sah dein Elektroplan vor?“ – „place to beast“ oder „wir hatten Diät miteinander. demnach / Organe / und „Kabbala-Wasser.“ – „draußen. ein Märchen“). Häufig arbeitet Ron Winkler mit Neologismen wie „Punkpraktikanten“, „Heideggerkeit“ oder „Endvierzigerjesusfüße“, Tautologien („inwiefern Sprache eine Vorschau auf Sprache sein konnte“ – „vereinzelt Pulp Fiction“ oder „das Wasser war so klar, wie Wasser, das klar ist“ – „kaltes klares Nordmeer“) oder belebt alte rhetorische Figuren wie Variatio und Correctio („als uns selbst. als unser Selbst. als selbst uns“ – „Fächer: von den Jahren der Reise an einem einzigen Tag“ oder „hatten sprechen wollen. sprechen können. hätten sprechen dürfen“ – „die ideale Welt“). Immer wieder gelingen ihm Formulierungen, die von beeindruckender Eleganz sind („das endlose Pi der Sonne“ – „und später dann Paraboläpfel am Atem“ oder „junge Chagalls mit Blicken wie wirklich pathetische Ausnahmezustände“ – „Arabesken“). So entsteht ein lyrischer Parforceritt, der den Leser von einem sprachlichen Höhepunkt zum anderen führt.
Bei aller Innovation ist im gesamten Band der Humor des Autors spürbar. Wahrscheinlich könnte man mit Ron Winklers Gedichten eine Halle voller junger, universitär angehauchter Poetry-Slam-Fans in Begeisterung versetzen. Gerade deshalb stellt sich die Frage, ob seine Gedichte durch den Verzicht auf Welthaltigkeit nicht einfach nur eine Form sprachgewandter Unterhaltung sind und ob das auf die Dauer nicht ein bisschen wenig ist? Ein wenig wehmütig denkt man an Zeiten zurück, als Autoren noch klar erkennbare inhaltliche Positionen – auch im Gedicht – vertreten haben.
Wenn man sich klarmacht, dass Frenetische Stille den Zerfall einer auf Inhalt zielenden Verwendung von Sprache dokumentiert, dann erscheint es nur folgerichtig, dass der Band auch in Bezug auf seinen inneren Zusammenhang divergent erscheint. Manche Gedichte wirken stilistisch so, als seien sie direkt im Anschluss an Fragmentierte Gewässer entstanden („Abendspaziergang“ oder das ästhetisch ansprechende Eingangsgedicht „Fächer: von den Jahren der Reise an einem einzigen Tag“). Viele Texte – vor allen Dingen im Eingangskapitel „Die Satzzeichen der Stewards“ – arbeiten mit der Wiederholung eines sprachlichen Versatzstückes, was rhythmisierende Effekte mit sich bringt („wir liebten“ – „zu Besuch bei Citoyens“; „gestern/heute“ – „Licht“ und viele mehr). Andere greifen sich einen Begriff heraus (etwa „Metropolen“ oder „Schönheit“), setzen ihn immer wieder in neue sprachliche Bezüge und klopfen ihn so auf neue Bedeutungsebenen ab. Wieder andere wirken von Daniel Falb beeinflusst („nachts fahren die Schulbusse als Dalai-Lama-Anstalten / über die Erosionskappen der drei Berge“ – „geh weg, Heimat“).
Dennoch hätte man sich eine klarere Konzeption des Bandes gewünscht, wie noch in vereinzelt Passanten und Fragmentierte Gewässer. Durch den Verzicht auf eine einheitliche Form ist Ron Winkler zwar ein guter Gedichtband, aber nicht der ganz große Wurf gelungen, der das Projekt der Dichtung auf eindeutige Weise fortgeschrieben hätte. Was für den Leser bleibt, sind Gedichte, die sich kunsttheoretisch auf der Höhe der Zeit befinden, die aufgrund ihrer Sprachgewalt Spaß machen und vielleicht neue Leserschichten erschließen, die zu akzeptieren bereit sind, dass Dichtung heute nicht immer im kognitiven Sinne verstanden werden kann: „alles liegt vor uns, und uns vor, unscharf genau“ („nach den Erlkönigen“).
− Ron Winkler über den Zivilisationsmüll in der Seelenlandschaft. −
das Geräusch
eines achten Ozeans
am neunten Schöpfungstag. ähnlich
dem Geräusch, das von der Poesie verübt wird.
Dieser Satz aus dem eröffnenden, langen Gedicht „Fächer: Von den Jahren der Reise an einem einzigen Tag“ soll hier nicht auf ein „poetologisches Programm“ festgenagelt werden, aber in ihm scheint etwas durch, das Ron Winklers neuen Gedichtband „Frenetische Stille“ charakterisiert. Es ist eine höchst definite Schwebe, die mit dem Material der „Schöpfung“ an deren Erweiterung arbeitet. Die Gedichte werfen keinen unverstellten Blick auf die Gegenwart (das wäre die Verdopplungsarbeit eines öden Realismus), sondern werden gegenwärtig, indem sie sich am Material ihrer Umwelt, der Sprache bedienen. Anglizismen und Latinismen der Technik- und Wissenschaftssprache, Umgangssprachliches und Begriffe des jungen Jahrtausends mischen sich mit blitzenden Resten traditionell lyrischen Sprechens. Immer wieder organisieren manische Wiederholungsfiguren den Textkörper, in einer Umgebung schwer aufeinander geschobener Bilder; Ketten der Verflüchtigung und Sogwirkungen der Lautung, neben den Verführungen der Schriftlichkeit. So entsteht nach und nach eine „Magrittewirklichkeit“, ein weiteres weites Wort Winklers.
Gewiss, manche, viele Bilder und Bildketten wirken gesucht, in ihrer Neuheit blickdicht, kühl. Oft richtet sich der Text auf den Zivilisationsmüll in der Seelenlandschaft, wo es die meiste Zeit latent bewölkt zu sein scheint. Aber im Ganzen schält sich dadurch ein zeitgenössisches, urbanes Lesegefühl parallel zum Lebensgefühl heraus, entfernt von gemessener Schönheit, in neuartigen Schraubzwingen. Es entsteht der Eindruck eines Zugleich und Nicht, von Simultanität und Leere, „Frenetischer Stille“. Da ist viel lyrische Diffusion (vielleicht ja und vielleicht nein und wahrscheinlich beides), aber in einer Machart, dass die ausbleibende Befriedigung nach den Kosten (Kollateralschäden) der Befriedigung fragt. Das heißt: keine unmittelbar angenehme, aber gute Lektüre.
Die Stille nach frenetischem Beifall kann verstörend sein. Vom Beifall aber ist im Titel von Ron Winklers neuem Gedichtband Frenetische Stille nicht die Rede. Er spart das Wort, das sich für feste sprachliche Verbindung anbietet, fast anbiedert, einfach aus.
Wer bei ‚frenetisch‘ an Beifall denkt, wird enttäuscht! So leicht macht es Winkler seinen Lesern nicht. Er stellt stattdessen eine Beziehung zwischen zwei Wörtern her, die eher zufällig zueinander gefunden haben. Doch die sich daraus ergebende Partnerschaft erweist sich als überaus spannungsreich. Vertrautes kommt nicht zueinander, und was zusammengefunden hat, bleibt sich fremd. Ein Titel als Programm: Frenetisch bedeutet ja so viel wie leidenschaftlich oder stürmisch, womit der allgemeinen Vorstellung von Stille widersprochen wird. Gerade solche Bedeutungswidersprüche, von denen die Jetztzeit übervoll ist, faszinieren den 1973 in Jena geborenen und in Berlin lebenden Ron Winkler.
In seinen neuen Gedichten, bisher sind von ihm die Lyrikbände vereinzelt Passanten (2004) und Fragmentierte Gewässer (2007) erschienen, werden Fügungen wie „unscharf genau“, „schmerzhaft schön“ oder „unbestimmtes Nein“ verwendet. Damit einhergehende „grammatische Schwierigkeiten“ sind einer Gegenwart geschuldet, die sich in rasender Geschwindigkeit in Zukunft verwandelt, noch bevor die Jetztzeitbewohner in der Lage sind, sich auf die permanent vergehende Zeit einen Reim zu machen. Diese schnelllebige Gegenwart reißt Löcher in eine Wirklichkeit, die Winklers „Passivträumer“ als einen „Geheimnisse-Raum“ erleben. Sie träumen Bedeutungen hinterher, die längst nichts mehr zu bedeuten haben und kennen sich mit Verlusterfahrungen besser aus als mit Zukunftsvorstellungen.
In „ZWEITES URBANES PANNEAU“ artikuliert sich ein lyrisches Ich mit zaghaft vorgebrachten Forderungen wie: „sag wie“, „sprich“, „sag das“. Und in „DIE IDEALE WELT“ versucht sich ein Ich zu rechtfertigen, wobei die Erklärungen zu Entschuldigungen geraten: „es ging um“ oder „im Wesentlichen ging es“. Winklers „statisches Ich“ kennt keine ideale Welt – von der hat es allenfalls gehört. Seine Aufmerksamkeit ist entschiedener auf das Mischungsverhältnis zwischen „Störgeistern“ und „Geistesgestörten“ gerichtet, womit atmosphärisch die in den Gedichten herrschende Großwetterlage benannt ist.
Ron Winklers Traumwandler (SOMNIA) erwecken Eindrücke, aber sie erwachen nur phasenweise aus Dämmerzuständen, in die sie wieder zurückfallen, um auf „Gegenträumer“ zu treffen. In den melancholisch grundierten Gedichten wappnen sich Sprechende angestrengt „gegen die so genannte Sogenanntheit“ und spüren, wenn sie ein „Lächeln formatieren“, von welchen schwerwiegenden Verlusten sie umstellt sind. Das gehört zu den schönen Seiten von Winklers Gedichten – in ihnen wird nichts schön geredet und nichts kommt leicht daher, was schwer wiegt. Ein irrlichternder, verstörender und dennoch behutsamer Jetztzeitbefund, der „Schatten legt“ ohne sie zu werfen.
Henning Heske: Anders, jedenfalls – und das will man auch so.
fixpoetry.com, 4.4.2010
Carsten Klook: Welche Entwicklung haben Sie mit Ihrem neuen Gedichtband Frenetische Stille genommen? Welchen Schritt haben Sie gemacht?
Ron Winkler: Ein Softwareentwickler kann vielleicht Auskunft über seine Entwicklungen geben, aber kann und sollte es ein Autor?
Natürlich gab es Strategien, auch unbewusste, gleichwohl ist der Band kein Konzeptalbum. Die Übergänge sind fließend. Man verändert sich selbst ja auch eher sukzessive als abrupt. Eine der Ideen für die neuen Gedichte war die der Kontamination. Einer Kontamination mit Interessen und Sprechweisen des eigenen Oeuvres, vor allem aber einer Kontamination mit jener grundlegenden Verstörung, die uns umgibt und erfasst und die voller struktureller, aber auch individueller Absurditäten ist.
Zudem hat mich die Vorstellung abgeschreckt, ein spezielles Label zu repräsentieren. Repräsentieren zu müssen. Spätestens nach Fragmentierte Gewässer gab es den zementenen Anwurf, ein Naturlyriker zu sein. In dieser Enge wollte ich nicht leben. Das bedingte hier und da eine Art Selbstabkehr. Auch um mich selbst zu überraschen. Mit Surrealismen und anderen Formen. Formwandlerisch zu operieren, schien mir immer schon mehr als nur reizvoll. Es gibt die tollsten Autoren, die jedoch in prächtiger Zombiehaftigkeit verharren. Sie sind schön, aber irgendwie tot.
Was bleibt, ist der Wunsch, für besonderes Wahrnehmen zu sensibilisieren. Die Sprache zu elektrisieren, wenn auch da und dort mit einem sehr kalten Strom.
Klook: Wie arbeiten Sie? Entstehen die Gedichte im Spiel mit dem (digitalen) Zettelkasten, setzen Sie einzelne Notizen, Wörter, Satzfetzen zusammen? Oder entstehen sie zu großen Teilen am Strang im konzentrierten Sitzen am Schreibtisch?
Winkler: Ich arbeite eigentlich so, wie ich bin: unregelmäßig und unstet und disparat. Zum Schreibvorgang an sich: Der mag für den Autoren phänomenale Transmissionen vom Nichts zu Etwas erlebbar machen, nach außen hin lässt er sich aber nicht als metaphysisches Leuchten an sich vermitteln. Schreiben ist auch profan. Direkt nebem dem enigmatischen Teilchenbeschleuniger wartet die triste Montagekammer.
Es gibt Gedichte, die spontan entstehen, weil das musikalisch-semantische Licht stimmt. Viele Texte erarbeite ich aber auch additiv. Der einzige Unterschied ist wahrscheinlich, dass die Phantasie dann aus unterschiedlichen Zeiten stammt. Gefiltert wird immer.
Wichtig ist auch, nicht aus jeder als lyrisch vermuteten Idee ein Gedicht erzwingen zu wollen. Oft tut es dann auch einfach eine Postkarte.
Klook: Was würden Sie antworten, wenn man zu Ihnen sagen würde: „Im Wesentlichen ging es um das Beheben der Atlantis-Cluster in dir”? Eine Zeile aus dem neuen Gedichtband …
Winkler: Dass das, was hier gesagt wird, eine hübsche Utopie scheint. Der Text, aus dem die Zeile stammt, ist im Grunde ein antiutopisch-utopischer Gesang. Ein empathisches Kaddisch, das zwischen Anteilnahme und Sarkasmus schwingt. Natürlich sollte es darum gehen, inerte Potentiale abzurufen, und das nicht nur im Rahmen der Poesie. Ich will die Zeile nicht ausdeuten, aber sie markiert die Ambivalenzen, um die es mir geht — beziehungsweise von denen man nicht frei ist. So etwas wie Atlantis-Cluster, nicht handhabbare psychische (und psychotische) Ballungen vielleicht, sind in ihrer Schwierigkeit und Fatalität natürlich auch wunderbare Treibstoffe für unsere Ichs.
Klook: Was wünschen Sie sich für die Literaturszene, speziell für die Dichtung im deutschsprachigen Raum?
Winkler: Für die Lyrik gesprochen: Dass der derzeitige Facettenreichtum erhalten bleibt. Keine Schulen, keine Dogmen. Wenngleich gebündelte Revolteabordnungen hier und da nichts Schlechtes wären. Und immer wieder neue chimärische Schreibweisen. Sinnlichkeit, Dekonstruktion und Gärung.
Klook: Sehen Sie sich (um im Bild der „Popband” zu bleiben) als „Frontmann“ einer neuen Lyrikszene? Ihre Tätigkeiten als Herausgeber vieler Anthologien könnten in diese Richtung weisen.
Winkler: Die Frage suggeriert die Existenz einer Front. Abgesehen davon: partout nein! Und: Singularität ist in gewisser Hinsicht auch ein Irrtum. Ich habe das, was ich anbiete, noch nie als alleinseligmachendes Heilsversprechen betrachtet wissen wollen. Und das ist nicht allein der pragmatische Schluss aus der Erkenntnis, dass jeder Dichter nur eine mehr oder weniger geringe Reichweite hat.
Ich glaube nicht, dass sich irgendwer von gesunder psychischer Konsistenz als Frontmann versteht. Man will anstecken, entzünden. Das ja. Und als Herausgeber hat man die Chance, dabei ästhetisch stärker zu heterogenisieren, als es der Autor kann. Da leider so vieles verpufft, muss man die Zirkulation auf schleunig halten. Und das tun viele Autoren, die ich kenne.
Das Interview wurde per E-Mail geführt.
Interview im Gespräch: Ron Winkler und Carsten Klook, textem.de, 12.4.2010Interview für Poetry International Rotterdam
Lesung beim 41. Poetry Internationale Festival Rotterdam
Am 1.4.2014 sprachen Hendrik Rost und Ron Winkler unter der Überschrift Kontrastprogramm in der literaturwerkstatt berlin mit Insa Wilke über ihre Bücher und ihr Schreiben.
Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.
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