STRANDSEMIOTIK
auch hier gilt die Regel: nicht für jede Erscheinung
gibt es in den Buchstaben eine Entsprechung.
und wenn, hilft es nicht weiter. wem wäre auch damit
aaaaagedient,
in ausgebreiteten Schwingen ein M zu erblicken?
nur die Strandsteine sind glaubhaft zu entziffern
als Satzzeichen eines alten Gesprächs.
beschreibt Ron Winkler den Moment, wo das Schauen, Hören, Begreifen sich plötzlich weitet und ein Gedicht beginnt. Auf seinen Streifzügen „auf der knirschenden Zunge der Mole“ oder entlang von „Brustbeinen (Kaps), Hälsen (Flussmündungen), / Rücken (für gewöhnlich Buchten)“ fängt der Dichter solches Raunen ein. Es sind feine, genaue Beobachtungen, die übersetzt werden in Sprachbilder von seltener Intensität und Konzentration.
Ron Winklers Gedichte begreifen sich als „Satzzeichen eines alten Gesprächs“. Und im Dialogischen ihres Sprechens geben sie den Raum für ein „seltsames Seestaunen“ und eine Offenheit, bereit für das Wunder des Augenblicks.
kookbooks, Ankündigung
– Zu den Gedichten von Ron Winkler. –
„Hinter den Schaufenstern der verriebenen Wahrnehmung hebt sich Atlantis“, eröffnet Ron Winkler in einer im Jahr 2000 geschriebenen Selbst-Diagnose. Einen Zwischenaufenthalt auf dem Wege dorthin, wo man gewöhnlicherweise nie hingelangt, generieren die im vorliegenden Band versammelten Gedichte. Sie überraschten mich, als ich ihnen begegnete, denn vorbereitet war ich auf hart gefügte, medien-, theorie- und geschichtssatte Gebilde, die von hochreflektierter Umtriebigkeit Zeugnis geben. Stattdessen ereignen sich lyrische Dokumente einer Ausscherung: Um aufleuchtende glimpses (T.S. Eliot) herum tuscht Winkler Ausfühlungen und Sprachweitungen im Spannungsfeld von Wahrnehmung, Sprachintuition, Reflexion. Unüberlesbar deshalb das Bemühen um Konzentration auf das tragende Bild und darauf, in den behutsamen Erweiterungsgängen die Sprachspannung aufrecht zu erhalten. Den Großteil der Gedichte tragen Naturetüden, inspiriert von einem Aufenthalt an der Ostseeküste. Ihnen eingeschrieben ist die Verlangsamung der Aufnahmegeschwindigkeit von Eindrücken, kontemplative Einkehr des sprechenden Ich. So weit, so traditionell. Was aber die Gedichte Winklers von herkömmlicher Introspektionspoesie unterscheidet, sind vor allem drei Momente: ihr oft dialogischer Charakter, die Einspeisung von Reflexion als primäre Metaphernglieder, die Behandlung von Wahrnehmungsnotaten als Zeichenmaterial.
Das Dialogische durchstöbert immerhin einen Großteil der Texte, unaufdringlich (weil die simplen Tricks mit der ich-du-Sprecherinstanzen-Verwechslung vermeidend), aber konzeptionell:
… einer Antwort
stellst du dich („Sand aufs Herz“) quer,
weil du sofort das Licht eine Seife nennst,
die die von Gischt Geschädigten nachtreif wäscht.
(„Junifigur“).
Das Querstellen von Dialogpassagen in den Text, egal ob es sich um Replikation von tatsächlichen oder um vorgestellte Gespräche handelt, zeitigt Auswuchtungseffekte, die den Gedichtgang mehrschlüssig aufrauen, ohne in jene Prosa der Geschwätzigkeit abzugleiten, die erinnerte Gesprächsfetzen in Parlando-Gedichten allzu oft produziert.
Eine durchgängige Eigenart der Gedichte Winklers besteht darin, dass in ihnen Landschaft als Welt und Landschaft als Text ineinander geblendet werden. Landschaft als Textur, Textur als Landschaft. Die „kleine maritime Poetik“ bringt es auf den Punkt:
[…] die Brandgänse
über dir lassen sich damit nicht löschen.
sie bleiben übrig, der Text bleibt dahinter
zurück, verbreitet das Bild eines Menschen,
der Steine aufliest als Bilder.
Der Prozess der Signifikation erscheint, durchaus im Sinne Derridas, symbolisch als unabschließbar, weil jede Benennungsbewegung eine neue Benennungslücke offenbart, in die die poetische Phantasie springen und neue Bildbewegungen auslösen kann. Changierend zwischen „Eigenschaften und Landschaft“, begibt sich das sprechende Ich auf die Suche nach „eine[r] diskrete[n] Bedeutung“ („Robinsonmoment“), sprich: der unerhörten Sprachfindung. Man lasse sich nicht durch die eingebundenen Begrifflichkeiten aus Sprach- und Texttheorien – so ist ein Gedicht mit „Strandsemiotik“ überschrieben, einen „sanddornfarbenen Sonnenaufgang“ gibt’s als „Supplement“, und noch streunende Hunde erscheinen als „Zitate aus verschiedenen Texten“ etc. – täuschen: Nicht wissenschaftliches Erkenntnisinteresse grundiert die Texte, es ist nur einer der Haken, an denen die Ausflüge ins Exorbitante abgesichert werden.
So fuhrt etwa das IX. Stück des „Septemberalbums“ über das Signalwort „Signifikanten“ in die Aufmerksamkeit des Paradoxons „badende Akte“ [Hervorhebung P. G.] und lässt den Text gleichsam in Bedeutungsübertragungen kreiseln:
es gäbe schließlich Orte, die seien bloß noch
Signifikanten. beinahe unbefugt
für ihre eigne Geschichte. die See etwa:
ein abgetretener Teppich, wie blind
suchten Wellen badende Akte
am Strand.
Überhaupt sind viele neue Gedichte Ron Winklers Fingerübungen darin, über den jähen Wechsel der Bedeutungsebenen und -zusammenhänge poetisch aufgeladene Plötzlichkeitsmomente zu evozieren, etwa, wenn ein örtliches Genrebild unvermutet in eine zeitliche Bewegung getaucht wird:
ein Tross Pappeln wandert am Fluss
in den nächsten Monat
Das sind so Gedichte, die langsam am Gaumen zu schmecken hohen Genuss versprechen, am besten zu zweit, vorausgesetzt, man entkommt für Momente den Schlieren allgegenwärtiger Motorisierung der Sinne.
In seinem poetologischen Statement „Der Blick aus dem Gehör“ bestimmt Winkler seine Dichtung als Kartografie:
In den Sekunden, die zum Gedicht führen, alterniert die Wahrheit des Gedichts zwischen Synchronisation und Dissonanz mit und zur Realität. Lyrik ist die Kartografie einer Sichtbarwerdung, deren Ursachen so unklar sind wie die Folgen.
Sichtbar geworden ist der Lyriker Ron Winkler in den letzten Jahren allemal, zunehmend auch außerhalb jenes hochenergetischen Netzwerkes, das sich mit dem Namen der von ihm verantworteten Literaturzeitschrift intendenzen verbindet.
Peter Geist, Februar 2004, Nachwort
DOBERMANN
für Ron Winkler
dies ist das dorf, und dies am waldesrand
die wasenmeisterei, von deren dach
ein dünner rauch sich in den himmel stiehlt.
die leeren felle an der wand. der korb
mit welpen, ihre augen noch vernäht
von blindheit: so beschnüffeln sie die welt.
noch ist es früh, und in den städten schlafen
die landvermesser und die kartographen.
im garten jener brunnen voller durst.
apolda, thüringen: die tote kuh
am feldrand, ein gestrandeter ballon,
von seuche aufgebläht. sie wird
dort liegenbleiben: unter einem kleingeld
von sternen schreitet er, an dessen seite
zwei schwarze klingen durch die landschaft schneiden.
Jan Wagner
Am 1.4.2014 sprachen Hendrik Rost und Ron Winkler unter der Überschrift Kontrastprogramm in der literaturwerkstatt berlin mit Insa Wilke über ihre Bücher und ihr Schreiben.
Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.
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