ALLERGIE UND POESIE
Am Beginn steht immer eine Provokation. Kontaktflächen: Atemwege, Haut und Schleimhäute. Botenstoffe in der Luft. Information und Empfang. Dann die Fremdreaktion, die all-érgeia, eine Immunantwort. Reizungen und Schwellungen, ausgelöst von winzigen Partikeln, Körnchen, Pollen. Ein überschießen der körpereigenen Abwehr, mit der der Allergiker eintritt in eine unerwartete, überraschende Korrespondenz von Körper und ,Welt‘.
partikel steigen post- / saisonal in der heizungsluft auf in / der das licht so trocken verstaubt
Der Allergiker reagiert auf die unterschiedlichsten Stoffe in seiner Umgebung, seiner Um-Welt. Atopisch nennt der Mediziner diese Neigung, beim Kontakt mit ansonsten harmlosen Substanzen hypersensibel, überempfindlich zu reagieren. Das Immunsystem befürchtet einen Angriff auf die (vermeintliche) Intaktheit des Körpers.
heuschnupfen pferde: die laufende / nase im überfluß eine ins- / geheime reaktion auf blüten- / staub und rosshaar und gräser- // pollen im überflug von wiesen: / provokation niesreiz und sekret
Der Lyriker ist immer ein Allergiker, Multiallergiker gar. Ihm kann grundsätzlich alles zum Allergen werden und die verschiedensten Provokationen hervorrufen. Am Anfang steht meist ein bestimmtes Allergen, Initial und Initiation, eine erste entzündliche Reaktion; im Laufe der Zeit kommt es zur Ausdehnung des Auslöserspektrums, eine Allergenvermeidung ist nahezu unmöglich.
Die Allergene des Lyrikers sind divers: natürlich der Staub auf den Büchern und alten Hüten, dazu die Wallungswerte: „Worte, Worte – Substantive.“ Aber auch: der wie ein alter Kühlschrank surrende Tinniius, das Zahlenspiel der Rufnummernübermittlung und Vaters Bart. Die Reaktion darauf ist, geradezu unfreiwillig, hypersensibel, überschießend. Im poetischen Allergen erkennt der Lyriker das ,Gefährliche‘ im eigentlich Harmlosen. Hier und so beginnt der Prozeß, aus dem ein Gedicht entstehen kann.
auf der zeitungs- / rückseite das biowetter redet von botenstoffen / in der luft: die nachricht / eine prophetie geschwollener bindehäute: // conjunctivitis vermischtes und meldungen / aus aller welt
Für jeden anderen sind die Allergene harmlose Umweltstoffe, meist Selbstverständlichkeiten des Alltags: eine warme Wohnung bei Frostkälte draußen, das nächtlich gemütliche Federbett, dann die Freude am ersten wärmeren Tag nach dem Winter, ein herzhafter Biß in sommerfrisches Obst, das behagliche streicheln der Nachbarskatze.
rosshaarmatratzen und decken in denen / die federn wie blei so schwer wiegen // auf der brust liegt der asthmatische atem / in den daunen
Nach dem Genuß von Kern- und Steinobst: Der Gaumen juckt. Dort kündigt sich etwas an, das zur Sprache kommen, werden will. Auch der Beginn des poetischen Prozesses wird unmittelbar körperlich spürbar – die Schwellung, der Juckreiz – unter dem Gaumen, im Gehörgang und zwischen den Fingerkuppen.
leuchtende früchte / unter dem gaumen / juckt dir die sprache / zwischen den fingern
Das einzige Antihistamin, das der Lyriker kennt, ist das Schreiben. Keine Hyposensibilisierung, sondern symptomatische Behandlung. Darin: wieder neue, noch unbekannte und unerkannte Allergene.
Kreuzallergie und Metapher. Der Allergiker reagiert mitunter auf zwei völlig verschiedene Stoffe, die zunächst nichts miteinander verbindet, bloß eine strukturelle Ähnlichkeit der Eiweißstoffe.
birkenpollen und nüsse / latex und banane ess- / kastanie passions- / frucht und pfirsich
Die Kreuzreaktion wird dem Lyriker zum Bildfindungsverfahren, daraus Metaphern erwachsen:
meersalz und angstschweiß oder die sonne: ein tränendes auge.
Der Ausgangspunkt eines Gedichtes ist weniger ein Reiz als vielmehr eine Reizung, meist mehr als eine Wallung: eine Schwellung.
Atopie und Topos, der falsche Ort (a-topos) und der allzu bekannte Ort, der Gemeinplatz, finden im Gedicht mitunter zusammen: Das Bekannte wird zum Unbekannten und vice versa. Die Wortwörtlichkeit der Metapher und die Bildlichkeit des Buchstäblichen.
So ist jedes ,gelungene‘ Gedicht ein Allergen oder eine Konglomeration von (Kreuz-)Allergenen, die eine Provokation auslösen. Damit ist jede Gedichtlektüre gleichsam: ein Allergietest, ein Provokationstest.
Christoph Wenzel
Eine Faustfrage. Eine Mephistofrage: Worin besteht das Verführerische an der Poesie? 22 junge LyrikerInnen haben aufregende Antworten gefunden.
Verlagshaus J. Frank, Klappentext, 2008
– Gedichte sind Öffner, Schleuser, Katalysatoren, Allergene, Brühwürfel, scheue Rehe am Waldrand der Gegenwart, Lösungen, Klangkörper, Ersatzstoff für Alkohol und Kokain, Begegnungen im Blitzlicht, … Ebenso bildhaft wie ihre Gedichte gestalten junge Lyriker und Lyrikerinnen auch ihre Poetiken. –
Betrachtet man die Poetiken junger und jüngster DichterInnen, die in Hermetisch offen, einer Sonderausgabe der Intendenzen, versammelt sind, so könnte sich das Gefühl aufdrängen, die letztjährigen Debatten um die Lyrik Anja Utlers bzw. zwischen Ulf Stolterfoht und Steffen Popp seien ein Relikt aus modernistischer Vorzeit gewesen, ein Rückfall in die Zeit der Grabenkämpfe. Nicht mehr geht es darum zu zeigen, welche Form des Schreibens aus welchen Gründen heutzutage am sinnvollsten wäre, sondern es dominiert der Blick auf den eigenen Bildschirm und das eigene Leben. Die gesellschaftlichen Kontexte weitgehend auf vage Formeln reduzierend, ist die von den meisten AutorInnen gewählte Form die persönliche Erlebnisschilderung. So war’s bei mir…
Eine Konsequenz der poetologischen Subjektzentrierung ist die Abwendung von der Textgrundlage, dem Gedicht. Wenig erfährt man über die Entscheidungen der einzelnen LyrikerInnen für bestimmte sprachliche Formen oder über die Gedichte der hier vertretenen AutorInnen; die poetologischen Skizzen ergeben in ihrer Gesamtheit ein Potpourri aus der gesamten Lyrikgeschichte und lassen sich nicht als Antworten auf eine sie verbindende Frage lesen. Für die meisten der jungen DichterInnen ist das Gedicht Stimmungskonserve oder Mittel zur Welterfassung, wobei erstaunlich häufig das Schreiben als zwanghafte Handlung geschildert wird. Solche traditionellen Topoi werden in neuen Analogien wiederaufgelegt, die etwa den Bildmedien oder der Medizin entnommen sind, wobei begriffliches Denken und Argumentation bzw. Auseinandersetzung mit den Positionen anderer Autoren nur selten vorkommen. Das eigene Gefühl bildet den vielfach beschworenen Indikator poetischer Qualität, ohne dass diese Empfindung hinterfragt oder zumindest der Versuch unternommen würde, sie genauer zu umschreiben.
Positiv fallen unter diesen subjektzentrierten Poetiken die Texte von Ulrike Almut Sandig und Carl-Christian Elze auf, da beide sich genügend Raum nehmen für die Darlegung ihrer Schreiberfahrungen. Sandig konzentriert sich vor allem auf den kommunikativen Aspekt der Lyrik und geht der Frage der Vermittelbarkeit dessen nach, was für sie ihre Gedichte ausmachen. Ihr Text markiert auch dann kritisch die prekären Punkte der eigenen Poetik, wenn sie keine Lösung für die darin enthaltenen Probleme kennt und Zuflucht sucht im Streumen, einem Wort, dass bei Sandig Ort und Bewegung in einem abbildet. Hans-Christian Elze betreibt in seiner Poetik eine offene und detaillierte Selbstergründung, die weit über die skizzenhaften Ansätze der anderen BeiträgerInnen hinausgeht, illustriert von einem seiner Gedichte und auf diese Weise das eigene Empfinden an den Text zurückbindend.
Freilich verfolgen nicht alle AutorInnen selbst- und gefühlszentrierte Ansätze. Einige versuchen auch, die Verbindung des eigenen Schreibens mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, wobei sie dem Gedicht das Potenzial zur Unterwanderung des durchökonomisierten Alltags zuschreiben. Doch bleiben die poetologischen Ausführungen zu dieser These meist so allgemein, dass sich der Eindruck aufdrängt, hier manifestiere sich eher ein diffuses Subversivitätsempfinden, wenn nicht gar ein selbsterteilter Meritennachweis der DichterInnen. Das Spektrum reicht dabei von sprachlichen und logischen Nachlässigkeiten wie dem Satz „Dem Vorwurf an die zeitgenössische Lyrik, in irgendeiner Weise inflationär daherzukommen, kann problemlos damit entgegnet werden, dass sie notwendigerweise physisch sehr präsent ist in einer Welt, deren Voraussetzungen alles andere als günstig für etwas wie Poesie zu sein scheinen“ bis hin zu den subtilen Formulierungen Christian Schloyers. Jedoch ist auch dessen Beitrag, der sich diskursiv auf der Höhe der Zeit bewegt, zu sehr im Abstrakten belassen, so dass nach der Lektüre der Wunsch offen bleibt, Schloyer möge doch einmal anhand eines Gedichts zeigen, wie Lyrik Kritik übt an der ökonomisierten Alltagssprache.
So lässt sich anhand dieses Sammelbands und den Lyrikdebatten des letzten Jahres eines erkennen: blieb die Popp/Stolterfoht-Diskussion im Aufeinandertreffen zweier Lyrikauffassungen im Abstrakt-Theoretischen eher fruchtlos (wobei die beiden Autoren sich in ihren Gedichten näher stehen als in ihren poetologischen Ansichten), wurden in der Auseinandersetzung über die Texte Anja Utlers konkrete Merkmale ihrer Lyrik herausgearbeitet, woraus – bei allen Differenzen in deren Bewertung – ein Erkenntnisgewinn resultierte. Ansatzweise gelingt die Verbindung von Poetik und Gedicht Norbert Lange in seiner Utopie einer Gedankenlyrik, die alle sprachlichen Aspekte umfasst, wobei Lange an eigenen, sehr unterschiedlichen Texten das Potential der Lyrik veranschaulicht. Hier zeigt sich, dass der Bezugspunkt einer Poetik das konkrete Gedicht sein sollte und nicht die persönliche Haltung des Autors oder der Autorin.
Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.
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