Rose Ausländer: 36 Gerechte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rose Ausländer: 36 Gerechte

Ausländer-36 Gerechte

GRAMMATIKALISCHER HERBST

Als aufgelöster Satz
kommt der Herbst

mit welkendem Adjektiv

Worte verirrt im Wind
finden sich nicht

Sonne
das Substantiv
ist siech

Nur das Verbum
zaubert noch
Braun

 

 

 

„Aus der Wiege fiel mein Augenaufschlag

in den Pruth…“, so deutet Rose Ausländer, die im November 1966 mit dem Heine-Taler in Silber ausgezeichnet wurde, ihre Herkunft aus dem alt-österreichischen Czernowitz an, das auch die Heimat Paul Celans ist. Heute liegt diese Stadt in Rumänien, und der Paß weist Rose Ausländer als Amerikanerin aus. Aber die eigentliche Heimat dieser durch Kriegswirren, Ächtung, Verfolgung und Emigration umgetriebenen Dichterin war von Kindheit an bis auf diesen Tag die deutsche Sprache. Der Weg aus der Idylle der Donau-Monarchie durch Ghetto und Verfolgung – erst deutsche, dann sowjetische Besetzung – in die Vereinigten Staaten war von Nachstellung, Opfer, Furcht und Mühsal gesäumt. Dennoch hat diese Stimme nicht ihren reinen lyrischen Ton verloren. Weder hat Verbitterung die Lauterkeit der Empfindung getrübt, noch Haß die Reaktionen des Intellekts beeinflußt. Ein nie erlahmender Wille zur Verfeinerung, Läuterung des Ausdrucks, der Profilierung der Sprache, der Beseelung ihres Klangleibs hat diese immer bedrohte Existenz zu einer späten, aber in nicht wenigen Gedichten vollkommenen Manifestation getrieben. Das unablässige Ringen um die äußerste Präzision und den trächtigsten Wert poetischer Metapher hat hier seinen Lohn gefunden. Wer Ohren hat zu hören, kann hier eine Stimme vernehmen, die der alterslosen Stimme aus dem brennenden Dornbusch gleicht. 

Hoffmann & Campe Verlag, Klappentext, 1967

 

Zeugenschaft durch Poesie

– Zu den Gedichten der Rose Ausländer. –

Allein schon die Hartnäckigkeit, mit der diese 49 Gedichte von uns Aufmerksamkeit fordern – nach der Erstauflage von 1967 im weithin bekannten Hoffmann und Campe Verlag erscheinen sie nun zum zweiten Mal beim Duisburger Gilles & Francke Verlag – sollte uns in der Gleichgültigkeit, mit der wir Gedichtbände weniger bekannter Autoren nach einem oberflächlichen Durchblättern achselzuckend dem Vergessen überantworten, verunsichern. Wer sich die Mühe nimmt, Rose Ausländers Gedichte etwas gründlicher zu lesen und sie auf sich wirken zu lassen, wird von vielen von ihnen ehrlich betroffen sein.
Hier spricht nicht eine jugendliche Debütantin, die es „auch einmal versuchen“ will. Hier spricht eine Frau, die als Angehörige einer deutschsprachigen Minderheit in einem ukrainisch- und rumänischsprachigen Land (Bukowina) aufwuchs, die miterleben musste, wie ausgerechnet Menschen deutscher Zunge ihre Verwandten und Freunde ermordeten und auch ihr selbst das Lebensrecht absprachen, so dass nur im Exil ein Ueberleben möglich war. Und doch zog sie, die in Amerika wie so viele andere nie die Sehnsucht nach jenen „schönen barbarischen Ländern“ loswerden konnte, im Alter in das Land, in dem ihr Unglück seinen Anfang genommen hatte und veröffentlicht nun in der Sprache jener Häscher ihre Gedichte, die nicht, Anklage, sondern – gerade in ihren unpathetischen Tönen – nur Klage sind auf das Sterben ihrer jüdischen Brüder und Schwestern. So jemand hat, ein ganz bestimmtes, vorbelastetes und doch wieder ganz unkompliziertes Verhältnis zu seiner Sprache. Das leichtfertige Spielen damit um des artistischen Effekts willen muss ihm fremd sein, das Formale überhaupt ganz in den Hintergrund treten zu Gunsten dessen, was festgehalten werden muss, zu Gunsten einer Zeugenschaft durch Poesie.
Die Vermutung bestätigt sich schon bald: wo Sprachexperimente unternommen werden, wo der Inhalt einem bestimmten Schema unterworfen wird, wirken Rose Ausländers Gedichte sofort etwas gekünstelt. Da aber, wo die Themen Exil, Flucht, Judenverfolgung zur Darstellung gelangen, wo Klage und Trauer alle Formprobleme als unwesentlich erscheinen lassen, da überzeugen die Gedichte sogar dann, wenn mit ihnen gewisse Formmuster abgewandelt werden, denen man auch schon begegnet ist.
Die Anthologie ist in drei Teile untergliedert: „Schatten im Spiegel“, „Doppelraum“ und „Stimmen“. Schatten im Spiegel, das sind die Schatten der Vergangenheit, die Gesichter der Menschen, die mit einem gelebt haben, und die man nicht vergessen kann. Ihnen gilt das hoffnungslose Fragen („Mit Fragen“), das stille Klagen („Weidenwort“), ihnen, denen sogar die jüdischen Bestattungsriten versagt waren („Graues Haar“). Ihr sinnloses Leiden und Sterben hat selbst das Metaphysische irgendwie tangiert, die „Sonnenblumen jenseits der Zeit“ in Unkraut verwandelt („Aber“). An den Festen der Ueberlebenden nehmen die Schatten der Vergangenheit als unheimlich mahnende Gäste teil:

DAS FEST

Wir feiern das Fest der Abwesenden
mit verschollenen Freunden

vergessen die Uhren aufzuziehn
die Zeit wird auch ohne Zeiger uns finden
zur Unzeit entführen wird uns der Tod

vergessen dass wir gestern die Rose rühmten
morgen den Mond besuchen wollten
was wollten wir übermorgen

Erhoffte Botschaften
die uns nicht erreichten
gefürchtete
die uns erreichten
vergessen

Wir erkennen uns nicht mehr im Spiegel
erkennen den Spiegel nicht an
die vorgespiegelten Länder
vergessen

Hinter dem Himmel
wir feiern wir zechen
mit den Schemen
verschollener Freunde

Wie auf einem Schiff ohne Fahne und ohne Ziel wird der heimatlose Ueberlebende umhergetrieben („Fremde“), und mit ihm die Angst, der Alptraum, der schon dem Kinde den Schlaf raubt („Kinderangst“) und bei so banalen Tätigkeiten wie dem Zubereiten einer Mahlzeit grässliche Assoziationen weckt („Mann mit Messer“). Da ist auch das Andenken ah den Geliebten, der im Feuer umkam, und der irgendwie als „blühende Asche“ im Blute der Liebenden weiterlebt („Bis an den Nagelmond“). Die Heimatlosen selbst aber sind einander entfremdet, ja sie sind sich selbst fremder als jenen Schatten der Erinnerung gegenüber („Entfremdung“). Die unter dem Titel „Doppelraum“ versammelten Gedichte messen vorwiegend die Spannung aus zwischen der verlorenen Heimat und dem Exil, mit dem man sich letztlich niemals abfinden kann. Man wundert sich darüber, dass man noch lebt:

Noch nicht abgestreift
das Gettokleid
sitzen wir um den duftenden Tisch
verwundert
dass wir hier sitzen
(„Verwundert“).

Nur langsam nimmt man seine Umgebung wahr, den „schönen Schein“, und muss sich einreden:

Wir fallen nicht
ins Nichts

Aber man lässt sich nicht mehr in Euphorie versetzen, einmal zuviel schon glaubte man, das Glück kaufen zu können, zahlte man „mit Rosen / und brachte goldenen / Essig / heim“ („Glück kaufen“). Der Spiegel – ein zentrales Motiv des ganzen Gedichtbandes – bringt Ernüchterung, er verdoppelt einen zwar, er macht einem aber gerade in diesem „Doppelraum“ die Einsamkeit um so schmerzlicher bewusst („Doppelt“). Die Flitterwelt Amerikas kommt dem Flüchtling gerade an Weihnachten besonders stark in ihrer Fragwürdigkeit zu Bewusstsein. Er zieht den „elektrisch lächelnden Tannen“ Harlem und die Hafenkneipen vor, wo es ehrlicher zu- und hergeht („New Yorker Weihnachten“). Selbst der Anblick der Akropolis weckt ungewöhnliche Assoziation. Das Torsohafte, Unvollständige der eigenen Existenz wird dem Betrachter zum Problem; es soll, nimmt er sich vor, nicht der vergangene Glanz von Ruinen, sondern das pulsierende Leben einer Stadt sein, dem er sich öffnen will („Akropolis“). Die Zigeuner, die „aus der Zukunft leben / aus der Hand in den Mund / aus dem Mund / in die Zukunft“, sie sollen den Weg in eine Zukunft ohne qualvolle Erinnerung weisen – und doch gehört unter die „Besitztümer“, die im gleichen Gedicht „Vermächtnis“ aufgezählt werden, „mein Grab in der Bukowina“.
Der Glaube an das Gute im Menschen ist allen schmerzlichen Erfahrungen zum Trotz ungebrochen. „Bescheidenheit“ ist die Tugend, die an das Gute heranführt. Auch die Sühne soll nicht pharisäisch an die grosse Glocke gehängt Werden: „Lösch das Feuer Bruder / wenn keiner dir zusieht“ heisst es im Gedicht „Rauch“, nachdem das Titelwort mit „Menschenfressern“ und „Getto“ in Beziehung gesetzt worden ist. Und im Gedicht, das dem Band seinen Namen gab, wird von den 36 Gerechten gesprochen, die „im Schatten ihrer Bescheidenheit“ die „ungebärdige Erde / ins Licht“ halten. Diese Gerechten bedeuten, auch wenn man sie nicht kennen kann, einen Hoffnungsschimmer angesichts der Schatten der Vergangenheit.

li., Die Tat, 4.6.1976

Lyrik

Die Lyrik der jetzt sechzig Jahre alten Rose Ausländer ist in jüngster Zeit zweimal mit literarischen Preisen ausgezeichnet worden: im Mai dieses Jahres erhielt Rose Ausländer in Meersburg am Bodensee den diesjährigen Droste-Preis für Dichterinnen – die Preisträgerinnen der vergangenen Jahre sind Erika Burkart, Nelly Sachs und Christine Busta –; einige Monate zuvor war ihr von Karl Krolow der Förderpreis zum Heine-Taler für das Manuskript ihres Gedichtbandes 36 Gerechte zuerkannt worden. Dieser Band ist nun in der Sammlung Cabinet der Lyrik des Verlages Hoffmann und Campe erschienen.
Die Dichterin ist, wie Paul Celan, in Czernowitz in der Bukowina geboren, einer Stadt, die einst zur alten Donaumonarchie gehörte, später von Deutschen, dann von den Russen besetzt war und heute zu Rumänien gehört. Rose Ausländer hat als Jüdin ihre Heimat verlassen müssen und konnte den Verfolgungen durch die Flucht in die USA entkommen, wo sie heute als amerikanische Staatsbürgerin lebt. Wie so viele andere Dichter, die vor dem Naziterror ins Ausland fliehen müssten, hat sie an der deutschen Sprache festgehalten und in ihr das eigene Erleben und Erleiden Stimme werden lassen.
Die Gedichte des Bandes 36 Gerechte sind die lyrischen Zeugnisse eines persönlichen Schicksals, in ihnen spiegelt sich – in Klage, Beschwörung und Erinnerung – das Leben der Dichterin. Objektivität im Sinne von unbeteiligter Sachlichkeit ist in diesen Gedichten nicht anzutreffen: noch die scheinbar distanziert gesehenen Landschafts- und Naturbilder sind mitgeprägt vom Temperament des lyrischen Ich, das in fast allen Versen zu Worte kommt.
Das Zentralthema der meisten Gedichte Rose Ausländers ist das Schicksal der Verfolgung und Bedrohung, der Flucht und der Emigration, die Klage um die ermordeten Angehörigen und Freunde. Die Vergangenheit bleibt gegenwärtig (– „die Schatten sind da / schaun mich an / mit vielen Augen“, heisst es einmal –), sie überschattet auch die Gegenwart und lässt sich nicht abschütteln:

Aus den Augen
der satten Menschenfresser
quillt Rauch
mein Wort ist schwarz geworden
davon.

Nun liegt der „Staub auf den Lippen / wortein wortaus.“ Noch immer ist es kaum fassbar, dass einer den Schrecknissen entkommen konnte, denen Milionen anderer zum Opfer fielen; davon spricht das Gedicht „Verwundert“:

Wenn der Tisch nach Brot duftet
Erdbeeren der Wein Kristall

aaaaadenk an den Raum aus Rauch
aaaaaRauch ohne Gestalt

aaaaaNoch nicht abgesteift
aaaaadas Ghettokleid

sitzen wir um den duftenden Tisch
verwundert
dass wir hier sitzen.

Die Bilder, Metaphern, Parabeln und Traumvisionen in diesen Gedichten sind nicht schwer auszudeuten: sie sind Sinnbilder des Schreckens und Grauens, Versuche, ins dichterische Wort zu bannen, was sich der direkten Aussage entzieht. Worte werden hier zu Chiffren, hinter denen sich eine finstere Realität verbirgt.
Wohl gibt es einige Berührungspunkte zwischen der Dichtung von Rose Ausländer und derjenigen von Nelly Sachs, die beide in ihrer Dichtung von ähnlichen schmerzhaften Leiderfahrungen ausgehen und ihnen im Gedicht Ausdruck geben. Doch lassen sich die Arbeiten beider Lyrikerinnen nur sehr bedingt miteinander vergleichen. Während Nelly Sachs den Schritt vom Persönlichen zum Allgemeinen tut, ihr Schicksal ganz im Zusammenhang mit dem des jüdischen Volkes sieht, während sie sich in ihren Gedichten und Szenen einen ganzen umfassenden Chiffren-Kosmos geschaffen hat und den Versuch einer religiösen Schicksals- und Weltdeutung unternimmt, bleibt die Dichtung von Rose Ausländer persönlich, immer auf das eigene Erleben bezogen. Ihr gelingen die Gedichte am besten, in denen das lyrische Ich ganz die individuelle Stimme der Autorin ist. Gegenüber solchen Versen fallen deutlich die wenigen Stücke ab, in denen das eigene Erleben zurücktritt, in denen etwa in der Manier Erich Frieds hintergründige Wortspiele inganggesetzt und bestimmte Vokabeln immer erneut abgewandelt werden, wobei sich dann aus den Variationen und den Bedeutungsverschiebungen Erkenntnisse ergeben sollen. Diese Gedichte aber („Spiel“, „Fallen“) wirken angestrengt und bringen keine neuen Einsichten ; an ihnen werden die Grenzen des poetischen Talents von Rose Ausländer deutlich.

J. P. W., Die Tat, 2.12.1967

 

Biographisches zu Rose Ausländer

Rose Ausländer: „Schreiben war Leben. Überleben.“

Die Lyrik von Rose Ausländer (11.5.1901–3.1.1988) ist in besonderer Weise biographisch geprägt. Rose Ausländers Lebenserfahrungen bestimmen ihre poetischen Wirklichkeitsbilder:

• Heimatverlust, der das Erinnern als bewahrendes und hoffendes Element der Selbstfindung bedeutsam werden läßt und zweimal Exil, das Fremdes zu leben fordert;
• Kriegserfahrungen und Judenverfolgung im Ghetto, die neben Lebensangst und Lebenszweifel auch Liebes- und Freundschaftsbeziehungen existentieller gewichten;
• Reisefluchtwege, die auch Sehnsüchte beinhalten und Verzicht zu leben nötigen;
• schließlich Krankheit und Alter, die das Ich auf Lebensperspektiven konzentrieren, die in geträumten Wirklichkeiten Selbstgewißheit und Ichfindung spiegeln.

Die Verwandlung biographischer Erlebnisse in Wortheimaten sind für Rose Ausländers Schreiben kennzeichnend und begründen ihr Überleben in tragischen Zeiten. Ihre Persönlichkeitswerdung hängt mit der konsequenten Verarbeitung ihrer Lebensbetroffenheit in der lyrischen Sprache zusammen, die aus der Zeichenhaftigkeit der Sprache Erinnerungskraft und Deutungsvielfalt schöpft. Indem Rose Ausländer vor allem in der Alterslyrik ihre Wortwirklichkeiten auf übertragene Bedeutungen verdichtet, gewinnt die Lyrik trotz ihrer Wortverknappung eine reiche kommunikative Kraft für den Leser. Sie bleibt dabei sehr persönlich, ich-gegründet, doch auf allgemeine Sinnbezirke verweisend und schließt poetische Offenheit und Deutungsvielfalt ein.
Die schmerzliche Vielfalt von Rose Ausländers Leben gab der deutsch-jüdischen Schriftstellerin einen wirklichkeitshaltigen Hintergrund für ihr eindrucksvolles dichterisches Werk. Seine Wirkung beruht auf der konsequenten Art, sich biographische Erfahrung anzueignen und ins „Wort“ zu verwandeln, dem auf Wesentliches reduzierten inneren Wirklichkeitsraum eines Gedichts.

Ich habe, was man Wirklichkeit nennt, auf meine Weise geträumt, das Geträumte in Worte verwandelt und meine geträumte Wortwirklichkeit in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt. Und die Welt ist zu mir zurückgekommen. (Rose Ausländer während eines Besuchs von Lore Schaumann 19731

WORTE II

Mund
Mund der spricht
spricht Worte
helle
harte
verständliche
unbegreifliche
Worte

Mund an Mund
blühen Worte
behauchte
zu den Sternen geblasene
Worte

Sie fallen ins Gras
steigen auf mit dem Nebel
fallen herab mit dem Regen
willig
unwillig
sprühende
schwerfällige
Worte

abgerissen
aneinandergereiht
zusammengewachsen

Hauch in Hauch
die unverstandenen
ewigen Worte
2

 

„Landschaft, die mich erfand“
Bukowina – Czernowitz 1901–1921

BUKOWINA II

Landschaft die mich
erfand

wasserarmig
waldhaarig
die Heidelbeerhügel
honigschwarz

Viersprachig verbrüderte
Lieder
in entzweiter Zeit

Aufgelöst
strömen die Jahre
ans verflossene Ufer
3

Rosalie Beatrice „Ruth“ Scherzer wurde am 11. Mai 1901 in Czernowitz/Bukowina („Buchenland“, damals Österreich) geboren.

Anderslautende Geburtsjahre etwa 1907, 1912, 1918 beruhen auf Falschangaben, einem Verwirrspiel der Autorin, die – ihr erstes USA-Exil aussparend – durch ständiges Ändern ihres Geburtsdatums längere Zeit 50jährig blieb.

Rose (mit dem jüdischen Rufnamen „Ruth“) wurde in dem liberalen jüdischen Haus ihrer Eltern Siegmund („Süssie“) Scherzer und Etie Rifke Scherzer, geb. Binder, erzogen. Das Elternhaus lag im jüdischen Viertel der „Vier-Sprachen-Stadt“, in der neben Juden (60.000 von 160.000 Einwohnern), Deutsche, Ukrainer, Rumänen und als Minderheiten Polen, Madjaren und Ruthenen (ukrainische Urbevölkerung) lebten. Der jüdisch-orthodox erzogene Vater arbeitete als Kaufmann und starb bereits 1920 an einer Lungenentzündung. Seine Ehefrau (1874–1947), deren Eltern aus Berlin stammten, interessierte sich für Musik und Literatur. Ihr erstes Kind starb bald nach der Geburt. Roses jüngerer Bruder Maximilian Scherzer kam 1906 zur Welt. Er starb 1993 in New York.
In „Erinnerungen an eine Stadt“ (1976) beschreibt Rose Ausländer ihre osteuropäische Heimatstadt:

Die verschiedenen Spracheinflüsse färbten natürlich auf das Bukowiner Deutsch ab, zum Teil recht ungünstig. Aber es erfuhr auch eine Bereicherung durch neue Worte und Redewendungen. Es hatte eine besondere Physiognomie, sein eigenes Kolorit. Unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinandergriffen und dem Wortlaub, dem Laut- und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch, und das gab der Stadt eine besondere Färbung. Alt-Jüdisches Volksgut, chassidische Legenden „lagen in der Luft“, man atmete sie ein. Aus diesem barocken Sprachmilieu, aus dieser mythisch-mystischen Spähre sind deutsche und jüdische Dichter und Schriftsteller hervorgegangen: Paul Celan, Alfred Margul-Sperber, Immanuel Weißglas, Rose Ausländer, Alfred Kittner, Georg Drozdowski, David Goldfeld, Alfred Gong, Moses Rosenkranz, Gregor von Rezzori, der bedeutendste jiddische Lyriker Itzig Manger u.a.4

Czernowitz, die Hauptstadt des Kronlandes Bukowina, der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie. […] Eine buntschichtige Stadt, in der sich das germanische mit dem slawischen, lateinischen und jüdischen Kulturgut durchdrang. Bis 1924 – obwohl die Bukowina schon 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, Rumänien zugesprochen wurde – war die Landessprache rumänisch und deutsch, nachher bis ans Ende des Zweiten Weltkrieges war sie offiziell rumänisch, praktisch aber weiter deutsch. Deutsch war nicht nur die Umgangs- und Kultursprache, es war und blieb die Muttersprache des größten Teils der Bevölkerung. Eigentlich blieb Czernowitz bis 1944 eine österreichische Stadt – seitdem gehört sie zur ukrainischen Sowjetrepublik. (MA, S. 7, heute ist Czernowitz mit dem Namen Tscherniwzy Bezirkshauptstadt der Ukraine)

Czernowitz war eine Stadt von Schwärmern und Anhängern. Es ging ihnen, mit Schopenhauers Worten, „um das Interesse des Denkens, nicht um das Denken des Interesses“. Die orthodoxen Juden waren Anhänger, „Chassidim“ des einen oder anderen „heiligen“ Rabbi. […] Die assimilierten Juden und die gebildeten Deutschen, Ukrainer, Rumänen waren ebenfalls Anhänger: von Philosophen, politischen Denkern, Dichtern, Künstlern, Komponisten oder Mystikern. […] Hier gab es: Schopenhauerianer, Nietzscheanbeter, Spinozisten, Kantianer, Marxisten, Freudianer. Man schwärmte für Hölderlin, Rilke, Stefan George, Trakl, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Hesse, Gottfried Benn, Bertolt Brecht. 5

In besonderer Erinnerung blieben die Sonntagsausflüge der Familie in die Dörfer des waldreichen und hügeligen Umlandes, nach Dorna, Floßfahrten auf dem Pruth, Besuche beim Wunderrabbi von Sadagora mit den Begegnungen mit altjüdischem Volksgut und chassidischen Legenden.

Rose Scherzer besuchte nach der Volksschule 1914–1920 das Lyzeum in Czernowitz und mit Unterbrechung 1916–1918 in Wien, wohin die Familie nach dem Einmarsch der Russen während des Ersten Weltkrieges über Budapest floh. Nach Kriegsende kehrten die Scherzers aus dem österreichischen Exil zurück. Czernowitz war nunmehr Rumänien zugesprochen. Nach dem Abitur (Matura) nahm Rose an der deutschsprachigen Universität ihrer Heimatstadt das Studium der Philosophie und Literatur auf (SS 1920-WS 1920/21 ).

Ihr besonderes Interesse galt seit 1919 dem „Ethnischen Seminar“ des Mittelschullehrers Dr. Kettner, einem Studienkreis aus 130 Schülern und Studenten, der sich besonders dem in Berlin lehrenden jüdischen Philosophen Constantin Brunner verbunden fühlte. Brunner berief sich besonders auf Spinoza. Rosalie Scherzer (Rose Ausländer) beschäftigte sich mehrere Jahrzehnte mit Brunners Gedankenwelt und setzte sich mit den Lehren Platons und Spinozas auseinander.
Brunners Lehre geht von einer Seinsvorstellung aus, in der alle „Erscheinungen nur Modifikationen der einen Substanz sind“6 und sich in ständiger Bewegung befinden, Metamorphosen des Seins, eine auch auf das menschliche Dasein übertragbare Vorstellung:

Tat twam asi! Das bist du! – Dies ist wie du bist, und du bist wie dieses ist; dies ist ein Ding und du bist ein Ding; und wie du Ding bist in dir, so ist dieses da ebenfalls Ding in sich – du bist Ding von außen gleich allen diesen Dingen, und alle diese Dinge sind Dinge von innen gleich dir. […] – du bist eins mit diesem Allem. Dies Alles ist wie du bist, dies Alles bist du! Alles, Alles wahrhaft in Einem Bewegungswandel! – darum ja ist es, daß alle Dinge aufeinander wirken und ineinander übergehen: weil sie Eines sind; und darum verwandelt sich alles in dich mit deiner Beseeltheit, wie du dich verwandelst in Alles: weil Alles mit innerlichem Denken beseelt ist. Darum denkst auch du: weil alles dingliche Wesen denkt – sein Denken ist sein Dasein, seine Bewegung. („Die Lehre II“, zit nach MA, S. 184. Die Anlehnung Brunners an die altindische Philosophiesprache des Sanskrit hat Rose Ausländer erkannt und zitiert „Sanskrit“ als „meine heimliche Sprache / in meiner heimlichen Heimat“.7)

Die im Geiste der Brunnerschen Lehre entstandenen Gedichte Rose Ausländers, die das geistige Prinzip der Welt in Bilder übersetzen, scheinen von einem immanent-transzendenten Pantheismus getragen zu sein, erinnern aber auch an die innere Schau (ming) des Taoismus, die erst dann möglich wird, wenn die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen dem Ich und den Dingen, aufgehört hat.8

Rose Ausländers Metaphorik versucht diesen paradox anmutenden Begriffskreislauf von Identitätssetzungen in Bildpoesie zu übersetzen, die auch von der Kreisbewegung und paradoxen Kompositionen lebt und das Vorstellungsprinzip der Verwandlung, der Metamorphose, zu versinnbildlichen sucht. Eine der zentralen Poesiechiffren, die das Prinzip des Lebenskreislaufs von Natur und Ich als identitätsbildend vorstellen, sind die Metaphern der Luft und des Atems in den Gedichten Rose Ausländers, die in den Spätgedichten losgelöst von der Schwülstigkeit der Brunnerschen Sprache mit einer spielerischen Leichtigkeit den lyrischen Bildraum komponieren.

Toben
im
kühlen Revnawald
im Grünpruth
baden
Kirschen stehlen
kinderwild

Du sagst
vergiß

Doch so etwas
vergißt man nicht
es war
das Schönste
meines Lebens

Der Freund
ist tot

Ich spiele
noch
9

Das Spiegelbildliche in den Selbstfindungs- und Wirklichkeitsbildern der Gedichte erschließt ein poetologisches Prinzip von Rose Ausländer: ihre lyrische Wortschöpfung setzt die Ich-Spiegelung dialogisch ins Wort und ins Bild. Diese WortBilder ermöglichen so eine aufklärerische Zwiesprache des lyrischen Ichs mit sich selbst und mit dem Leser.

DOPPELT

Der Spiegel
gibt mich
mir wieder

Hier steh ich
Ich an Ich

Koffer bis an den Hals
vier ratlose Augen

Im Doppelraum
wieviele Kanten
schneiden sich
im Blick

Doppelt allein
Wohin
Der Atem hält
mit sich selber Schritt
10

Mit dem unerwarteten Tod des Vaters 1920 geriet die Familie Scherzer in finanzielle Not. Die Familie drängte Rosalie, mit ihrem Studienfreund Ignaz Ausländer im April 1921 zu Freunden in die USA auszuwandern. Dieser Aufbruch ins Exil stellte sich für die Zwanzigjährige als ein Abschied von Kindheit, Jugend, Freunden, Heimat und Mutter dar, den Rose Ausländer auch später nicht verwand. Die Freundschaft und der gemeinsame schicksalhafte Weg ins Exil mit Ignaz Ausländer bewährten sich nicht als Grundlage für den in den USA geschlossenen Lebensbund. Es wurde eine Gemeinschaft auf Zeit, aus Not in der Fremde.

Landschaftsbilder der Bukowina und des Pruth, Ausflüge zum Wunderrabbi mit seinen altjüdischen mythischen Geschichten und chassidischen Erzählungen prägen als Kindheitsmetaphern viele ihrer Heimatgedichte.
Pantheistische und astrophilosophische Lebensvorstellungen werden von Rose Ausländer in ihren lyrischen Lebensbildern und „Atemgedichten“ auch im Spätwerk noch metaphorisch umgesetzt: Kreislauf-, Wiederkehr- und Verwandlungs-Wortbilder.

 

„Es stürzt auf mich die ganze Stadt.“
Exil 1921–1930, Amerika – New York

WIRBEL

Es kriecht um mich der Autotanz
Sirenen bersten meine Ohren.
Ein Überfall aus schrillem Glanz
schlägt wie ein Blitz in meine Poren.

Der Regenbogen, farbzerfetzt,
hat seine hohe Bahn verlassen
und rennt, elektrisch fortgehetzt,
in Nervennacktheit durch die Gassen.

Ein Wolkenkratzergipfel winkt –
einst glaubt’ ich ihm die Sternennähe,
doch nur wie Nebel niedersinkt
zeigt mir die hohle Hand die Höhe.

Der Wirbel dieser Tollheit hat
in seinen Trichter mich gerissen.
Es stürzt auf mich die ganze Stadt.
Am Himmel leuchtet kein Gewissen
.11

Nach einem kurzen Aufenthalt bei Verwandten in Winona/Minnesota fand Rosalie Scherzer in Minneapolis/St. Paul eine Anstellung als Hilfsredakteurin für die deutschsprachige Zeitschrift Westlicher Herold und als redaktionelle Betreuerin der Anthologie Amerika Herold Kalender (1922–1926), in der sie auch eigene Gedichte veröffentlichen durfte.

Ende 1922 zog Rosalie Scherzer mit Irving (Exilname für Ignaz) Ausländer nach New York, wo sie am 19. Oktober 1923 heirateten. (Trennung 1926, Scheidung 1930) Rose Ausländer findet eine Anstellung an der Bowery Savings Bank in der Nähe des Broadway. Die Blick- und Erlebnisfelder der Stadt mit ihren fluchten, Gruften und Nerventurbulenzen ihrem Wohn- und Sprachgitter, ihrem Isolationsasyl konstituieren entscheidende Bildbezirke und Metaphernnetze ihrer Amerikagedichte. Die Ausländers begründeten mit anderen ausgewanderten Czernowitzer Juden einen New Yorker Constantin-Brunner-Kreis. Rose Ausländer trat in einen Briefwechsel mit Brunner ein, dem sie auch eigene Gedichte anvertraute.

1924 lernte Rose Ausländer ihren bedeutendsten literarischen Förderer kennen: den Leiter des Bukowiner Kulturwerks Alfred Margul-Sperber aus Czernowitz, der zeitweilig in New York als Prokurist bei der Bowery Savings Bank arbeitete. Nach seiner Rückkehr 1925 machte Sperber die junge Lyrikerin in ihrer Heimat bekannt, vermittelte erste Veröffentlichungen ihrer Gedichte im Czernowitzer Morgenblatt und betreute später auch Rose Ausländers ersten Gedichtband Der Regenbogen (1939).

Die zweite entscheidende Lebensbegegnung für Rose Ausländer war die Freundschaft und zeitweilige Liebesbeziehung zu Helios Hecht, den sie auf einem erzählwürdigen Umweg kennenlernte. Rose Ausländers Nachlaßverwalter Helmut Braun berichtet:

1926, nach fünfjährigem Aufenthalt in den USA, nehmen Rose und Irving Ausländer die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Offensichtlich planten sie, sich auf Dauer in den USA aufzuhalten. Im Oktober 1926 reisen beide nach Czernowitz. Bevor sie amerikanische Staatsbürger wurden, konnten sie diesen Besuch nicht wagen, da sie fürchteten, als Ausländer nicht wieder in die USA zurückreisen zu dürfen. Nun aber ist dieses Hindernis entfallen, das langersehnte Wiedersehen mit der Mutter, dem Bruder, Freunden und Bekannten kann endlich stattfinden. Brieflich bittet Lotte Brunner, die Tochter des Philosophen aus Berlin, eine Probe ihrer Handschrift Helios Hecht, einem Graphologen in Czernowitz, zuzuleiten. Hecht, der auch als Kulturjournalist und Herausgeber von Zeitschriften tätig war, hatte einen hervorragenden Ruf als Graphologe. Er publizierte u.a. graphologische Gutachten in verschiedenen Zeitungen aufgrund von Handschriften, die ihm interessierte Personen zur Verfügung stellten. Lotte Brunner wollte ein solches Gutachten, sie wollte aber auch gegenüber Hecht anonym bleiben. Deshalb wählte sie den Weg über Rose Ausländer. Diese kommt der Bitte nach und überbringt Helios Hecht die anonyme Handschrift. Bei dieser Gelegenheit lernt sie ihn kennen, und wie ein Blitz trifft sie die Liebe. […] Sofort trennt sie sich von Ignaz Ausländer, der allein nach New York zurückreist. Mit Helios Hecht, der sich ebenfalls von seiner Frau vorübergehend trennt, bezieht sie eine gemeinsame Wohnung. Er ist die große Liebe ihres Lebens.12

Diese leidenschaftliche, lebenszeitlich unerfüllte Liebe beeinflußt Rose Ausländers Lyrik bis in ihr Alterswerk.

SONNE IM FEBRUAR

Wir haben die Fenster
mit Schnee gewaschen
Helios atme sie trocken

Strähn
unser frostverästeltes Haar
mit dem Sonnenkamm

Freilich wir wissen
im Dornengarten
hast du schlafende Rosen begraben
bald wirst du sie wecken
kelchgerecht
für die Regentaufe

Wir werden
Zeugen sein

Indessen blühn
farblose Eisblumen
auf dem Moosdach
verwesender Väter
13

Nach einem kurzen Berlinaufenthalt 1927, reist Rose Ausländer Ende 1928 in Begleitung von Helios Hecht nach New York, um sich von Irving Ausländer scheiden zu lassen. Nach amerikanischem Recht ist dies nur an dem Heiratsort und nach Schuldeingeständnis des Partners möglich. Die Scheidung gelingt durch das Entgegenkommen des Ehemannes am 8. Mai 1930.

 

„Immer zurück zum Pruth“
Zwischenzeit – Wartezeit:  C
zernowitz 1931–1941

PRUTH

Da zirpten die Kiesel im Pruth
ritzten flüchtige Muster in

unsre Sohlen

Narzisse wir lagen im Wasserspiegel
hielten uns selbst im Arm

Nachts vom Wind bedeckt
Bett mit Fischen gefüllt
Goldfisch der Mond

aaaaaSchläfenlockengeflüster:
aaaaader Rabbi in Kaftan und Stramel
aaaaavon glückäugigen Chassidim umringt

aaaaaVögel – wir kennen nicht
aaaaaihre Namen ihr Schrei
aaaaalockt und erschreckt
aaaaaAuch unser Gefieder ist fertig
aaaaawir folgen euch
aaaaaüber Kukuruzfelder
aaaaaschaukelnde Synagogen

Immer zurück zum Pruth

Flöße
(aus Holz oder Johannisbrot?)
pruthab
Wohin ihr Eilenden
und wir hier allein
mit den Steinen?
14

1931 kehrte Rose Ausländer mit Helios Hecht nach Czernowitz zurück. Der Gesundheitszustand der Mutter erforderte dauernde Pflege. Mutter und Tochter bezogen eine Wohnung im selben Haus, in dem Helios Hecht eine Praxis für Graphologie eingerichtet hatte.
Als Englischkorrespondentin bei der Vacuum Oil Company ging sie mit Helios Hecht 1933 nach Bukarest. Hechts Versuch, eine Scheidung zu erlangen, scheiterte am Einspruch seiner Frau. Rose Ausländer löste die fortbestehende Beziehung erst im Januar 1935, als Helios Hecht ohne ihre Zustimmung eine „Charakteranalyse“ von ihr im Bukarester Monatsblatt Neue Heimat veröffentlichte.
In den ersten Jahren konnte Rose Ausländer in mehreren Czernowitzer Zeitungen (Morgenblatt, Der Tag) und Literaturzeitschriften in Kronstadt und Prag publizieren und arbeitete mit Hilfe Margul-Sperbers an ihrem ersten Lyrikband Der Regenbogen (Gedichte 1927–1933), der 1938 abgeschlossen 1939 erschien – zu spät, um als jüdische Autorin im deutschsprachigen Raum Verbreitung und Beachtung zu finden.
Mit der zunehmenden Judenfeindlichkeit in Rumänien und angesichts der drohenden Naziherrschaft vermittelten amerikanische Freunde der staatenlos gewordenen Rose Ausländer ein Einreisevisum nach New York.

(Die amerikanische Staatsbürgerschaft war abgelaufen, die rumänische hatte Rose Ausländer abgelehnt)

Zur Vorbereitung hielt sie sich Juni/Juli in Paris auf und traf im Oktober in den USA ein, wo sie kurz darauf die Nachricht von der schweren Erkrankung ihrer Mutter erreichte. Rose entschied sich daraufhin Ende 1939 zur Rückfahrt nach Czernowitz.

GEISTERWEG

Giftige Geister lauern am Weg.
Wir gehn schräg
um sie nicht zu berühren.

Wir stehn vor versiegelten Türen.

Es war unser Haus, es war
unser Garten mit feingekämmtem Haar.
Es war Mutterduft, es war.

Wir kehren um, gehn schräg
den giftigschwarzen Weg
ins Getto.
15

 

„Sie kamen mit giftblauem Feuer“
Schattenzeit – Ghettoverfolgung 1941–1946

MIT GIFTBLAUEM FEUER

Sie kamen mit giftblauem Feuer
versengten unsere Kleider und Haut.

Der Blitz ihres Lachens schlug an unsre Schläfe
unsere Antwort war der Donner Jehovas.

Wir stiegen in den Keller, er roch nach Gruft.
Treue Ratten tanzten mit unsern Nerven.

Sie kamen mit giftblauem Feuer unser Blut zu verbrennen.
Wir waren die Scheiterhaufen unsrer Zeit.
16

Anfang 1940 zu Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzten russische Truppen die Bukowina: Deportationen und Zwangsrekrutierungen von Deutschen – darunter auch Rose Ausländers Bruder Max, der 1944 zurückkehrte. Die begonnene Verfolgung von Juden und Deutschen wurde 1941 durch den antisemitischen Terror der deutschen SS-Einsatzgruppe abgelöst, die nach der Besetzung der Stadt das Czernowitzer Judenviertel zum Ghetto erklärte. Sie begann mit den systematischen Ausrottungsdeportationen zu den Vernichtungslagern in Transnistrien, denen die Familie Scherzer wie durch ein Wunder entkam.

(Von den 60.000 Czernowitzer Juden haben 5.000 Verfolgung und Krieg überlebt.)

Der extrem kalte Winter Anfang 1942 zwang zur Aufgabe der Todestransporte, das Ghetto wurde zwar aufgelöst, die Juden aber weiterhin zur Zwangsarbeit mit minimaler Überlebenschance rekrutiert. Rose Ausländers Versuch, über die Schweizer Botschaft ein Ausreisevisum zu erhalten, scheiterte 1942. Nur mit Hilfe von Freunden aus Bukarest (Margul-Sperber und Ewald R. Korn) konnte Familie Scherzer-Ausländer die Verfolgungszeit in einem Kellerversteck überstehen. Eine polnische Exilfreundin Hanna Kawa schmuggelte Überlebensgüter in die „Gruft“. Rose Ausländer schrieb an Korn 1943:

Gewiß fühlen Sie es, da Sie wie ein Engel in mein Schattenreich traten, um das tiefe Dunkel aufzuhellen. Es ist traumhaft wunderbar – und nur Träume sind die Wirklichkeit – die Wirklichkeit aber ist weniger als ein Traum in ihrer schalen Einförmigkeit und mörderischen Entpersönlichung. Traum: das ist Raum ohne Grenzen. Und nur wo die Begrenzung aufhört, beginnt erst die Kunst…17

Rose Ausländer halfen ihre Gedichte (z.B. „Gettomotive“, „Blinder Sommer“) in ihrem Kellerasyl psychisch zu überleben. Die Ghettozeit verfolgte die Dichterin ihr Leben lang. Das metaphorische Erinnerungsfeld tauchte auch noch in ihrer Alterslyrik auf.

Orte aus Rauch
ohne Atem und Glanz

Ein Zigeuner geigt
in grüner Watte
jenseits des Zauns

Die Sonne rollt
in Sternenasche
ihr Schatten fällt
auf vergessene Namen
18

In ihrer biographischen „Rückblende“ erinnert sie sich an die Todesangst:

Ich wurde oft und schwer mißhandelt und mit dem Todde bedroht. Ich lebte in namenlosem Elend und in Angst vor meinem weiteren Schicksal und der immer angedrohten Deportation nach Transnistrien.19

IDENTITÄT

Menschen haben mir
mein Ich verboten

Sie wissen nicht
daß ich auch
Baum bin Vogel Stern

und Architekt
der Märchen baut

die sich nicht sehen
obwohl sie
bis in den Himmel reichen
20

Rose Ausländer bekennt 1971 in ihrem autobiographischen Essay „Alles kann Motiv sein“:

Czemowitz 1941. Nazis besetzten die Stadt, blieben bis zum Frühjahr 1944. Getto, Elend, Horror, Todestransporte. In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltensweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit. Schreiben war Leben. Überleben.
„… Auf den flüchtenden Kähnen / löschen die Wimpel den Traum, von den Himmeln…“ – „… daß die unsichtbaren Gestirne aufblühen.“ Diese und viele andere Verse las mir ein junger Mann vor, den 1944 ein Freund zu mir brachte: Paul Antschel-Celan. Als Revanche las ich das nächste Mal meine neuentstandenen Gedichte, die er sehr lobte.
21

Als im März 1944 russische Truppen die Bukowina besetzten, wurde die Familie Scherzer-Ausländer von den Nazis befreit, aber als Deutsche eingestuft und Repressalien ausgesetzt, die sie vor allem aufgrund der Arbeitsunfähigkeit von Mutter und Tochter ohne Deportation überlebten.
Erst während der Ghettozeit machte Rose Ausländer nach eigenen Angaben ihre Bekanntschaft mit Paul Antschel/Celan, der an der Universität in Czernowitz studierte. Er hatte über einen Freund Rose Ausländers Kenntnis von ihrem Lyrikband Der Regenbogen. Mit seinen schon damals ungewöhnlichen Gedichten stieß er im Czernowitzer Literaturkreis um das Ehepaar Ginninger (Immanuel Weisglas, Alfred Kittner u.a.) auf Vorbehalt. Rose Ausländer, die bereits mit der amerikanischen Moderne vertraut war, verteidigte Celans Lyrik.

Sie wirkte in der deutschsprachigen Lyrik erst nach dem Krieg stilprägend.

Für Celans Arbeitsweise war es nicht ungewöhnlich, daß er z.B. in seiner „Todesfuge“, die in dieser Zeit entstand metaphorische Motive aus je einem Gedicht von Rose Ausländer Weisglas und Rosenkranz einbezog und seiner Lyrik neu gestaltend aneignete. (Vgl. dazu Stiehler in Akzente 1972, Heft 1, S. 11ff.)

Nachdem 1945 die Bukowina von der UdSSR annektiert war bestand die Möglichkeit zur Ausreise nach Rumänien, zu der sich die Familie Scherzer/Ausländer erst 1946 entschloß. Ein Angebot amerikanischer Freunde, in die USA auszuwandern galt nur für Rose Ausländer. Sie entschied sich für New York in der Hoffnung, die Einreise für die Mutter später zu ermöglichen. Ihre Freunde (Kittner, Margul-Sperber u.a.) organisierten der Lyrikerin eine Abschiedslesung, in Bukarest. In seiner Einführung hob Alfred Margul-Sperber hervor:

Man übersehe nicht, daß ihr lyrisches Erlebnis aus dunklen Quellen des Elementaren und Dämonischen gespeist wird, aus denen sich Rose Scherzer zur Klarheit und Ausgeglichenheit ihres Gedichtes erlöst.22

Über Marseille trat sie im September 1946 die Seereise nach New York in ihr zweites USA-Exil an.

 

„Ich wohne nicht / ich lebe“
Heimatlose Exil- und Reisezeit: A
merika-Europa 1946–1965

BIOGRAPHISCHE NOTIZ

Ich rede
von der brennenden Nacht
die gelöscht hat
der Pruth

von Trauerweiden
Blutbuchen
verstummtem Nachtigallsang

vom gelben Stern
auf dem wir
stündlich starben
in der Galgenzeit

nicht über Rosen
red ich

Fliegend
auf einer Luftschaukel
Europa Amerika Europa

ich wohne nicht
ich lebe23

In New York wurde Rose Ausländer von Freunden aufgenommen. Körperlich und seelisch geschwächt gelang es ihr nur allmählich, sich heimisch zu fühlen, die Arbeitssuche aufzunehmen und um eine Einreisegenehmigung für ihre kranke Mutter nachzusuchen. Die Nachricht vom Tod der Mutter, die 73jährig in Satu Mare/Rumänien starb, führte bei Rose Ausländer zu einem physischen und psychischen Zusammenbruch.
Er erforderte ein halbes Jahr ärztliche Betreuung und lähmte sie in ihrer literarischen Arbeit. Ihre lyrische Muttersprache blieb auch nach der Genesung vorerst tot. Rose Ausländer schrieb Gedichte in englischer Sprache. Vom 6.3.1950 bis 8.12.1961 arbeitete sie als Übersetzerin und als Fremdsprachenkorrespondentin in einer New Yorker Speditionsfirma und erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die sich weiterhin heimatlos Fühlende fand Anschluß an Emigrantenkreise und kulturelle Zirkel (erste Lesung 1949).
Mit dem jiddischen Balladendichter Itzig Manger, der dem Nazigreuel entkommen, auch als Exilant 1951–1963 in New York lebte, verband Rose Ausländer eine Freundschaft mit Distanz. Sie fühlte sich ruhelos in dieser fremden Stadt, zog mehrmals in möblierte Zimmer, lebte aus Koffern, meist krank und daher arbeitsunfähig.
Seit 1947 schrieb sie englische Gedichte („New York“, „Harlem“, „Chinatown“, „Freiheitsstatue“ u.a.), die seit 1949 in verschiedensten Zeitschriften publiziert wurden. Ihre englischen Gedichte wiesen zunehmend auf einen neuen lyrischen Stil hin, verzichteten auf traditionelle Formen wie Reim, feste Strophenform und Rhythmen und zeigten sich beeinflußt von der modernen amerikanischen Lyrik. Entscheidenden Anteil an dieser dichterischen Entwicklung und an Rose Ausländers beginnender Resonanz in den USA hatte die amerikanische Schriftstellerin und berühmte Lyrikerin Marianne Moore, die Rose Ausländer auf der New Yorker City Writer’s Conference 1956 kennengelernt hatte. Marianne Moore verhalf der unbekannten Exilautorin zu einem Ehrenpreis des Wagner Colleges, förderte ihre publizistische Verbreitung und motivierte Rose Ausländer, wieder deutschsprachig (im „Mutterland Wort“) zu schreiben – und zwar konsequent weiter im neuen lyrischen Stil. Dies kann als die entscheidende Wende in Rose Ausländers schriftstellerischem Leben bewertet werden. Mit ihrem neuen Stil fand die Dichterin zu einem eigenständigen und zeitgemäßen lyrischen Ton. Er ermöglichte Rose Ausländer, als sie in ihrem „Mutterland Sprache“ eine neue Heimat gefunden hatte, gegenüber Freunden zu bekennen:

Es ist wert, zu leben und zu schreiben.24

Zuerst galt es aber noch mit der fremden Exilsituation leben zu lernen, die sie psychisch und physisch belastete, und der sie mit Fremdsein und Distanz begegnete.

MANHATTEN (NEW YORK)

Mondrianmuster
Manhattan

Würfel
zwischen zwei Flüssen

Tag und Nacht
auf dem Times-Square
der Regenbogen
tanzt sich nicht wund
25

Rose Ausländer befaßte sich mit Gedanken und Planungen an eine Europareise, die sie 1957 aufgrund eines spontanen Mitreiseangebotes ihrer Freundin Mimi Grossberg antrat. Mit dem Schiff fuhr sie im Mai nach Frankreich. Der erste Zwischenaufenthalt galt Paris, wo sie, vermittelt über ihren Czernowitzer Freund Leo Sonntag, mit Paul Celan zusammentraf. Eine zweite Begegnung folgte am 28. Mai 1957.

1957. Zwei Wochen in Paris. Paul Celan lud mich mehrere Male zu sich ein, las mir viel Neuentstandenes vor, Gedichte, die später im Sprachgitter erschienen sind. Er fragte nach meinen neuen Arbeiten. Zögernd zeigte ich ihm sechs Texte. Er reagierte sofort nach dem Lesen: „,Das unerhörte Herz‘, ,Atlantis‘, ,Ruf und Kristall‘ und ,Eingeschneit‘ sind sehr, sehr schön. Auch ,blinder Sommer‘ ist ein gutes Gedicht.“ Das sechste gab er mir wortlos zurück. Kurz danach las ich „Mohn und Gedächtnis“ und „Von Schwelle zu Schwelle“: ein neues Modell poetischer Evokation. Celans sprachschöpferischer Existentialismus war überzeugend. Der Tod hatte seinen besten Dichter ins Leben gerufen.26

Rose Ausländer hatte Paul Celan bisher Gedichte im Stil der 40iger Jahre vorgelegt. Als sie am 6. November 1957 wieder nach Marseille kam, machte sie noch einmal einen Abstecher nach Paris, um Paul Celan aufzusuchen. Diesmal legte sie Celan ihre neueren Gedichte vor, die der Schreibweise des Schriftstellerfreundes näherstanden. Celan bestärkte Rose Ausländer, in ihrem neuen lyrischen Ton weiterzuschreiben und versprach, sich für sie bei Hans Bender, dem Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift Akzente, zu verwenden. Eine größere Aufmerksamkeit erreichte daraufhin die Autorin mit einem Rundfunkfeature und einer aufgezeichneten Lesung im Kulturspiegel des Bayerischen Rundfunks am 4.8.1958, die der damalige Kulturjournalist und Schriftsteller Michael Ende verantwortete.
Mehr als eine anregende Bestätigung konnte die kurze Begegnung der beiden Schriftsteller aus Czernowitz in Paris nicht ermöglichen. Dies bedeutete dennoch für das schriftstellerische Selbstvertrauen der in Europa unbekannten Lyrikerin sehr viel. Die These, daß Rose Ausländer erst über Paul Celan zu ihrer modernen Schreibweise gefunden hätte, greift zu weit. Selbstbewußt protestierte Rose Ausländer gegenüber dem Celan-Biographen Israel Chalfen wegen dessen seither weitgehend auch in der Literatur zitierten Bewertung von Celans Einfluß auf Rose Ausländers lyrische Arbeitsweise und Wertstellung:

„Ich bedaure sehr, daß Sie mich falsch zitiert haben (S. 133). Ich hatte zwar nichts dagegen, daß Paul Celan meine Metapher ,schwarze Milch‘ verwendet hat, aber ich habe es durchaus nicht ,so nebenhin‘ gebraucht! Ich schreibe kein Wort ,so nebenhin‘! Was ist Ihnen eingefallen, mir dies in den Mund zu legen? Ich habe auch nicht von meinem ,bescheidenen‘ Werk gesprochen und daß es mir zur Eilte gereicht, dem großen Dichter als Anregung gedient zu haben. Diese Fälschungen nehme ich Ihnen sehr übel. Wie können Sie widerrufen?“ (Bisher unveröffentlichter, handschriftlich zum Diktat freigegebener Brief Rose Ausländers vom 10.8.1979, Fundstück im Belegexemplar der Dichterin von Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt/M. 1979, Rose-Ausländer-Archiv in Üxheim/Eifel.)

In ihrer Erregung über den „großen Dichter“ Celan interpretierte sie ihr „frühes“ in „bescheidenes“ Werk um. Die von Chaljen gebrauchte Negation, die sie einfordert, hat Rose Ausländer wohl überlesen.

In den folgenden Monaten bereiste Rose Ausländer neben Frankreich, Italien („Mein Immerland“), Griechenland, Spanien, Norwegen, Österreich und die Schweiz. Ihre Eindrücke, Erlebnisse, Flucht- und Suchwege und von ihnen ausgelöste Sehnsuchtsträume hält sie in lyrischen Bildern fest.

ARLES

Auch hier
brannte der Strauch

Der es sah
entbrannte
in Liebe zum Feuer
hielt es in Atem
verzehrend
Gelb

Es zog ihn
in den Sonnenstrudel

Welt
wahrgemalt
vom Wahn
27

Am 25. November 1957 traf Rose Ausländer mit dem Schiff wieder in New York ein.
Aus gesundheitlichen Gründen mußte sie ihre Tätigkeit als Fremdsprachenkorrespondentin Ende 1961 kündigen. Für Rose Ausländer begann eine finanziell armselige Zeit. Selbst eine geringe Entschädigung und Altersrente als Verfolgte des Naziregimes ließ sich nur mühsam durchsetzen. Sie plante, sich in Europa niederzulassen, und verabredete 1963 einen Besuch bei der Familie Ihres Bruders Max Scherzer in Wien, die aus Rumänien ausreisen durfte und für die Rose Ausländer auf einer Israelreise im August 1964 ein Exil erkunden wollte. Vor dieser Jerusalemreise starb die Frau des Bruders im Juni 1963, der daraufhin beschloß, Ende 1964 mit den Kindern nach New York auszuwandern. Seine Schwester folgte ihm nach New York, um ihn zu unterstützen, ohne jedoch ihren Europaentschluß aufzugeben. Im Juni 1964 redigierte Rose Ausländer für den Bergland Verlag in Wien ihren Gedichtband Blinder Sommer, der die erste Buchveröffentlichung nach 26 Jahren darstellte und die Ghettogedicht, geschrieben 1957–1963, enthielt. Mit einer bescheidenen Auflage von 500 Exemplaren erreichte er nur geringe Resonanz.
Rose Ausländer fühlte sich in Wien fremd und heimatlos sie wollte sich in der Stadt, in der sie schlimmen Antisemitismus erlebt hatte, nicht niederlassen. Trotzdem hielt sie an ihrer Entscheidung fest, im deutschsprachigen Europa zu bleiben. Sie wählte Düsseldorf, weil in der dortigen jüdischen Gemeinde Bukowiner Landsleute und Überlebende des Czernowitzer Ghettos lebten. Seit dem 3. März 1965 wohnte Rose Ausländer in verschiedenen Pensionen in Düsseldorf. Die folgenden Jahre erfüllte sie sich von ihrer bescheidenen Wiedergutmachungsrente den langerträumten Wunsch vom Reisen.

ERINNERUNGEN

Reisen und die Welt
in Händen halten

Auserwählte Feiertage
Nimm die Ruinen aus Rom
El Greco in Toledo
Wie sich Paris entfaltet
in tanzenden Fontänen
Diese Häuserberge von New York
Flammen und Figuren
Wasser unsere Mutter
Menschen und Sprachen
Die Himmelsschaukel
Wer kann die Wunder zählen

Reisen und die Welt
im Herzen haben
28

 

„Nichts bleibt wie es ist“
Reisezeit – Erinnerungszeit: F
lucht und Traum 1965–1972

NICHTS BLEIBT WIE ES IST

Ich träume mich satt
an Geschichten
und Geheimnissen

Unendlicher Kreis aus Sternen
ich frage sie
nach Ursprung Sinn und Ziel
sie schweigen mich weg

Den Orten die ich besuche
gebe ich neue Namen
nach den Wundern
die sie mir offenbaren

Nichts bleibt wie es ist
es verwandelt sich
und mich
29

Rose Ausländer hatte in Düsseldorf noch keine Ruhe gefunden. Reisen aktivierten neben Flucht und Suche nach Heimat ein Erinnern und Träumen:

Erinnerungen, Reisen und die Welt in Händen halten… Reisen und die Welt im Herzen haben.30

Erinnerungen und ihre poetische Verwandlung im lyrischen Bild werden so als Metamorphosen der inneren Wirklichkeit angeeignet:

Nichts bleibt wie es ist, es verwandelt sich und mich.

Die ruhelos Suchende reiste nach Frankreich und Italien (eine Kur in Montecatini, Rom, Venedig), Schweiz (Zürich), Wien. 1968 kehrte Rose Ausländer noch einmal nach New York zu ihrem Bruder Max zurück. Nach einem sechsmonatigen „Erinnerungstrip“ in den Mittelwesten und zu wichtigen Erinnerungsstätten entschloß sie sich, New York und die USA endgültig zu verlassen. Vor ihrem Rückflug mit der „Luftschaukel“ nach Europa lagerte sie zwei Koffer bei ihrem Bruder ein, die auch nach ihrem Tode dort verblieben.

Bei einer Veranstaltungsreihe für Dichterinnen der Stadt Meersburg bekam Rose Ausländer 1965 ihren ersten „Ehrenpreis“ für das Gedicht „Schnee im Dezember“. Sie erhielt Einladungen zu vielen Lesungen, Tagungen, Ehrungen und Besuchen zu Freunden u.a. nach Stuttgart, München, Reutlingen (Bekanntschaft mit Hap Grieshaber), Tübingen, Köln, Hamburg. Viele Orte inspirierten sie zu lyrischen Erinnerungsbildern.

TÜBINGEN

In der beschützten Stadt
giebelrotes Gassengebirge
jahrhundertedicht

Wahn
vom Neckar
getauft

Hügelgefährten
Hölderlin-treu

Unter schmächtigem Stein
der Staub
atmet
31

Über Rudolf Hagelstange vermittelt, erhielt Rose Ausländer 1966 den Silbernen Heinrich Heine-Taler des Verlags Hoffmann & Campe (Lyrikband 36 Gerechte 1967). 1967 wurde ihr der Droste-Preis der Stadt Meersburg zugeprochen. Er vermittelte der noch unbekannten Lyrikerin in Deutschland eine größere publizistische Aufmerksamkeit. Eine bibliophile Kostbarkeit stellte der mit Siebdrucken von Otto Piene ausgestattete Gedichtband Inventar dar. (100 Exemplare, die bei Erscheinen schon vergriffen waren.) Marie Luise Kaschnitz, zu der eine freundschaftliche Beziehung entstand, unterstützte das Erscheinen des Lyrikbandes Andere Zeichen.

 

„In der Fremde / daheim“
Heimatfremde – Atemzeit: N
elly-Sachs-Haus Düsseldorf 1972–1985

DAHEIM

In der Fremde
daheim

Land meiner Muttersprache
sündiges büßendes Land
ich wählte dich
als meine Wohnung
Heimatfremde

wo ich viele
fremde Freunde
liebe
32

Als endgültige Heimstatt wählte Rose Ausländer das von der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gebaute Nelly-Sachs-Haus. Nach einem Sturz im Kurpark der Stadt Bad Nauheim 1972 wurde sie pflegebedürftig und bettlägrig. Sie zog sich ins Nelly-Sachs-Haus zurück, das als letztes Domizil auch von Rose Ausländer zum inneren Exil für ihr lyrisches Ich antizipiert wurde.

MUTTERLAND

Mein Vaterland ist tot
sie haben es begraben
im Feuer

Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort
33

Rose Ausländer erlebte in dieser Isolation ihre produktivste lyrische Schaffenszeit. Seit 1974 erschienen regelmäßig Gedichtbände.

Im Märchenland
blüht die Poesie
Ich suche sie
am Traumpfad
der mich führt
34

Seit 1978 verließ Rose Ausländer bis zu ihrem Tode 1988 nicht mehr ihr Zimmer, obwohl sie, wie ihr Herausgeber Helmut Braun versichert, die Bettlägrigkeit in den ersten Jahren ohne medizinische Notwendigkeit aus eigenem Entschluß wählte, um sich fast ausschließlich ihrer inneren poetischen Traumwirklichkeit, den „Atemgedichten“, anzuvertrauen. Während dieser Zeit erhielt Rose Ausländer weitere Ehrungen: 1977 den Ida-Dehmel-Preis und den Andreas-Gryphius-Preis, vermittelt u.a. durch Hilde Domin, mit der kurzfristig auch brieflicher Kontakt bestand.
1978 die Ehrengabe des Kulturpreises im BDI, 1980 die Roswitha-Medaille der Stadt Gandersheim und 1984 den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Rose Ausländer mußte ihre Dankesrede von ihrem Herausgeber Helmut Braun verlesen lassen, weil sie bettlägrig ihr Düsseldorfer Domizil nicht mehr verließ. Darin sagte sie über sich selbst:

Als ich mein erstes Gedicht schrieb, war ich siebzehn; ich lebte in Czernowitz; gedruckt wurde ein Gedicht von mir erstmals 1922 ich war 21 Jahre alt, in Minneapolis/St. Paul; ich war 38 und wieder in die Heimat zurückgekehrt, als mein erstes Buch erschien: Der Regenbogen. Die erste Kritik zu diesem Buch stand 1940 in einer Zeitung in Genf; meinen ersten Literaturpreis erhielt ich mit 56 in New York – meinen bisher letzten mit 83, bettlägerig im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf –, es muß nicht unbedingt der letzte bleiben, ich bin jetzt leicht zu finden, meinen Aufenthaltsort kann ich lebend nicht mehr ändern.
Zwischen 17 und 83 liegen die Meilensteine meines Dichterlebens: Gedichte, Bücher, Leser, Kritiken und Preise. Wie viele Gedichte? Der Herausgeber sagt ca. 2.500; Bücher wurden es bisher fast dreißig. Die Zuschriften der Leser stapeln sich zu Tausenden, Antwort ist mir nicht mehr möglich, fast wöchentlich schickt der Verlag Kopien von Kritiken, und da das Gedächtnis nachläßt – sehen Sie es einer vergeßlichen Frau nach –, bekomme ich die Literaturpreise gar nicht mehr alle zusammen. Und was das Leben, die Jahre, die Gedichte, die Bücher, die Leser und die Kritiker nicht geschafft haben, das schaffen die Literaturpreise: Sie machen alt! Als die Preisvergabe durch die Medien bekannt wurde, habe ich mir Kritiken und Würdigungen vorlesen lassen – Rose Ausländer ist die große alte Dame der deutschen Lyrik, habe ich erfahren. Nun, ich habe viel erlebt, manches ertragen, ich werde auch dies überstehen.
Heute, am 27. Juni, haben Sie sich in München versammelt, ein Quartett wird hoffentlich nicht ausgerechnet Brahms spielen, es ist warm, und die steife Gesellschaft schwitzt vor sich hin, noch eine Festrede, noch eine Laudatio, noch ein Dank, mürrische Gesichter, höflicher Beifall, wahrscheinlich wird es nicht so sein, und wäre es doch so, glauben Sie mir, ich wäre heute gerne bei Ihnen und ließe mich ehren.
Ihre Auszeichnung hat mich spät erreicht, nicht zu spät – ich danke Ihnen!
35

Als letzte Ehrung verlieh der Bundespräsident am 22. Mai 1984 der Dichterin das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Helmut Braun durfte die Dichterin regelmäßig (wöchentlich jeden Freitag, pünktlich um 18.45 Uhr) in ihrem Zimmer besuchen, nach der Pflege durch Schwester Claudia, die ihr bis zur letzten Stunde die Treue hielt.
Braun vermittelte den verlegerischen Außenkontakt zum S. Fischer Verlag, in dem nach Aufgabe des Helmut-Braun-Verlages seit 1981 das Gesamtwerk erscheint, und regelte die ausgewählte Korrespondenz nach Diktat. Für Briefe, Anrufe, Besuche, jegliche Art von Öffentlichkeit gönnte sich die intensiv und diszipliniert arbeitende Lyrikerin keinen Raum und keine Zeit. Mindestens einmal im Jahr – ebenfalls mit strenger Besuchszeitauflage – erwartete Rose Ausländer den regelmäßigen Besuch ihres Bruder Max aus New York.
Auch der Kontakt zu alten Freunden wurde fast ganz abgebrochen. Intensiv überarbeitete die Schriftstellerin ihre frühen Gedichte, die eine äußerste stilistische Konzentration und poetische Verdichtung im Wort, in der lyrischen Metapher erfuhren. Die strengste Bescheidung im „Wort“ signalisieren ihre letzten Gedichte.
Die Ich-Gehalt ihrer Atemworte evoziert die Glaubwürdigkeit ihrer Lebensentwürfe, die sie sich aus erlebter Nähe und durch Distanz erarbeitet hat, und gibt den dadurch vermittelten Lebensperspektiven in den lyrischen Bildern einen befreienden Spielraum: Atemraum zum Spiel, souveränes Spiel im Traumland „Wort“.

AUCH SO ETWAS

Wir haben aufgehört
Zeichen zu deuten Zeichen
zu geben

Gebt mir ein Zeichen
wo Freunde sind
neue
denn die alten sind tot
oder sie atmen
unter einem fremden Stern

wo Bäume noch sprechen
und man Blumen liebt
auch so etwas soll
es noch geben
sagt der gelbe Stern
36

GIB MIR

Gib mir
den Blick
auf das Bild
unsrer Zeit

Gib mir
Worte
es nachzubilden

Worte
stark
wie der Atem
der Erde
37

DAS SCHÖNSTE

Ich flüchte
in dein Zauberzelt
Liebe

im atmenden Wald
wo Grasspitzen
sich verneigen

weil
es nichts Schöneres gibt
38

 

„Gib auf“
Wartezeit 1985–1988

SEKUNDE

Wie lang
kann man warten

Eine Sekunde
Ewigkeit

die nächste
ist Zeit
39

Rose Ausländers einjährige Schaffenspause 1981 war medikamentös bedingt. Eine falsche Behandlung gegen ihr Nierenleiden führte zu komaähnlichen Zuständen, von denen sie sich nach der Medikamentenumstellung langsam erholte. Anfang 1983 begann sie wieder mit ganz einfachen fragmentarischen Atemworten zu schreiben (Ich zähl die Sterne meiner Worte 1985). Im Juni 1986 beendete sie die auf wenige Worte verdichteten Altersgedichte für den Lyrikband Ich spiele noch. Im Anschluß daran überarbeitete sie nur noch ältere Gedichte für ihr letztes Buch Der Traum hat offene Augen.
Mit ihrem letzten Atemwort „Gib auf“ beendete Rose Ausländer bewußt ihre dichterische Arbeit.

GIB AUF

Der Traum lebt
mein Leben
zu Ende
40

Am 3. Januar 1988 starb Rose Ausländer. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof des Nordfriedhofs in Düsseldorf beigesetzt.
Im März 1990 erschien der abschließende achte Band der Gesammelten Werke (GW) Jeder Tropfen ein Tag.

Harald Vogel, Michael Gans aus Harald Vogel, Michael Gans: Rose Ausländer – Hilde Domin. Gedichtinterpretationen, Schneider Verlag Hohengehren, 1998

Philosophische Randspuren in der Dichtung Rose Ausländers 

I
Rose Ausländers philosophische Sozialisation
Rose Ausländer war nicht nur eine philosophieinteressierte und in der Philosophie belesene Lyrikerin, sie wuchs auch in einem für die Philosophie sehr günstigen kulturellen Umfeld auf. In den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens entwickelte sich die Donaumonarchie zu einem innovativen Zentrum der westlichen Philosophie, nicht zuletzt gefördert durch die kulturelle Offenheit und den kreativen Einfluss des emanzipierten jüdischen Bürgertums.
41 Die Kulturpolitik des Wiener Hofes, die darauf abzielte, der Philosophie im Land eine nationale und religiös fundierte Orientierung zu geben, erwies sich dabei als im positiven Sinn kontraproduktiv. Nach der 1866 gegen Preußen erlittenen Niederlage von Königgrätz ging man geistig und kulturell auf Distanz zum Deutschen Reich und damit auch zur deutschen Philosophie. Nicht Kant und der Deutsche Idealismus, sondern deren Kritiker und Gegner wurden gefördert.42 Dies führte aber letztlich dazu, dass sich neue und z.T. sehr unorthodoxe philosophische Ansätze verbreiten konnten.
Dabei fällt der Blick auf zwei ganz unterschiedliche philosophische Landschaften, die beide einem aufklärerischen Impuls entsprangen: zum einen auf eine an den empirischen Wissenschaften und der neuen mathematischen Logik orientierte Philosophie, die man als die philosophische Variante der Wiener Moderne bezeichnen könnte. Sie entstand im akademischen Raum, in Vernetzung mit den Naturwissenschaften und in engem Kontakt zur internationalen Diskussion. Andererseits gab es im Bildungsbürgertum das Bedürfnis nach einer weit über die akademische Sphäre hinausgreifenden „Lebensphilosophie“, die dem aufklärerischen Streben nach einer säkularen Weltanschauung Rechnung tragen sollte.
Für die erste dieser philosophischen Kulturen steht der Wiener Kreis um Rudolf Carnap und Moritz Schlick, einer der Geburtsstätten des logischen Positivismus und der analytischen Philosophie. Inspiriert u.a. von Ernst Mach, dem Logiker Gottlob Frege und dem in Cambridge lehrenden Wiener Ludwig Wittgenstein ging es hier um eine radikale Befreiung der Philosophie von metaphysischer Spekulation und um eine theoretische Welterschließung, die sich auf die neu entwickelte mathematische Logik stützte und in jedem Stadium ihres Fortgangs dem Kriterium der Verifizierbarkeit unterworfen werden sollte.
Diese neue Philosophie zog viele kreative Köpfe an, verlor sich aber häufig in der Diskussion sehr spezialisierter sprachlogischer Probleme und konnte das Weltanschauungs- und Sinnbedürfnis vieler philosophisch Interessierter nicht befriedigen. Der frühe Wittgenstein hatte in seinem Tractatus genau solche Sinnprobleme in den Bereich der Nicht-Sprache, in den Bereich des „Zeigens“ verwiesen, sodass sie als philosophische Probleme nicht mehr diskutierbar waren.
43
Der sich entwickelnden breiten philosophischen Laienkultur, die von der Philosophie Welt- und Lebensorientierung erwartete, kamen vielmehr andere Denker entgegen, deren Ursprung und Wirkung oft außerhalb der akademischen Diskussionen lagen. Auch hier spielte die Distanz zum Deutschen Idealismus eine wichtige Rolle. Schopenhauer und Nietzsche, beides radikale Kritiker der Vernunftmetaphysik des Deutschen Idealismus, aber auch ebenso radikale Kritiker eines religiösen Weltbildes, waren im österreichischen Bildungsbürgertum ebenso verbreitet wie der von Theodor Haecker übersetzte und propagierte Kierkegaard, dessen Kritik an der christlichen Orthodoxie zum Wegbereiter des Existentialismus wurde.
Rose Ausländer hat sich zeitlebens in dieser Landschaft der philosophischen Laienkultur bewegt. Ihr Interesse galt dabei nicht einer wissenschaftlich orientierten, sondern einer „lebensorientierten“ Philosophie. Der für sie prägende „Lebensphilosoph“ wurde Constantin Brunner, ein 1862 in Hamburg geborener und später in Berlin lebender Philosoph, der aber gerade in der Donaumonarchie viele Anhänger hatte. Brunner war ein bekennender Spinozist
44 und schuf ein umfangreiches systematisches Werk, in dessen Zentrum die beiden 1908 erschienenen Bände Die Lehre von den Geistigen und vom Volk standen. Sein Profil als Philosoph stellt Brunner „in die existentialistisch-lebensphilosophische Tradition“,45 allerdings, so muss man hinzufügen, mit sichtbaren Anleihen an der traditionellen Seinsmetaphysik. Brunners Anspruch ging erklärtermaßen über den der reinen theoretischen Weltorientierung hinaus. Er wollte die Philosophie aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus „wieder auf den Weg des Lebens“ zu führen. Mit seinem Begriff der „aktiven Philosophie“ war das Ziel einer „philosophischen Lebensgestaltung“46 verbunden.
Zu der metaphysikkritischen Forderung des Wiener Kreises, Philosophie müsse sich an die empirische Forschung anbinden, verhielt sich Brunner jedenfalls polemisch ablehnend. Er verband mit seiner Philosophie noch jenen emphatischen, vorkritischen Wahrheitsbegriff, der die Einheit aller Sinnzusammenhänge meint und noch von keinerlei analytischer Diskussion und Kritik berührt wird. Brunner sah sich als Sachwalter einer solchen „unfehlbaren Wahrheit“: „Wer aber die wirklich geistige Wahrheit ergriffen hat“, so Brunner im Verkündungsmodus, „dem kommt zu keiner Stunde ein Zweifel.“
47 Wissenschaftlichkeit hingegen ist für ihn „kein Denken der Wahrheit“48 in diesem Sinne, sondern verbleibt im Bereich des „relativen Denkens“ und führt, wenn sie zum Kriterium philosophischer Wahrheitsfähigkeit gemacht wird, zu „einer neuen Form des Aberglaubens“.49 Die Annahme einer Wahrheitserfahrung, die der Wahrheit wissenschaftlicher Theorien übergeordnet ist und von dieser nicht erreicht wird, war in der nichtanalytischen zeitgenössischen Philosophie keine Ausnahme. Eines der bekanntesten Beispiele ist das „Erlösungswissen“, das Max Scheler an die Spitze seiner Theorie der Wissensformen setzte.
Brunner wirkte als Privatgelehrter, er war nicht Teil des akademischen Diskurses, sondern ein Außenseiter, der sich gerne als philosophischer Märtyrer sah:

Ich weiß, daß ich hinaustrete wie unter Feinde, diese Sache dem Gespötte und der Verschimpfung preisgebend auf lange Zeit. Ich erwarte nicht, daß es mit dieser Sache anders laufen wird, weil meine Worte das Wirkliche betreffen.50

Mit der Empfindlichkeit des Marginalisierten gegenüber Kritik hoffte er doch auf die Gefolgschaft ihm ergebener Geister, eine Hoffnung, die sich nicht zuletzt in der Person Rose Ausländers auch erfüllte. In der Donaumonarchie bildeten sich mehrere Brunner-Lesekreise, darunter das von dem umstrittenen Friedrich Kettner gegründete „Ethische Seminar“ in Czernowitz.51 Das an der östlichen Peripherie des Reiches gelegene vielsprachige und multikulturelle Czernowitz war ein kleines, aber durchaus bedeutendes kulturelles Zentrum. Es ist dies der Ort, an dem auch Rose Ausländer ihre philosophischen Lehrjahre erlebte. „Czernowitz“, so Peter Rychlow, „war von leidenschaftlichen, passionierten Lesern bewohnt“,52 „eine Stadt“, wie Rose Ausländer es selbst formulierte, „voller Schwärmer“53 und Weltanschauungssucher. An diesem Ort, der vom deutschsprachigen jüdischen Bürgertum intellektuell dominiert war, gab es ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach philosophischer Welt- und Lebensorientierung. Philosophische Diskussionen lagen hier gewissermaßen „in der Luft“. „Man stieß“, so Ausländer, „auf Spinozisten, Kantianer, Freudianer, auf Schopenhauerjünger und Anbeter Nietzsches. Viele 15–25jährige bekannten sich mit Enthusiasmus zu den Werken ihres ,Meisters‘ Constantin Brunner, des bedeutenden Berliner Philosophen.54
Constantin Brunner wurde auch für Rose Ausländer die entscheidende philosophische Begegnung. Brunner, selbst ein assimilierter Jude, der sich sowohl gegen die religiöse Orthodoxie als auch gegen den Zionismus stellte, bot sich für viele junge Czernowitzer als philosophische Alternative an. Im Falle Rose Ausländers, die früh ihren Vater verloren hatte, kam offenbar auch das Bedürfnis nach autoritativer geistiger Führung hinzu. Brunner, zu dem Ausländer auch persönlichen Kontakt suchte, entwickelte eine väterlich-protegierende Haltung gegenüber seiner jungen Verehrerin und genoss dabei sichtlich den Nimbus des lebensanleitenden „Meisters“.55
Rose Ausländer war keine akademisch studierte Philosophin, obwohl sie zeitweise philosophische Lehrveranstaltungen an der Universität besucht hat. Sie gehörte zwar zu den philosophisch gebildeten Angehörigen der Czernowitzer Intelligenz, was ihr in ihrer Heimatstadt den Ruf einer „Philosophieexpertin“ einbrachte. Ihr Zugang zur Philosophie war aber weder analytisch kritisch noch folgte ihre philosophische Lektüre dem Bedürfnis nach philosophiegeschichtlichem Überblickswissen. Philosophie war für Ausländer zunächst ein Weg der geistigen Befreiung: ein Mittel, sich von der religiösen jüdischen Orthodoxie zu lösen und sich eine säkulare Weltanschauung anzueignen, die sowohl ihr Selbstverständnis als Dichterin definieren als auch ihrer Dichtung thematische Impulse geben konnte.
Brunner und der von Brunner verehrte Spinoza blieben lebenslang das Zentrum der philosophischen Weltanschauung Ausländers. Über beide schrieb sie in einem Nachruf auf Brunner 1943: ,

Spinoza und Brunner als Philosophen sind der Weg zum künstlerischen mystischen Ziel einer erhöhten Lebensform, unter der das Selbst und die Dinge verwandelt… werden, eine zauberhafte Einheit einzugehen.56

„Mystisch“ ist ein in der Brunnerschen Philosophie positiv definiertes und auch für Ausländers Weltverständnis entscheidendes Stichwort. Es verweist auf eine Brunners Lehre zentrale Einheitserfahrung mit dem, was Brunner „Das Denkende“ nennt, ein Begriff, der sich an Spinozas Gottesbegriff als „dem absolut unendlichen Sein“ und der „Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht“ anlehnt. Durch „geistiges Denken“ vereinigt sich der Mensch mit „Dem Denkenden“: eine mystische Einheitserfahrung, die über die Verstandeserkenntnis hinausgeht und sowohl eine Lebensumwandlung als auch den Eintritt in einen neuen Seinszustand markiert. In seiner Fakultätenlehre unterscheidet Brunner dieses (wahre) „geistige Denken“ einerseits vom „relativen Denken“ die Welterfassung zum Zwecke praktischer Lebensbewältigung –, und andererseits von einem dem geistigen Denken analogen, aber falschen und fiktiven Denken, das sich für ihn u.a. in der Religion oder in falscher Metaphysik äußert und das er auch als „Aberglauben“ bezeichnet.
Brunner erhebt den Anspruch, mit seiner Philosophie im Anschluss an Spinoza den traditionellen Materialismus und Idealismus in einer neuen Einheitsphilosophie überwunden zu haben. Doch gerade der von ihm gewählte Schlüsselbegriff „Das Denkende“ und sein Verständnis von Wirklichkeit als ein „Gedachtes“ legen den Schluss nahe, dass es ich doch um eine neue Form des Idealismus handelt“.57
Das geistige Denken als Weg zur Einheits- und Wahrheitserfahrung äußert sich dabei in dreierlei Form: in Form von Philosophie, von Kunst und von „Liebe“, eine ebenfalls geistige Form der Weltbemächtigung nach dem Vorbild Spinozas „Amor Dei intellcctualis“. „Liebe“ und „Mystik“ wiederum sind im Brunnerschen Denken eng miteinander verknüpft: Das mystische Element kommt immer dann ins Spiel, wenn es um die geistige Dimension der Liebe geht. „In keinem Verhältnis der Liebe des edleren Mannes zum edleren Weibe“, so Brunner in Die Lehre vom Geistigen und vom Volk, „wo wahrhaft Eros und Anteros ist, fehlt die Mystik von ganz großer Art.“58 Alle drei Formen des geistigen Denkens, das sich bei Brunner auf der anthropologischen Ebene als Fühlen (Kunst), Wissen (Philosophie) und Wollen (Liebe) äußert, führen zu jener Einheitserfahrung, die Brunner in spinozistischer Terminologie als „Modus der Einen Substanz, der fleischgewordene Logos“59 begreift.
Brunners Einheitserfahrung wird auch immer wieder zum Thema in Rose Ausländers Dichtung. Nicht nur dies: Für Ausländer wird die Dichtung selbst zu einem Erkenntnismedium im Dienst jener Erfahrung. Dass Kunst und Mystik im Brunnerschen Sinne neben der Philosophie gleichberechtigte Zugänge zur Vereinigung mit jenem „Denkenden“, der „Einen Substanz“ sind, bedeutete für Ausländer eine entscheidende Aufwertung ihrer Tätigkeit als Dichterin. Brunners Philosophie gab ihrer Dichtung nicht nur einen philosophischen Rahmen, sie erlaubte es ihr auch, die künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt als eigenständigen, der philosophischen Reflexion gleichgestellten Weg zur Einheitserfahrung anzusehen.
Doch auch die eigenständige Auseinandersetzung und Verarbeitung philosophischer Positionen hat in ihrer Dichtung ihren Niederschlag gefunden, wobei die Reflexion über die Rolle des Künstlers und der Kunst einen besonderen thematischen Schwerpunkt bildet. Dabei ist es die von Brunner und Spinoza geprägte transzendenzfreie, idealistische und monistische Weltauffassung, die die große und sichtbare philosophische Spur in ihrem Werk hinterlassen hat. Dahinter und daneben sind aber auch andere, mehr oder weniger verwandte philosophische Spuren erkennbar, die Thema dieses Beitrags sein sollen. Sie können jedoch allenfalls als „Randspuren“ bezeichnet werden, und zwar in zweierlei Hinsicht: Sie spielen zum einen für Rose Ausländers Weltbild nur eine untergeordnete Rolle; zum anderen sind sie häufig in der Art eines Palimpsests vom Brunnerschen Denken „überschrieben“ worden. Dies bedeutet, dass es in Rose Ausländers Dichtung zahlreiche Stellen gibt, in denen mehrere verschiedene philosophische Einflüsse gleichzeitig nachweisbar sind.
Von den in Ausländers Lyrik sichtbaren philosophischen Randspuren werden im Folgenden drei „Spurenkomplexe“ aufgezeigt:60 Die Spuren Platons zusammen mit anderen Spuren der antiken Philosophie; dazu die Spuren der nachspinozistischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, mit marginalen Bezügen zu Kant, vor allem aber mit Bezügen zu den Weltdeutungen Schopenhauers und Nietzsches, die allerdings in ihrer pessimistischen bzw. optimistischen Ausrichtung ganz unterschiedliche Akzente setzen; und schließlich Spuren einer im 20. Jahrhundert hervorgetretenen Philosophie der Sprache und der Kommunikation, wie sie bei ansonsten so unterschiedlichen Denkern wie Martin Buber und Ludwig Wittgenstein thematisiert wurde, sowie, in geringerem Umfang, Spuren der Existenzphilosophie. 

II
Platon und die antike Philosophie

Von allen philosophischen Spuren in Rose Ausländers Werk ist diejenige Platons, neben denen Brunners und Spinozas, die wichtigste. Brunner selbst hat die platonische Ideenlehre als Vorläufer seiner eigenen Philosophie angesehen, obwohl wichtige Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen bestehen bleiben. Aber es können auch einige Spuren, die zunächst auf Brunner oder Spinoza hindeuten, nicht nur bis auf Platon, sondern bis auf die vorsokratische Philosophie zurückverfolgt werden.
Gemeinsamkeiten zwischen der Brunnerschen und der platonischen Philosophie bestehen in der Annahme der Relativität der wahrnehmbaren raumzeitlichen Welt, in dem Festhalten an einer überzeitlichen idealen Wirklichkeit und einer umfassenden, den Verstand übersteigenden intuitiven Einheits- und Sinnerfahrung. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die platonische Einteilung der Seelenteile in Vernunft, Wille und Leidenschaften den Brunnerschen Denkformen des Wissens, Willens und Fühlens Pate gestanden hat.
Rose Ausländer ist auf mehreren Wegen mit Platon in Kontakt gekommen. 1919 gründete Friedrich Kenner das auch Ethicum genannte „Ethische Seminar“ in Czernowitz, das die Verbreitung der Lehre Brunners zum Ziel hatte und dem auch Rose Ausländer angehörte. Zu den dort gelesenen Philosophen gehörte auch Platon.61 Im gleichen Jahr wurde Carl Siegel als außerordentlicher Professor für Philosophie an die Universität Czernowitz berufen und hielt regelmäßig, für die allgemeine Öffentlichkeit bestimmte Vorträge im Czernowitzer Rathaussaal. Im Sommersemester 1920 und Wintersemester 1920/21 schreibt sich Rose Ausländer, die ja kein Abitur, sondern lediglich einen Handelsschulabschluss abgelegt hatte, als Gasthörerin an der Czernowitzer Universität ein und hört dort Vorlesungen zur Literatur und Philosophie. Dort nahm sie im Sommer 1920 auch an einem von Sievel gehaltenen Seminar über Platons Phaidros teil, aus dem uns ein Referat aus ihrer Feder überliefert ist.62
Das Referat gibt einen guten Einblick in Ausländers Platon-Rezeption, die sich vor allem durch zwei Aspekte auszeichnet: Ausländer liest Platon gänzlich durch die Brunner-spinozistische Brille und sie ist vor allem an jenem Teil der platonischen Philosophie interessiert, der sich mit der Beziehung zwischen Eros und Kunst und deren philosophischer Erkenntnisfunktion beschäftigt. Platons Phaidros hat diesbezüglich ein für Rose Ausländer besonders attraktives Thema: Während im ersten Teil, in z.T. mythologischer Form, die Rolle des Eros behandelt wird, diskutiert der zweite Teil die Frage, was rhetorische Kunstfertigkeit bedeutet. Ausländer fasst den platonischen Dialog ganz im Brunnerschen Sinne zusammen: „Dies eben ist“, so das Fazit Ausländers, „der Tenor der ganzen Abhandlung und damit schließt auch das Werk. Echte Philosophie, echte Kunst, echte Liebe!“… Es ist Platos eigener Weg: von der Dichtkunst zur Philosophie. Es gehört mit zum Sinn des Werkes, daß ehe Philosophie, der Gedanke über die Kunst, das poetische Gefühl siegten. Die wellig weiche Gefühlslinie der Poesie geht in die steile gotische Linie des Gottsuchens, der mystischen Philosophie über…63 Die Dichterin identifiziert die Platonische Indienststellung des Schönen, der Kunst und der Rhetorik zugunsten der Wesenserkenntnis des „Wahren“ mit der Brunnerschen Einheitserfahrung, in der die Kunst einen eigenständigen systematischen Platz an der Seite der Philosophie hat.
Dies wirft einige Probleme auf, die sich auch in der dichterischen Rezeption der platonischen Philosophie widerspiegeln. Das erste betrifft die Spannung zwischen dualistischer und monistischer Weltdeutung. Obwohl Platons Denken mit der eindeutigen Trennung zwischen Wahrnehmungswelt und Ideenwelt dualistisch angelegt ist, interpretiert Ausländer Platon ganz im Sinne des Brunner-spinozistischen Monismus: Platons „Idee der Ideen“, also die Idee des Guten, wird mit Spinozas „Substanz“ und damit auch mit dessen Gottesbegriff identifiziert64 und die platonische Liebe, die eine Lösung von sinnlicher Erfahrung und eine Hinwendung zur geistigen Ideenschau meint, wird zum spinozistischen „Amor Dei“ im Sinne einer pantheistischen, mystischen Einheitserfahrung: 

Die erotische Verzückung ist das Symbol der göttlichen Liebe, des Amor Dei, ist der schöpferische Trieb zur Wahrheit. Eros – die platonische Liebe: ist die Weisheits- und Wahrheitsliebe, die geistige Hingabe an Gott, die mystische Verschmelzung mit ihm. Der tiefer von der Liebe Berührte gerät über das Liebesobjekt hinaus in einen Seligkeitsrausch, in dem er sich wundersam mit allem Seienden verschmolzen fühlt.65

Genau diese Erfahrung wird auch in einem frühen Gedicht mit dem Titel „Amor Dei“ thematisiert, in dem es u.a. heißt: 

Er ist der Leib, in dessen Innenraum
Wir ruhn und rollen ohne Unterlaß
Er ist der Geist, aus dem sich jedes Ding
Mit Atem, Schauer, Licht und Leben regt,
der dein Entzücken, deine Pein
in seinen glanzgetränkten Augen trägt,
der deine Lust dein Ja, dein Nein
in seine grenzenlose Liebe legt
66

Der Titel des Gedichts legt die Vermutung nahe, dass die Autorin hier auch von ihrer Platon-Lektüre inspiriert wurde.67 Doch der hier entfaltete Liebesbegriff im Sinne einer Leib-Geist-Vereinigung ist weniger platonisches als vielmehr reines Brunner-spinozistisches Gedankengut. Platon lehrt keine leib-seelisch-geistige Vereinigung, sondern eine Lösung von allem körperlichen und materiellen Sein. Ausländer übergeht hier, wie übrigens auch Brunner selbst, den Gegensatz zwischen Platons Dualismus einerseits und dem Monismus Brunners/Spinozas andererseits.68 Ihr Platon ist derjenige, der in Brunner-Kreisen gelehrt wurde.
Ein zweites Problem besteht im Umgang mit Platons Kunsttheorie. Dass Platon die Idee des Schönen strikt von seinem Kunstbegriff trennt, musste die Dichterin irritieren. Während die Idee des Schönen letztlich in der visionären Gesamtschau der Idee des Guten aufgeht und in der platonischen Philosophie eine positive Funktion hat, wird die Kunst von Platon durchgehend abgewertet. Als Darstellung der Wahrnehmungswelt, die selbst nur eine Wirklichkeit zweiter Ordnung ist, wird Kunst zu einer Wirklichkeit dritter Ordnung, die bekanntlich in Platons Politeia einer strikten ideologischen Zensur unterworfen wird. Diese Ablehnung, so Ausländer, könne Platon nicht ernsthaft aufrecht erhalten haben, da er sich im Phaidros selbst der rhetorischen Wirkung von Dichtung bediene:

Die Sprachgewalt der zweiten Rede, die den Mythos bis zum Höhepunkt der außerhimmlischen Herrlichkeit hinansteigert, um dann mählich zum Symbol hinabzusteigen, wird einem Dichter in den Mund gelegt. Dies kann bei Plato nichts Zufälliges sein, vielmehr identifiziert er sich hier mit dem Dichter, was ein Licht wirft auf Platos Stellungnahme zur Dichtkunst, die nicht unbedingt als ablehnend anzusehen ist.69

Ausländer erkennt, wie auch Brunner, in Platon den großen Dichter, zieht daraus aber den irrtümlichen Schluss, dass die Dichtung innerhalb seines philosophischen Systems eine bedeutende positive Funktion haben müsse. Zwar war Platon ein Meister rhetorischer und metaphorischer Sprachbeherrschung. Doch innerhalb seiner Ideenlehre blieben Dichtung und Kunst verunreinigte Medien der Wahrheitsvermittlung, da in seinen Augen jede Art von Fiktionalisierung den reinen Blick auf die „wahre“ Welt der Ideen trübt. Als Fürsprecher einer eigenständigen Erkenntnisfunktion von Kunst im Brunnerschen Sinn eignet er sich deshalb nicht. Rose Ausländer sieht auch hier über den Gegensatz zwischen Platon und Brunner hinweg.
Anders liegen die Dinge, wenn es um Platons Idee der Schönheit geht. Hier wird Ausländer zu Recht fündig in dem, was ihr an Platon das Wichtigste bleibt: die Verknüpfung von Eros und ästhetischer Wahrnehmung im Dienst der Wahrheitserkenntnis. Aus dieser Verknüpfung bezog sie ihre eigene Legitimation als Künstlerin. So wird in Platons Symposion erzählerisch entwickelt, wie sich der Eros von den niederen Formen der Liebe in einer Art intellektuellem Reinigungsprozess von allen rein sinnlichen Impulsen befreit und zu einer visionären Schau führt, in der die Ideen des Schönen, Guten und Wahren identisch werden. Hier treffen sich ästhetische und intellektuelle Erkenntnis in einer visionären Einheitserfahrung. In zwei frühen Sonetten, betitelt „Die Schönheit“ und „Liebe zur Schönheit“, wird dieses platonische Erbe besonders deutlich sichtbar. So heißt es in „Die Schönheit“: 

Sie war so schön, daß jeglicher Verstand
In Schaun sich wandelte und nichts mehr sah,
als dieses Antlitz, diese Anmutshand,
an denen alles Holde voll geschah. 

So war’s im Traume, im Vollkommensein.
Kein Mangel störte Einheit, kein Zuviel.
Die Gnade wandelt gern im Dämmerschein
Und treibt mit uns ihr träumerisches Spiel. 

Magie der Schönheit, höchste Liebesmacht,
gezeugt vom Dunkelmond im Schoß der Nacht
im Traum erspäht und nimmermehr gesehn! 

Und doch ist ewig an den Glanz gebannt,
der ausging von dem Antlitz, von der Hand,
wem solches Wunderschaun im Traum geschehn
.70 

Man findet hier einige ganz authentische platonische Elemente: vor allem die Schönheit als eine Entität (platonisch: als Idee der Schönheit), deren Erkenntnis die Möglichkeiten des Verstandes übersteigt und nur in einer intuitiven, visionären „Schau“ gelingen kann. Sie ist eine in sich vollkommene Einheit, die, im Gegensatz zu einzelnen, schönen Dingen, keinen Mangel, kein Zuviel und kein Zuwenig hat. In der Idee der Schönheit erfüllt sich der wahre Eros: Ihre „Magie“ ist „die wahre Liebesmacht“.
Die Idee der Schönheit, in der sich der Eros erfüllt, ist, im platonischen Sinne ewig, unveränderlich und göttlich, Charakterisierungen, die auf die eleatische Ontologie, insbesondere auf die Beschreibung des Seienden bei Parmenides zurückgehen.71 Auch hier fällt auf, dass Ausländer, anders als Platon, diese Idee immer mit dem Kunstwerk identifiziert. So heißt es in „Liebe zur Schönheit“: 

Wenn sich ein Bildnis in dem Tanz der Zeiten
Nicht wandelt, keine Linie trüber wird
und die verborgenen Unendlichkeiten
seiner Natur in keinem Zug verliert. 

Nennen wir’s göttlich, dürfen es so nennen,
und sind beglückt, daß wir dem reinen Ruhm
des unberührten Kunstwerk huldgen können
mit frommer Scheu wie einem Heiligtum
.72 

Typisch platonisch ist auch im ersten der beiden Sonette der Aufstieg der Erkenntnis, die ihren Ausgang bei einem konkreten schönen Ding (Hand, Antlitz) nimmt und zur reinen Schau der Idee fortschreitet. Dass diese reine Erkenntnis einmal im Traum gesehen, „im Schoß der Nacht“ erzeugt und danach wieder „vergessen“ wird („im Traum erspäht und nimmermehr gesehn“), greift die mythische Vorstellung der „Anamnesis“, der Wiedererinnerung auf, die Platon aus der pythagoreischen Tradition übernommen hat. Ein bei Platon begegnendes pythagoreisches und bis auf östliche Weisheitslehren zurückreichendes Element ist auch die Lehre von der Wiedergeburt, die in dem Gedicht „Aber ich weiß“ thematisiert wird: 

War ich ein Falter
Vor meiner Geburt
Ein Baum oder Ein Stern 

Ich habe es vergessen 

Aber ich weiß
Daß ich war
Und sein werde 

Augenblicke
Aus Ewigkeit
.
73 

Ebenso in dem Gedicht „Abschied IV“: 

Abschied
vor der Geburt 

Geburt
nach dem Abschied
74

Dass viele philosophische Spuren der antiken Philosophie über Platon hinaus in die Zeit der Vorsokratik führen, ist kein Zufall. Nicht nur hat Platon Impulse von mehreren vorsokratischen Denkern, darunter Pythagoras, Parmenides und Heraklit, in sein Denken integriert. Auch Brunner hat in Die Lehre von den Geistigen und dem Volk die Vorsokratik als eine Grundlage des eigenen Denkens und vor allem als Vorläufer seiner Bewegungslehre gewürdigt: „Bei den ersten originalen Denkern Griechenlands“, so schreibt er, „finden wir von den ersten bis zu den letzten, was wir suchen, in der größten Deutlichkeit.“75 Ob Ausländer die Texte der Vorsokratiker gelesen hat, wissen wir nicht. Sie hat diese Denker auf jeden Fall über die Lektüre des Brunnerschen Werkes kennen gelernt, der ausführlich auf sie eingeht.
Im Kontext seiner Bewegungslehre setzt sich Brunner auch mit der Relativität sowohl unserer Vorstellung des Nichts („Nihil relativum) als auch unserer Vorstellung von Raum und Zeit auseinander. Auch diese These hat ihre philosophischen Wurzeln bei den Vorsokratikern und prägte philosophiegeschichtlich die gesamte Tradition des Idealismus, von Platon über Kant bis Schopenhauer. Ein Beispiel dafür ist Parmenides, den Brunner als jemanden hervorhebt, der „die Tiefe der Bewegungslehre erfaßt“ habe.76 Für Parmenides ist das „Seiende“ ein Einziges, Unteilbares, Ewiges, Unbewegtes, weder den Grenzen des Raumes noch der Zeit unterworfen.
„Raum“, „Zeit“ und „Nichts“ als Ausgangspunkte dichterischer Reflexion begegnen bei Rose Ausländer sehr häufig. So heißt es in „Raum III“: 

Der Raum
ein raumloser Gedanke
……

Der Raum hat
Keinen Raum im Nichts.
77

Natürlich führt hier die erste Spur, wie bei Ausländer häufig, zu Brunner selbst.78 Doch dahinter wird die Spur der gesamten idealistischen Tradition bis hin zu Platon und der eleatischen Philosophie sichtbar. So hat Zenon von Elea, ein Schüler des Parmenides, seine berühmten Paradoxien (u.a. Achill und die Schildkröte) ebenfalls auf die These gestützt, dass es in Wahrheit weder Bewegung noch einen leeren Raum geben kann. Der Umgang mit den Begriffen „Nichts“ und „Zeit“ in den Gedichten Ausländers nimmt allerdings auch noch andere Färbungen an, die über diese These der Relativität und bedingten Wirklichkeit hinausgehen und auf Schopenhauer und die Existenzphilosophie erweisen, die an späterer Stelle aufgegriffen werden sollen.
Aber es gibt in den Gedichten Ausländers auch ganz explizite Bezugnahmen auf die Vorsokratiker, charakteristischerweise wieder im Zusammenhang mit der Kunst als eigenständiger Form der Wirklichkeitsbemächtigung. Das Gertrude Stein gewidmete und „Gertrude“ betitelte Gedicht beginnt folgendermaßen: 

Geht dem Wort voran kommt ihm entgegen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahört es
geduldig an während es vorüberspricht     holt es ein hält
Schritt mit ihm einmal zweimal dreimal     eine Rose
ist eine Rose ist eine Rose 

Gertrude strömt im Wortstrom geht nicht unter
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaschwimmt
gegen die Strömung nicht um die Bewegung aufzuhalten
PANTA REI ist einverstanden filmt Bilder Worte
einmal zweimal dreimal eine Rose ist eine Rose
ist eine Rose
.79

Gertrude Steins Umgang mit der Sprache, dem „Wortstrom“, nämlich die Sprache selbst sprechen und sie zu Wort kommen zu lassen („hört es geduldig an“), wird subtil in Analogie gesetzt zu einer bestimmten Haltung gegenüber der Wirklichkeit, die mit Heraklits Worten „Panta rhei“ (= Alles fließt) als „Wirklichkeitsstrom“ aufgefasst wird. Bei Heraklit ist dieses „Fließen“ eingebettet in das einheitsstiftende und unveränderbare Weltgesetz des „Logos“. Heraklits auf einer Bewegungslehre fußende Einheitsphilosophie musste einem im Brunnerschen Denken Geschulten besonders entgegenkommen. Neben Parmenides gilt Brunner deshalb auch Heraklit als einer der Väter der eigenen Bewegungslehre. Heraklit habe, so Brunner, dem Prinzip der Bewegung „die allerschärfste Fassung“80 gegeben. Sich dem Bewegungsgesetz von Ursache und Wirkung durch „Einsicht in die Notwendigkeit“ einzufügen, ist denn auch eine mit Heraklit korrespondierende These Spinozas. Genau dies ist nach Ausländer die Haltung der Dichterin Gertrude Stein gegenüber Sprache und Wirklichkeit: nicht die Bewegung aufhaltend, sondern hörend, verstehend, registrierend:

filmt Bilder, Worte einmal zweimal dreimal.

Heraklits Dialektik zwischen dem konstanten Weltgesetz des Logos und der ewigen Bewegung des Wirklichkeitsstroms wird auch sehr konzise in den ersten Zeilen des Gedichts „Nichts bleibt“ zusammengefasst: 

Tage kommen und gehen
Alles bleibt wie es ist 

Nichts bleibt wie es ist
Es zerbricht wie Porzellan
81

Einern bekannten Außenseiter der griechischen Philosophie, nämlich Diogenes von Sinope, hat Rose Ausländer zwei Gedichte gewidmet, „Diogenes“ und „Wieder Diogenes“. Diogenes, ein radikaler und prominenter Vertreter der kynischen Schule, wollte Philosophie ganz von der Theorie weg in eine provokative, unkonventionelle Lebenspraxis überführen. Wie die meisten griechischen Philosophenschulen lehrten auch die Kyniker das „naturgemäße“ Leben. Ihr „Lehren“ war jedoch eher ein „Beispiel geben“. Wie kein anderer versuchte Diogenes Philosophie in Lebenspraxis zu übersetzen. Statt zu argumentieren, „demonstrierte“ er seine Thesen. Er verzichtete auf alle Annehmlichkeiten und quartierte sich in Athen in einem Fass (der berühmten Tonne) ein, das vor dem Tempel der Demeter stand und symbolisch die Verbindung zwischen Demeter und Dionysos, dem Gott des Rausches, herstellen sollte.
In ihren beiden Diogenes-Gedichten greift Rose Ausländer auf die populärste Diogenes-Anekdote zurück, in der von der Begegnung des Philosophen mit Alexander dem Großen berichtet wird. Dabei antwortete der Philosoph auf die Frage des Königs, was er für ihn tun könne, provokativ:

Geh mir aus der Sonne!

und unterminierte damit dessen Anspruch, Sohn des Sonnengottes zu sein. Bei Ausländer wird die Figur des Diogenes zum Verteidiger des unabhängigen Geistes gegenüber den Versuchungen der Welt und den Korrumpierungen der Macht: 

Vor unserer Sonne
der Schattenkönig
raspelt Süßholz
bietet uns
Ehrensold an 

Hast du nichts gelernt
bei Diogenes
Deine verzuckerte Krone

ist hohl
lockt uns nicht
aus der Tonne 

Wir hungern nach
Sonne und Brot
Steh dem Licht
nicht im Weg.
82

Mit der Metaphorik „Licht versus Schatten“ wird der Anspruch des Erkenntnissuchenden, für Ausländer aber besonders der Anspruch der Kunst formuliert, einen eigenständigen Erkenntnisbeitrag zu liefern („unsere Sonne“). Es ist ein Thema und ein Anspruch, die sich durch ihr gesamtes Werk ziehen. 

III
Spuren der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts: Kant, Schopenhauer und Nietzsche
Die Spuren Kants in Ausländers Werk sind spärlich, obwohl Kants transzendentaler Idealismus sich in Manchem mit Brunners Philosophie trifft. Brunner jedoch geht mit Kant außerordentlich kritisch ins Gericht. Kants Apriorismus, sein Indeterminismus und sein Dualismus passten überhaupt nicht in sein philosophisches Konzept.
Auch in Ausländers Werk gibt es kaum Stellen, die einen erkenntnistheoretischen oder moralphilosophischen Bezug zu Kant erkennen lassen. Es gibt allerdings eine Referenz auf Kants kleine Schrift Zum Ewigen Frieden, die das Programm einer internationalen Rechtsordnung und eines Völkerbundes entwirft. In Ausländers Gedicht „Vorbereitung“ wird eine Szenerie des Schreckens entworfen: 

Im Frühling und Sommer
bereitet vor das Fest 

Reben aus Blutwein
in Katakomben
Marschlieder in Rillen 

ironisch konterkariert mit den Vorbereitungen des Fests, das unter dem Motto „Zum Ewigen Frieden“ steht: 

Unverdrossen
die Arbeit schreitet voran
im Frühling und Sommer
bereit vor das Fest 

,Zum ewigen Frieden‘83

Es ist ein bitterböser, pessimistischer Kommentar zum Welttheater und damit auch eine kritische Bezugnahme zu Kants optimistischer Geschichtsphilosophie. Solche pessimistischen Bestandsaufnahmen der Condition humaine finden sich über das gesamte lyrische Werk verstreut und enthalten häufig auch Bezugnahmen zu Schopenhauers pessimistischer Willensmetaphysik.
Brunner hatte zu Schopenhauer ein zwiespältiges Verhältnis: Einerseits sah er ihn als „Neospinozist“,84 andererseits lehnte er Schopenhauers Pessimismus völlig ab. Brunner und Schopenhauer treffen sich u.a. in ihrem Determinismus sowie in ihrer Sicht des Menschen als ein durch Raum, Zeit und Individuation begrenztes Wesen. All dies wird jedoch bei Schopenhauer von der These überlagert, dass alles Leben Leiden ist und von einem universalen kosmischen, „Wille“ genannten Trieb beherrscht wird, der unermüdlich Leben hervorbringt, der aber auch selbstzerstörerisch wirken kann indem sich einzelne Erscheinungen des Willens gegeneinander richten. Es ist ein sinnloser Kreislauf von Geburt und Tod, in dem nur die Erhaltung der Gattung, nicht aber das Individuum zählt.
Dieses Lebensgefühl begegnet auch in einigen Gedichten Ausländers: 

Schnell
wird dein Leben
vom Leben gefressen
85

heißt es in dem Gedicht „Vom Leben gefressen“. Und in „Das Alter“ wird dieses „fleischverschlingende“ Zulaufen auf den Tod ganz ähnlich thematisiert: 

wächst in dir
fleischverschlingend
unersättlich…
bis
das
Nichts
es verschlingt
.
86

Das „Nichts“ ist hier nicht mehr Brunners „Nihil relativum“, sondern die Aufhebung der Individuation, die aber, anders als im Buddhismus und bei Schopenhauer steht, hier nicht als Erlösung, sondern als endgültige Vernichtung begriffen wird.
Bei Schopenhauer gibt es für den Menschen immer wieder Momente, wo er dem Gefängnis aus Raum, Zeit und Kausalität für Augenblicke entfliehen und in vorbewusste oder unbewusste Erfahrungsbereiche vordringen kann, in denen diese Grenzen nicht mehr bestehen. Jahrzehnte vor Freud hat Schopenhauer den Traum als Raum des Vor- und Unterbewussten entdeckt und als Quelle einer erweiterten Wirklichkeitserkenntnis erschlossen.87 In dem Gedicht „Du bist frei“ hat Rose Ausländer einen solchen Moment im Schopenhauerschen Sinne eingefangen: 

Die Zeit hat
ihre Augen zugeschlagen
in deinem Zelt 

Sie schläft mit dir
unter einer Decke 

kein Traum
du bist frei
.
88

Wenn die Zeit schläft, wird die Wirklichkeit hinter unserer Wahrnehmungswelt sichtbar und die Kausalität zugunsten der Freiheit durchbrochen. Dass dies „kein Traum“ ist, mag man als eine dialektische Umkehrung der Schopenhauerschen These im Schopenhauerschen Sinne verstehen: Zwar werden gerade im Traum solche Momente erlebt, doch was wir Traum nennen, ist oft die wahre Wirklichkeitserfahrung und eben kein Traum.
Zu dieser Wirklichkeitserfahrung jenseits von Raum, Zeit und Kausalität gehöre auch die der Einheit aller Wesen. Wenn auch Brunner ebenfalls eine solche Erfahrung thematisiert, so war es doch Schopenhauer, der deren Ursprünge in den östlichen Weisheitslehren, sei es im Buddhismus oder im Hinduismus, in der Neuzeit für die westliche Philosophie erschlossen hat. Dazu gehört vor allem die Auffassung, dass die Individuation, also die Aufsplitterung der Welt in Einzelwesen, eine Täuschung ist und alle Wesen im Kern identisch sind. Bereits in Platons Symposion wird der Mythos vom Kugelmenschen erzählt, der noch vor der Trennung der Geschlechter den weiblichen und männlichen Menschen in sich vereinigt. Bei Schopenhauer wird jedoch, wie in den östlichen Lehren, eine umfassende Einheit aller Wesen behauptet, die auch Tiere und Pflanzen umfasst und sich an den berühmten, in den Veden formulierten Satz „Tat tvam asi“ („Das bist Du“) anlehnt. In jedem Wesen kann ich mich selbst wiedererkennen. In Ausländers Gedicht „Reflexionen“ wird diese umfassende Einheit thematisiert: 

Nichts geschieht was du nicht fühlst.
Alles liegt in dir gegründet…

Jeder Stern und jeder Mist
speist dich, ist dir unentbehrlich.
Alle Körper, alle Seelen
müssen sich in dir vermählen. 

Wenn Du deinen Bruder liebst,
tränkst Du auch Dein Herz mit Freude
.89

Aus dieser Einsicht in die Einheit aller Wesen hat Schopenhauer seine Mitleidsethik entwickelt. Mitleid als „Mitleiden“ mit dem Leid des anderen ist die Voraussetzung für die Aufhebung des sich immer wieder erneuernden Willens als Lebenstrieb.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das „Reflexionen I“ betitelte Gedicht aus dem Nachlass, das Ausländers früher Phase entstammt. Es hebt mit einem pessimistischen Schopenhauer-Ton an, wendet sich aber am Ende zu einer Feier des Lebens im Sinne Nietzsches. So heißt es zunächst: 

Und mit brünstigem Umarmen
fang ich alles Leben ein,
und es möchte mein Erbarmen
Odem jedem Steine leihn. 

Doch aus dunklem Hintergrunde
löset leis sich Traurigkeit,
und aus ihrem Muttermunde
trink ich aller Dinge Leid. 

Jedes Weh, das einst gewesen,
jeden Schmerz, der ist und wird;
und ich fühl, wie ein Erlösen
überirdisch mich berührt
.90

Erbarmen mit allen Wesen, auch mit dem Stein: das ist der Kern der Schopenhauerschen Mitleidsethik. Die Traurigkeit als Ausdruck einer leidvollen Welterfahrung löst sich „aus einem dunklen Hintergrunde“, aus der Einsicht in das Wesen der Welt, die vom Willen, von einem irrationalen Trieb bestimmt wird. Jedes leidende Wesen ist mit dem Leid jedes anderen Wesens in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verbunden. Nur in der Identifikation mit den anderen Wesen durch Mitleid ist Erlösung möglich.
Bis zu diesem Punkt reflektiert das Gedicht in sehr reiner Form Schopenhauers Weltdeutung und Erlösungslehre. Doch nun nimmt das Gedicht eine optimistische Wendung: 

Seliger als alle Wonnen,
die des Tages Goldglanz gibt,
heller als ein Meer von Sonnen
ist die Einfalt, die nur liebt. 

Jene Schönheit will mich blenden,
und ich werde blind vor Glück;
diese will mir Frieden spenden
und durchlichtet meinen Blick. 

Rausch und Lust und Leid und Schrecken
einen sich in ihrem Schoß –
über allen eitlen Zwecken
schwebt sie, – gut und grenzenlos
.91

Wenn hier auch noch die pantheistische Weltfrömmigkeit Spinozas mitschwingt („gut und grenzenlos“), so verweist die Kombination aus Rausch, Lust, Leid und Schrecken doch eindeutig auf die dionysische Welthaltung Nietzsches. Die dionysische Kunst, so Nietzsche, „will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen… Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken.“92 Auch beim frühen Nietzsche wird das Leben noch als Leiden gedeutet. Doch anders als bei Schopenhauer entsteht aus der Erkenntnis des Schreckens eine neue durch die Kunst vermittelte dionysische Weltbejahung, die Rausch, Lust, Leid und Schrecken vereint. Nietzsche hat sich in seinen späteren Schriften von Schopenhauers Mitleidsethik und Willensverneinung strikt distanziert und an die Stelle eines leidenserzeugenden Willen zum Leben den lebensbejahenden „Willen zur Macht“ gesetzt. An die Stelle einer Abkehr von der Welt tritt eine auf die vitalen Lebenskräfte setzende Daseinsbejahung, die die lineare Zeitorientierung durchbricht und die Welt als eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“ begreift. Bereits in „Amor Dei“, das ganz von spinozistischem Geist geprägt ist, wird dieses Stichwort aufgegriffen. Dort heißt es: 

In seine Hände und in seine Huld
strömt aller Wandlung ewige Wiederkehr
.93

Der pantheistische Gott Spinozas, „Deus sive Natura“, wird hier mit einer von Nietzsche inspirierten zirkulären Zeitauffassung verbunden. Auch wenn Brunner zu Nietzsche ein aggressiv-ablehnendes Verhältnis hatte und kaum eine Gelegenheit zur Polemik gegen ihn ausließ, hat Rose Ausländer Nietzsches Welt- und Lebensgefühl in einige ihrer Gedichte einfließen lassen. Nietzsches „Ja“ zum Leben in all seinen Facetten kommt u.a. in dem Gedicht „Ja sagen“ zum Ausdruck: 

Ja sagen
Zum Leben…

Lust und Trauerspiel 

Deines Daseins.94

Die Ambivalenz des Lebens ästhetisch als Spiel zu deuten und die metaphysische Schwere in Leichtigkeit zu überführen, ist eines der Grundmerkmale Nietzsches. „Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe“ heißt es im Nachtwandler-Lied des Zarathustra. Die in Nietzsches Spätphilosophie in zahlreichen Gleichnissen und Gedichten propagierte Daseinszugewandtheit hat besonders in dem Gedicht „Wintersonne“, einem späten, kurz vor ihrem Tod veröffentlichten Gedicht nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich seine Spuren hinterlassen: 

In der Wintersonne
erwärmt sich dein Traum
die Welt sei eine
helle Seele 

Vergiß dein Bett
laß deine
Gedanken tanzen 

Jeder Augenblick
schenkt dir
Ewigkeit 

Du siehst die
Berge das
himmelfarbne Meer 

Wälder reden zu dir 

Alles dir anvertraut von der Wintersonne.95

Hier ist die Welt wieder eine „helle Seele“, die zu einem optimistischen beschwingten Lebensgefühl einlädt. „Tanzen“ ist beim späten Nietzsche die Metapher für die Leichtigkeit einer von der metaphysischen Scheintiefe befreiten Existenz, die im Augenblicksgenuss Ewigkeit erlebt. Dass dieses Gedicht von der zur Zeit der Abfassung bereits bettlägerigen Dichterin („Vergiß dein Bett“) verfasst wurde, lässt den Rückschluss zu, dass das letzte Wort Rose Ausländers eher im Sinne der optimistischen Weltsicht Spinozas und Nietzsches als im Sinne des Schopenhauerschen Pessimismus ausgefallen ist. 

IV
Spuren einer Philosophie der Kommunikation: Buber und Wittgenstein

Dass so unterschiedliche Philosophen wie Martin Buber und Ludwig Wittgenstein im Werk Rose Ausländers Spuren hinterlassen haben, mag verwundern, vor allem auch deshalb, weil Ausländer sowohl der religiös orientierten Metaphysik Bubers als auch den logisch-analytischen Überlegungen Wittgensteins im Grunde sehr fern stand. In einer 1934 in der Czernowitzer Zeitung Der Tag erschienenen Rezension einer Spinoza-Festschrift kritisiert Ausländer den Beitrag Bubers mit den Worten, er passe „wie die Faust aufs Auge“ und sprenge „gewaltsam den Rahmen dieser Festschrift“.96 Auch Brunners Verhältnis zu Buber war philosophisch eher von Distanz geprägt. Zwar standen beide zeitweise im Briefwechsel, doch war ihre geistige Ausrichtung sehr unterschiedlich. Bubers vom Chassidismus inspirierte Weltdeutung wie auch seine positive Haltung zum Zionismus standen in offensichtlichem Gegensatz sowohl zu Brunners als auch zu Ausländers säkularen und zionismuskritischen Auffassungen.
Dennoch konnte der Dichterin nicht verborgen bleiben, dass sowohl bei Buber als auch in dem von Wittgenstein ausgehenden „linguistic turn“ die auch für ihre eigenen Überlegungen so zentrale Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit in den Mittelpunkt gerückt war. Rose Ausländer hat sich von Beginn an mit der sprachschöpferischen und erkenntnisfördernden Rolle von Dichtung auseinandergesetzt. In ihrer späteren Dichtung wird das Thema Sprache und Kommunikation zu einem ausgesprochenen Schwerpunkt. Wenn Joseph A. Kruse über ihre späte Lyrik schreibt: „Die Gedichte der Jahre 1977 und 1978 sind wie zahlreiche andere Verse vor allem dialogische Texte, auf Kommunikation angelegt, vom Ich an ein Du gerichtet“,97 so muss ergänzt werden, dass die dialogische Beziehung hier selbst zu einem zentralen Thema wird, und zwar in einer Art, die die Verwandtschaft zum „dialogischen Prinzip“ Bubers als auch zur Spätphilosophie Wittgensteins nicht leugnen kann.
Für Buber gibt es für den Menschen im Verhältnis zur Welt zwei Grundbeziehungen: die Ich-Es-Beziehung, die der Mensch zu den Dingen hat, und die personale Ich-Du- Beziehung, die er zu anderen Menschen und zu dem „ewigen Du“, nämlich Gott hat. Diese Grundbeziehungen werden über die Sprache vermittelt. Sowohl das Wortpaar „Ich-Du“ als auch das Wortpaar „Ich-Es“ bezeichnet Buber als „Grundworte“. Grundworte sind nicht darauf beschränkt, etwas auszusagen, sondern sie „stiften einen Bestand“,98 sie stellen grundlegende Weltbeziehungen her. 

Kommet,
trinket Grundworte
99

heißt es bei Rose Ausländer in dem nicht zufällig „Grundworte“ betitelten Gedicht. Und auch bei ihr ist die Weltbeziehung eine dialogische: 

Endlos
der Dialog 

Du und die Blume
du und der Stern
du und dein Mitmensch
100

Die Gottesbeziehung spielt in Ausländers Dichtung keine primäre Rolle, wohl aber die wirklichkeitserzeugende Funktion der Sprache in der dialogischen Kommunikation mit einem Du. So in dem Gedicht „Wort an Wort“: 

Wir wohnen
Wort an Wort 

Sag mir
dein liebstes
Freund 

meines heißt
DU
101

Bubersche Motive fließen auch deshalb so häufig in das Werk Ausländers hinein, weil sie Dichtung als eine privilegierte Form der Welterschließung in Form eines Gesprächs verstanden hat: 

Wenn ich Gold sage
mein ich das Wort 

Wenn ich Worte
sage meine ich
Gold Weltanfang Mensch 

dich und mich
im Gespräch
.
102 

Aber auch ein anderes, grundsätzlicheres Motiv schwingt hier mit: Nicht nur erschließt die Sprache die Welt, sie konstituiert sie auch. Sprache bedeutet, wie es bei Ausländer heißt, „Weltanfang“. Von hier aus gibt es eine erkennbare Brücke zur Spätphilosophie Wittgensteins. Der späte Wittgenstein hat in den Philosophischen Untersuchungen, in Abkehr von seiner im Tractatus formulierten These, der Wirklichkeitsbezug von Sprache sei durch logisch definierte Wahrheitswerte festgelegt, den Begriff des „Sprachspiels“ geprägt, um damit die Erkenntnis zu untermauern, dass die Art der Sprache, die wir benutzen, unsere Art des Weltzugangs bestimmt. Sprachspiele gibt es, auch jenseits der Logik, potentiell unendlich viele. Mit dem Begriff „Sprachspiel“, so Wittgenstein, kennzeichnen wir die Sprache als Teil „einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“103 Mit dieser These konnte natürlich auch der ästhetische Umgang mit Sprache gerechtfertigt werden, der im Tractatus noch als sinnlos galt.
Es ist wohl eine bewusste Anspielung, wenn die Dichterin den Begriff „Sprachspiele“ zum Titel eines ihrer Gedichte macht: 

Mit Worten
seinen Besitz zählen 

die Besitztümer
mit anderen Worten vergleichen Sprachspiele 

Wir erbten sie
von der Sprache
.
104

Die These von der Wechselbeziehung zwischen Sprache und Welt, die von Wittgenstein ausgehend die Philosophie des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat, ist für Ausländer immer dann besonders interessant, wenn sie mit der künstlerischen Verwandlung von Welt in Sprache und von Sprache in Welt verbunden wird. In dem Gedicht „Sprich“ verschränkt sich das dialogische Prinzip Bubcrs mit Wittgensteins These von der Interdependenz zwischen Sprache und Welt: 

Sprich
lieber Freund
ich weiß
du kannst zaubern 

Mach aus der Welt
Ein Wort 

Dein Wort
ist eine Welt
.
105

Die an die Philosophie Bubers und Wittgenstein anknüpfenden dichterischen Reflexionen über die Beziehung zwischen Sprache und Welt, die sich bei Ausländer vor allem in den Gedichten der 70er Jahre finden, können als Vertiefung einer Auseinandersetzung mit der Erkenntnisfunktion von Kunst verstanden werden, wie sie sich bei Ausländer schon seit ihrer frühen Beschäftigung mit Platon und Brunner finden.
Schließlich finden sich an wenigen Stellen auch Spuren der zeitgenössischen Existenzphilosophie, die gerade zu Ausländers Lebzeiten den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit erreichte. Auch dies ist nicht ganz zufällig, da sich die Existenzphilosophie in enger Beziehung zur zeitgenössischen Dichtung und Literatur entwickelt hat. Da gerade im Expressionismus die Parallelen zur Existenzphilosophie deutlich sind, verwundert es nicht, wenn es solche Anklänge bei Ausländer in ihrer frühen, expressionistisch beeinflussten Phase gibt. Das „Manhattan’s Stil“ betitelte, New York-Erfahrungen der Autorin verarbeitende Gedicht enthält u.a. folgende Strophe: 

Schuhe, Mäntel, Hüte
dazwischen ein leeres Gesicht.
„Wie geht’s“, „Ich danke“, „ich bitte“ –
Dahinter steht das große Nichts
.106

Es begegnet uns hier ein Begriff des „Nichts“, der die im Leben der Moderne erfahrene Entfremdung, jene Kommunikations- und Sinnlosigkeit anspricht, die in vielen zeitgenössischen Gedichten und vielleicht am eindrucksvollsten in T.S. Eliots berühmtem Waste Land thematisiert wird. Die Existenzphilosophie hat ihn gleichzeitig aufgegriffen und philosophisch hoffähig gemacht. So bezeichnet er z.B. bei Heidegger und Sartre jenen von Gott verlassenen Raum, in dem der Mensch zu eigener Sinngebung in Freiheit aufgerufen ist. Kaum übersehen lässt sich in diesem Zusammenhang das spätere, „Existenz“ betitelte Gedicht, das dieses Bewusstsein der Eigenmächtigkeit des Subjekts aufgreift: 

Dies zum Da-Sein auserwählte Ich
seine wunderbare
Existenz
.107

Man muss kaum erwähnen, dass der Begriff „Dasein“ bei Heidegger für die Seinsform des Menschen steht, die sich dadurch von der anderer Wesen abhebt, dass sie einen privilegierten Zugang zum Sein hat. Als „Dasein“ steht ihm die Wahl zu einer authentischen Existenz, die Heidegger „Eigentlichkeit“ nennt, offen.
Es wäre sicherlich übertrieben, Rose Ausländer als philosophische oder gar philosophierende Dichterin zu bezeichnen. Unbestreitbar jedoch ist, dass philosophische Themen und Motive ihre Dichtung mitgeprägt und vielfältige Spuren hinterlassen haben. Stellt man den einheitlichen und unverwechselbaren Ton ihrer Dichtung in Rechnung, so ist es durchaus überraschend festzustellen, wie viele unterschiedliche philosophische Einflüsse die ehemalige Brunner-Schülerin aufgenommen und in ihrer Dichtung verarbeitet hat. 

Robert Zimmer aus „Mein Heiliger heißt Benedict“. Rose Ausländer und die Philosophie, Verlag Ralf Liebe, 2016

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Porträt 1 & 2 +
Instagram 1 & 2Archiv + ÖM + KLGInternet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Rose Ausländer: die horen

Zum 10. Todestag der Autorin:

Harald Vogel: „Schreiben war Leben. Überleben“
Harald Vogel, Michael Gans und Kerstin Klepser: Werkstatt Lyrik Rose Ausländer, Verlag Ralf Liebe, 2017

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Harald Vogel: „Immer zurück zum Pruth“
Harald Vogel, Michael Gans und Kerstin Klepser: Werkstatt Lyrik Rose Ausländer, Verlag Ralf Liebe, 2017

Erika Schuster: „… von einem Strahl irdischer Gnade“
Die Furche, 9.5.2001

Angelika Overath: „Ich wohne nicht, ich lebe“
Neue Zürcher Zeitung, 11.5.2001

Zum 30. Todestag der Autorin:

Lothar Schröder: „Der Tod macht mich unsterblich“
RP.online, 3.1.2018

Katja Nau: Mach wieder Wasser aus mir
taz, 3.1.2018

Gisela Blau: Immer unterwegs
tachles, 2.1.2018

Stefan Seidel: Worte zum Leben
Der Sonntag, 3.1.2018

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00